Buchrezension: Bulbul Sharma: Der Toten gedenken
Erzählerische Einblicke in den indischen Alltag - mit und ohne alte TraditionenDer erste Blick täuscht
Das Buch "Der Toten gedenken" der indischen Autorin Bulbul Sharma lockt mit einem dramatischen Titelbild. Der Untertitel "Indische Frauen bitten zu Tisch" stiftet ein wenig Verwirrung. Es drängt sich leicht der Eindruck auf, dass es sich hier um einen Krimi handelt. Ein großes Messer spaltet einen Blumenkohlkopf, aus dem eine rote Flüssigkeit strömt und auch am Messer klebt. Symbolisiert der Blumenkohl hier nicht das Gehirn, steht der rote Saft oder Ketchup für Blut, das Arrangement für einen gewaltvollen Mord? Haben die indischen Frauen, die zu Tisch bitten, ihre Köstlichkeiten etwa raffiniert mit tödlichen Giften gewürzt? Oder finden Kochbegeisterte in diesem Buch Rezepte für exotische Gaumenfreuden?
Der Toten gedenken - Indische Frauen bitten zu Tisch |
Nein. Der Inhalt des Buches ist ein anderer, als das Cover zunächst vermuten lässt. Das sollten Interessenten vor dem Kauf wissen. Bei Erwartung eines Krimis in exotischer Kulisse wird wohl Enttäuschung die Folge sein. Rezepte? Ebenso Fehlanzeige. Flexible Leser könnten dennoch Vergnügen am nicht alltäglichen Inhalt haben. Potenzielle Leser mit Neugier auf das Leben in einem fernen Land sollten nicht vorschnell dieses Buch aus dem EPIDU Verlag als vermutete Gewaltlektüre oder Kochbuch in Romanform beiseitelegen.
Worum es wirklich geht
Es handelt sich hier um eine Rahmenhandlung mit darin eingebetteten Geschichten. Zum Todestag eines Familienpatriarchen steht ein großer Leichenschmaus an, zu dem zahlreiche Familienmitglieder erwartet werden. Nach alter Sitte versammeln sich mehrere Frauen aus dem engsten Umfeld des Verstorbenen, um die zahlreichen Gerichte zuzubereiten, darunter natürlich auch die Lieblingsgerichte des Toten. Von Hand sind Unmengen von Gemüse zu putzen und zu zerkleinern, Gewürzmischungen und Chutneys herzustellen, Speisen über längere Zeit sachte zu garen oder Süßigkeiten zu kreieren. Es gibt genug für alle zu tun und das dauert seine Zeit. Statt mit simplem Klatsch und Tratsch vertreiben sich die Frauen die Zeit mit dem Erzählen von Geschichten. Dabei stehen nähere und fernere Verwandte im Mittelpunkt. Dass sich in verwandtschaftlichen Beziehungen wahre Abgründe auftun können, trifft in Indien genauso zu wie in Deutschland und der ganzen Welt. Abwechslungsreiche Spannung bei den teilweise monotonen Küchentätigkeiten ist also garantiert und nacheinander reihum erzählen die Frauen bewegende Begebenheiten.
Viele dieser Geschichten spielen in der Provinz, mal in einfacheren Verhältnissen, mal in Akademikerkreisen.
Da ist die eingeheiratete junge Frau in einer ländlichen Gegend, die nicht vor anderen Männern ihren Blick niederschlägt und schon mal ohne vorher zu fragen etwas selbst entscheidet. Sie muss für diese mangelnde Unterwürfigkeit entsetzlich büßen. Eine unselige Rolle spielt dabei ein greiser Bhagwan, der hohes Vertrauen genießt und als Berater und Problemlöser geschätzt ist. Handelt es sich um aufmüpfige junge Ehefrauen, erhielten diese vor Kurzem noch seine Spezialbehandlung, bei der der Bhagwan sie heimlich mit nicht näher erläuterten drogenartigen Substanzen betäubte und sich an ihnen verging. Mittlerweile ist ihm dies zu beschwerlich geworden. Aber eine spezielle – und keineswegs tödliche – Mixtur verfehlt nicht ihre Wirkung.
Ein Inder, der in die USA ausgewandert ist, empfindet bei seinem Besuch sein einstiges Zuhause inzwischen als ärmlich, was er allerdings nicht ausspricht. Statt dessen plant er, während der Zeit seines mehrwöchigen Heimaturlaubs den Verkauf seines Elternhauses in die Wege zu leiten, damit seine Mutter ein komfortableres Domizil beziehen kann. Diese hingegen fühlt sich in ihrem Haus wohl. Sie spürt, wie ihr verwestlichter Sohn ihr allmählich entgleitet und versucht, ihn mit ihren Kochkünsten wieder enger an sich zu binden und Erinnerungen an seine Kindheit neu zu wecken.
