Was ist das für ein Bulle?

Aufgewachsen als Heimkind sowie im Rotlichtbezirk von Hamburg, durchlief der 1966 geborene Autor Cid Jonas Gutenrath verschiedene berufliche Stationen, bevor er seine Berufung bei der Berliner Polizei fand und sich dort schließlich engagiert den unter 110 eingehenden Anrufen widmet. Seine vorherigen Tätigkeiten als Türsteher, Marine-Taucher, Bundesgrenzschutzbediensteter, Streifenpolizist und Zivilfahnder trugen sicher mit zu seiner Menschenkenntnis und Horizonterweiterung bei.

Für 110 gibt es viele Anlässe

Wer glaubt, dass die Notrufnummer 110 ausschließlich Ereignissen wie Verkehrsunfällen, Überfällen oder Ähnlichem vorbehalten ist, wird erstaunt sein, wie unbefangen manche Zeitgenossen mit dem Angebot umgehen. Von traurigen Kindern, enttäuschten Erwachsenen, Einsamen, Spinnern, Scherzkeksen, Provokateuren, Verfolgten, Verprügelten bis Mördern ist alles dabei. Gelegentlich bekommt 110 Anrufe, die besser bei der Telefonseelsorge aufgehoben wären. Aber selbst hier hört der "Bulle" beziehungsweise die "Telefonistin", wie er sich bezeichnet, zu und weiß fast immer Rat. Allerdings widmet er sich solchen Gesprächen nur dann ausführlicher, wenn ausnahmsweise mal nicht die Leitungen glühen. Sonst bringt er derartige Gespräche möglichst rasch zum Ende, wobei es ihm geschickt gelingt, die Anrufer dennoch nicht zu verprellen. Dann ist schon der Nächste dran. Es wechselt zwischen banal und hochdramatisch. Keineswegs gibt es immer ein Happy End. Denn alle Anrufe gab es wirklich, es handelt sich um echte Begebenheiten. 

Gutenrath hört immer zu. Wo gelegentlich seine Kollegen entnervt gerade wieder einen jener "Verar…anrufe" vermuten, gibt er der Sache ihre Chance. So auch dem zweifellos männlichen Anrufer, der sich kaum verständlich in einer Art Kleinkindsprache artikuliert. Irgendwann wird klar, dass es sich um einen geistig behinderten jungen Mann handelt, der stolz berichtet, was er seiner Mutter zum Geburtstag gebastelt hat. Warum er dies der Polizei verkünden muss, bleibt sein Geheimnis. Doch vertreibt dieser fröhliche, unbeschwerte Anrufer im Nu die schlechte Laune des Polizisten. 

Bedrückender verläuft da das Gespräch mit einer Psychologiestudentin, die sich aus Liebeskummer das Leben nehmen will. Sie befindet sich in einem Hochhaus und plant, sich in die Tiefe zu stürzen. Gesprächstechniken, die Notrufmitarbeiter für solche Fälle parat haben, verpuffen bei ihr. Natürlich ist sie sich im Klaren darüber, wie Polizisten verbal auf solche Anrufer eingehen. Gutenrath ist dies durchaus bewusst und er versucht, entsprechend gegenzusteuern. Immerhin hat sie trotzdem noch angerufen, es besteht Hoffnung, und sie wird bei einigen Argumenten nachdenklich. Gleichzeitig ist weiter Entschlossenheit spürbar. Verzweifelt versucht Gutenrath nebenher über seine Kollegen ihren Aufenthaltsort zu ermitteln. Wird es ihm gelingen, werden Kollegen rechtzeitig eingreifen können oder springt sie? 

Erheiternder ist da wieder der Anruf eines Mitglieds einer deutschlandweit bekannten und nicht in gutem Ruf stehenden Motorrad-Gang, deren Namen das Buch nicht anspricht, bei der aber jeder wissen dürfte, um welche Vereinigung es sich dabei handelt. Gutenrath schafft es in seiner Art tatsächlich, den Anrufer, der wahrlich kein Engel ist, so zu verunsichern, dass dieser nicht weiß, ob er gerade vom Polizisten ein wenig auf den Arm genommen wird (wird er) oder nicht. Erstaunlich, wie zahm der da auf einmal wird. Dabei hatte er eigentlich im Sinn, den verhassten "Cop" stellvertretend für den ganzen Berufsstand zu beleidigen und zu provozieren. Seine "Karre" hat die Polizei nämlich "verschleppt". Aber nicht mit Gutenrath! Die beiden scheiden zwar nicht als Freunde, aber die "Telefonistin" erhält doch glatt eine Entschuldigung! 