In einem anderen Fall zieht die Schwiegermutter schon bald nach der Hochzeit in das Schlafzimmer des jungen Paares mit ein.
Eine andere Frau wird von ihrem Ehemann betrogen. Sie stiehlt ihm häufiger kleinere Gegenstände und etwas Geld, und während sie heimlich in seinen Kleidungstaschen auf Entdeckungsreise geht, begegnen ihr immer wieder die Düfte der anderen Frauen.
Weitere fesselnde Begebenheiten aus dem indischen Alltag stecken in diesem Buch, in einer Fülle, die der schmale Band von nur 132 Seiten anfangs nicht ahnen lässt.
Wer ist Bulbul Sharma?
Bulbul Sharma lebt als Autorin, Naturliebhaberin, Malerin und Kunstlehrerin für behinderte Kinder in Delhi.
Was ist am EPIDU Verlag so anders?
EPIDU kann sich als erster Web 2.0 Verlag in Deutschland bezeichnen. Hier bestimmen die Leser mit, welche literarischen Schätze es dort zur Veröffentlichung schaffen. Der Verlag sieht im Internet die Möglichkeit, auf talentierte Autoren und ihre Bücher schneller aufmerksam zu machen und sie so zu fördern.
3 Sterne für ein lesenswertes Buch
Mit "Der Toten gedenken" lässt es sich wunderbar in eine exotische Lebenswelt abtauchen. Neben dem modernen boomenden Indien mit seinen Mega-Citys und einer zunehmend international orientierten Bevölkerungsschicht existiert auf diesem Subkontinent weiterhin parallel das Leben nach alten Traditionen. Letzteres ist in diesem Buch vorrangig anzutreffen, anschaulich beschrieben und ab und zu mit leichten transzendenten Szenen garniert, wenn zum Beispiel Verstorbene noch einmal auf ihre Familie heruntersehen. Daneben fehlt es nicht an Makabrem sowie Humor. Da die Autorin selbst Inderin ist, kommt der Inhalt sehr authentisch herüber.
Leider fehlt ein Glossar für die zahlreichen verwendeten indischen Begriffe. Selbst Indien-Fans werden nicht automatisch wissen, was unter "Chaulai" oder "Kheer" zu verstehen ist. Es stört auch, dass Personennamen gelegentlich unterschiedlich geschrieben sind. Aus einer Chongi wird plötzlich eine Choni, eine Mala zu einer Marla und sogar Maja, obwohl es sich definitiv jeweils um dieselbe Person handelt. Das ist auch deswegen unglücklich, weil sehr viele Charaktere auftreten und die vielen indischen Eigennamen ohnehin etwas mehr Aufmerksamkeit erfordern.
Ebenso wäre ein Inhaltsverzeichnis wünschenswert sowie von vornherein aussagekräftigere Kapitelüberschriften als lediglich "Eins", "Zwei" und so weiter bis "Neun". Denn dieses Buch verführt dazu, es später immer mal wieder in die Hand zu nehmen, um eines der Schicksale nochmals zu lesen. Das Wiederfinden einer speziellen Geschichte ist so oft nur über suchendes Durchblättern des gesamten Buches möglich. Schade. Wahrscheinlich entspricht diese Gestaltung der Originalausgabe. Eine leserfreundlichere Anpassung wäre dennoch eine Überlegung wert.
Grundsätzlich liest sich dieses Buch sehr flüssig und spannend. Wer sich eventuell schon einmal durch eine jener gelegentlich schwer zugänglichen Lektüren eines exotischen Autors gequält hat, der hierzulande eher ein Nischendasein führt, muss Ähnliches bei diesem Buch ganz gewiss nicht fürchten. Im Gegenteil, hier kann jeder unbesorgt zugreifen, der Interesse an fremden Kulturen hat oder ebensolche Menschen beschenken möchte.
„Blogg dein Buch“ – das Rezensionsportal
"Der Toten gedenken" von Bulbul Sharma bekam ich vom Rezensionsportal Blogg dein Buch zum Probelesen. Leseratten, die ebenfalls an kostenlosen Rezensionsexemplaren interessiert sind, sollten unbedingt mal zu Blogg dein Buch surfen und sich über die Voraussetzungen dazu informieren. Wer selbst keinen Blog besitzt, aber gern schreibt, kann sich bei Pagewizz registrieren und nach den ersten regelmäßigen Veröffentlichungen über dies und jenes und nach drei erhaltenen Editor's Choice bei Blogg dein Buch bewerben.
Bildquelle:
Karin Scherbart
(Asterix bei den Pikten – Rezension)