Am Beginn eines anderen Kapitels spricht der Autor eine Warnung aus: Empfindsameren Personen legt er das Überspringen dieses Kapitels nahe. Darin geht es brutal zur Sache. "Ich hab die Schlampe kaltgemacht" lautet der Gesprächsauftakt des Anrufers. Wie sich herausstellt, ist er inhaftiert und erhielt von seiner Frau die Nachricht, sie habe jemand Neuen. Nun hat er Freigang und sein Weg führte ihn sofort zu ihr, mit der aus dem Keller geholten Axt, die er ihr bei ihrem Fluchtversuch unverzüglich in den Schädel schlug. Anschließend wählt er die 110 und gibt auf Nachfrage freimütig seinen Namen und aktuellen Aufenthaltsort an. Damit ist es nicht zu Ende. Gutenrath hört das Röcheln des schwer verletzten Opfers und muss am Telefon live miterleben, wie der Täter nun endgültig zum Mörder wird. 

Ein Homosexueller wird im Tiergarten von Skinheads verfolgt und ruft per Handy an: "Die wollen mich abstechen!" Bereits kurz nach dem Gesprächsbeginn fleht der Anrufer seine Verfolger an, ihm nichts anzutun, dann kommt "... aua... aaaahhhh...", danach Stille. Was bedeutet das? Zugestochen? Schock? Ein makabrer Scherz wohl kaum. Gutenrath ist zu erfahren, um nicht zu erkennen, dass hier wirklich jemand in Panik war. Schließlich meldet sich der Anrufer wieder. Er blutet stark aus Bauch und Brust. Auf die Frage, ob er gegen den Blutverlust irgendwo was ab- oder zudrücken könne, antwortet er, so viele Hände habe er gar nicht. Auch dass er wegen seiner panischen Flucht inzwischen nicht mehr genau angeben kann, wo im riesigen Tiergarten-Areal er sich befindet und es dazu stockdunkle Nacht ist, lässt nichts Gutes ahnen. Detailliert schildert der Autor diese besondere Herausforderung, wie sich die beiden in dieser Lage schließlich duzen, wie es dem Niedergestochenen wegen des Blutverlustes immer kälter wird, er überzeugt ist, hier draußen zu sterben, bevor Hilfe eintrifft, und den Polizisten bittet, telefonisch bei ihm zu bleiben, was für diesen ohnehin selbstverständlich ist. Parallel läuft die Handyortung, plötzlich taucht ein großer schwarzer Hund vor dem Verletzten auf und bellt. Ein neuer Schrecken – oder die ersehnte Rettung? 

Der kleine Tommy ruft an. Mama ist an Krebs gestorben und Papa sagt, dass sie jetzt im Himmel ist. Aber stimmt das wirklich? Gutenrath kann ihn beruhigen und hat sogar eine Idee, wie Tommy ihr einen Gruß schicken kann. 

Ab und zu darf sich der "Bulle" mit standesdünkelnden Wichtigtuern herumschlagen. Sie haben gelegentlich ihr Verhalten so perfektioniert, dass selbst ein erfahrener 110-er wie er um nachfolgenden Ärger und Beschwerderituale bis hin zu persönlichen Gegenüberstellungen nicht herumkommt. Der Autor schildert sarkastisch bis genüsslich seine Gedanken zu solchen Betragensweisen.

Darstellung der Anrufe im Buch

Die Gespräche füllen das Buch in Form vieler kleiner Kurzgeschichten – mal nur zwei bis vier Seiten lang, ein andermal über vierzehn oder achtzehn Seiten. Dabei schreibt Gutenrath die Telefonate nicht einfach als bloße Dialoge nieder, sondern lässt die Leser an seiner dabei oft geführten inneren Zwiesprache mit sich selbst teilhaben. 

Der Autor bekennt, was ihm bei manchen Eröffnungen zuerst durch den Kopf geht, was er aber besser für sich behält und was er stattdessen sagt. Dabei erläutert er auch gewisse sprachliche und taktische Feinheiten, die für einen Gesprächsverlauf entscheidend sein können. Er hat durch seine zahlreichen Kontakte mit Anrufern unterschiedlichster Milieus und Befindlichkeiten sowie offensichtlich vorhandenes Talent längst reichlich psychologisches Know-how erworben. So kann er sich blitzschnell auf unterschiedlichste Charaktere und Mentalitäten einstellen und lässt sich kaum noch provozieren. Gutenraths Schlagfertigkeit und Humor können Verzweifelte wieder etwas aufbauen, nehmen Wichtigtuern den Wind aus den Segeln und lassen einen als Leser zwischendurch laut auflachen. Auch was ihm aus seinem privaten und früheren beruflichen Leben zu den Anrufern in den Sinn kommt und Gespräche mit bestimmen kann, lässt er seine Leser wissen. Er vermittelt glaubhaft, wie er souverän selbst mit absurden Gesprächsinhalten beziehungsweise seltsamen Zeitgenossen umgeht. Gelegentlich wirkt er dabei ein wenig selbstverliebt oder sogar eitel. Unausgesprochen schwingt da schon mal ein "Hab‘ ich das nicht wieder toll hinbekommen?" mit. Trotzdem wird ihm das kaum ein Leser verübeln, denn woanders offenbart Gutenrath ehrlich persönliche Selbstzweifel, die ihn stark beschäftigen. Nimmt der Anlass für einen Notruf ein tragisches Ende, so weiß der Polizist einerseits, dass dies zu den Begleitumständen seiner Arbeit gehört. Andererseits geschieht es bei seinem persönlichen kritischen Rekapitulieren von Gesprächen schon mal, dass er sich fragt, ob er in diesem oder jenem Fall nicht doch hätte das Schlimmste verhindern können.

Was gibt "110 - Ein Bulle hört zu" seinen Lesern?

Hier erfahren interessierte Leser ohne billigen Voyeurismus und dennoch hautnah, wie der Job in einer polizeilichen Notrufzentrale aussieht. Bisher vage Vorstellungen bekommen Konturen: wer wegen was da so alles tagtäglich anruft, Hektik, Dramatik, Frust, Wut, Erleichterung, Freude, die Kollegen in der Notrufzentrale und die technische Ausstattung, die es ermöglicht, mit den Anrufern zu sprechen und unmerklich gleichzeitig weitere Tätigkeiten zu erledigen wie Standortbestimmung oder Vorbereitung eines erforderlichen Rettungseinsatzes. Hier stehlen einige Anrufer mit sinnfreien Späßchen wertvolle Zeit, während es bei anderen um Leben oder Tod geht. 

Daneben gibt der Autor einige Details aus seinem Leben preis: von einem Start mit weniger guter Sozialprognose, den Einflüssen, die ihn trotz allem auf der graden Bahn hielten und prägten – zum Beispiel eine Mutter, die ihm trotz besonderer Umstände Liebe geben konnte sowie außerdem der Sport –, früheren beruflichen Tätigkeiten und seinem jetzigen Leben als glücklicher Familienvater. 

So erhält eine Nummer wie 110 ein Gesicht. 

Außerdem hat das Buch einen Lerneffekt für den eigenen Alltag. Die zahlreichen Gespräche und Erfahrungen enthalten Ideen, wie sich mit bestimmten Gesprächstechniken angespannte Situationen entschärfen lassen oder wie sich Menschen noch in scheinbar ausweglosen Lagen Zuversicht geben lässt. 

Dazu ist dieses Buch ein toller Geschenktipp. Trotz seines Umfanges von fast 400 Seiten wird es sogar Gelegenheitsleser begeistern, die sonst um dicke Bücher einen Bogen machen. Die einzelnen in sich abgeschlossenen Kapitel ermöglichen beliebige Unterbrechungen. Umgekehrt ist gut vorstellbar, dass die amüsierenden bis nervenzerreißenden Geschichten auch für Wenigleser zur fesselnden Lektüre werden. Der Personenkreis für diesen Lesestoff ist schwer einzugrenzen, handelt es sich bei diesem Buch doch um ein Thema, das jeden eines Tages direkt betreffen kann. Der Schreibstil ist lebendig und ansprechend formuliert. Vom Hauptschüler bis zum Akademiker wird dieses Werk allen Bildungsvoraussetzungen gerecht. Der Autor schreibt weder verkrampft gehoben noch nervig überdramatisch, gewollt witzig oder gar sich beim Leser anbiedernd. Er transportiert äußerst gelungen die Atmosphäre der Notrufzentrale zwischen die Buchseiten und die Bits und Bytes des E-Books. So kann ein Schenkender mit diesem Buch eigentlich nichts falsch machen.

Buchrezensionen für „Blogg dein Buch"

"110 – Ein Bulle hört zu" aus dem Ullstein Verlag erhielt ich von Blogg dein Buch, einer Organisation, die im Internet Bücher zur Rezension auf der Autorenplattform Pagewizz oder in Blogs anbietet. Die Auswahlexemplare sind begrenzt und es gehört ein wenig Glück dazu. Nach Erhalt des Buches ist dieses innerhalb 30 Tagen zu lesen und die Rezension zu veröffentlichen. 

Neben einer Beurteilung in Textform erfolgt stets eine Sternvergabe auf einer Skala von eins bis fünf. In diesem Fall kommen nur 5 Sterne infrage!

Textdompteuse, am 01.05.2012
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Bildquelle:
Karin Scherbart (Asterix bei den Pikten – Rezension)

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