Das Bedürfnis des Menschen nach Märchen
Die große Anteilnahme am Schicksal von Prinzen und Prinzessinnen zeigt das im kollektiven Unbewussten der Menschheit wurzelnde Bedürfnis des Menschen nach Märchen.Eine Fürstenhochzeit als Märchen
Die globale Bedeutung von Liebesgeschichten in Fürstenhäusern und deren "Happy End" in Form von prunkvollen Hochzeiten, die als öffentliches Event gefeiert werden, erschließt sich dem Beobachter aus der Beschreibung einer solchen Hochzeit als modernes Märchen. Denn dadurch wird eine Verbindung mit einem Kulturgut hergestellt, das die Menschheit seit ihren Anfängen begleitet hat und damit als ein integraler Bestandteil aller Epochen und Kulturen der Menschheitsgeschichte betrachtet werden kann.
Zur Bedeutung von Märchen
Die genuine Funktion von Märchen ist immer gewesen, den Menschen zu zeigen, wie die Welt eigentlich sein sollte, sie zu ermutigen, gemäß diesem Idealbild zu handeln und sich auch durch Rückschläge nicht beirren zu lassen. Von fundamentaler Bedeutung ist dabei die moralische Botschaft, dass Licht und Liebe, Treue und Ehrlichkeit am Ende immer über das "Dunkle" oder "Böse" siegen, auch wenn das "Gute" zunächst dem "Bösen" zu unterliegen scheint. Bei Märchen hat man also bereits am Anfang die Gewissheit, dass am Ende alles gut werden wird, mögen die Helden auch noch so große Strapazen erdulden und noch so große Ängste ausstehen müssen.Das heißt: Der Abschluss des Märchens ist immer befriedigend, ist von ausgleichender Gerechtigkeit. Insofern vermitteln Märchen Gefühle von Glück und Zufriedenheit und bieten dadurch praktische Lebenshilfe. Durch ihre optimistische Grundströmung erscheinen sie geradezu als "Balsam für die Seele". Das Credo des Kinderpsychologen Bruno Bettelheim "Kinder brauchen Märchen" gilt deshalb gleichermaßen für Erwachsene.
Froschkönig (Bild: Katharina Wieland Müller/pixelio.de)
Rapunzel (Bild: Dieter Schütz/pixelio.de)
Zentrale Märchenmotive werden wahr
Durch die Fürstenhochzeiten scheinen zentrale Märchenmotive, nämlich die wundersame Welt der Könige und Prinzessinnen, der Bösewichte, der mutigen Mädchen und tapferen Helden, eine Welt, in der das Gute über das Böse siegt und in der das Unmögliche ermöglicht wird, reale Züge anzunehmen. Der Kontrast zwischen Wunsch und Wirklichkeit, also der Kontrast zwischen der Vorstellung, wie die Welt sein sollte, und ihrem tatsächlichen Erscheinungsbild scheint auf einmal überwunden. Insofern wird die Faszination, die von Märchen ausgeht, durch das anschauliche Beispiel, das Fürstenhochzeiten bieten, potenziert.
Die psychologische Basis der Empfänglichkeit für Märchen
Psychologische Basis der generellen Empfänglichkeit des Menschen für Märchen ist, wie der Psychoanalytiker C.G. Jung gezeigt hat, die Existenz eines kollektiven Unbewussten als ererbter Grundlage der Persönlichkeitsstruktur des Menschen. Das heißt: Ein kollektives, die Menschen aller Epochen und Kulturen verbindendes Unbewusstes ist der Hort von Ängsten und Wünschen, die das Erbe der Menschheitsgeschichte darstellen und deren Projektion in Träumen und Mythen, aber auch in Märchen zum Ausdruck kommt.
Sterntaler (Bild: Rike/pixelio.de)
Bremer Stadtmusikanten (Bild: Birgit Winter/pixelio.de)
Der Einfluss des Unbewussten über Archetypen
Jung spricht im Zusammenhang mit der Empfänglichkeit des Menschen für Märchen auch von Archetypen, die die bildhafte Manifestation der Ängste und Wünsche bestimmen, die aus dem generationenübergreifenden Erbe der Menschheitsgeschichte stammen. Archetypen können deshalb als a priori im kollektiven Unbewussten vorhandene Muster betrachtet werden, die generationenübergreifend alle Menschen unbewusst prägen. Das heißt: Archetypen ordnen das seelische Erleben, indem sie Bilder und Motive des Unbewussten nach bestimmten Grundmustern gestalten, und konstituieren insofern ein unbewusstes Weltbild. Gleichzeitig bedeutet dies, dass nicht das jeweilige äußere Erscheinungsbild des Archetyps im kollektiven Unbewussten angesiedelt ist und kollektiv vererbt wird, sondern die innere Fähigkeit, entsprechende Bilder hervorzubringen. Die archetypischen Muster, der innere Kern des Archetyps, bleiben mit anderem Worten unverändert, während sich die von ihnen geprägten Bilder ändern können.
Die Prägung der Märchenmotive durch Archetypen
Auch die zentralen Märchenmotive sind solche von Archetypen geprägten, sich im Laufe der Menschheitsgeschichte verändernden Bilder. So ist, wie insbesondere die Hochzeit von William und Kate gezeigt hat, das Märchenmotiv "Mädchen aus dem Volk, das das Herz eines Prinzen erobert und damit gegen alle Widerstände etwas scheinbar Unmögliches schafft", nicht mehr ein Synonym für ein vom Leben gebeuteltes Aschenputtel, sondern ist vereinbar mit dem Erscheinungsbild einer gut ausgebildeten, berufstätigen jungen Frau. Ferner kann – man denke hier an die Hochzeit der schwedischen Kronprinzessin Viktoria mit ihrem ehemaligen Fitnesstrainer – auch ein junger Mann ein "modernes Aschenputtel" sein.
Frau Holle (Bild: Ilse Dunkel(-ille-)/pixelio.de)
Hänsel und Gretel (Bild: Thomas Max Müller/pixelio.de)
Das Märchen als "Sprache der Seele"
Als archetypische Geschichte ist ein Märchen ein Vorgang in der Seele des Menschen, es ist also immer auch die Geschichte der Seele. Es spricht sozusagen die Sprache der Seele. Das heißt: Die Seele weiß immer, was mit den durch die Archetypen geprägten Märchenmotiven und den mit ihnen verknüpften Menschenbildern gemeint ist – als Beispiele sollen hier noch einmal genannt werden: die gute Mutter, der gute Vater, die liebe Großmutter, die böse Stiefmutter, die böse alte Hexe, die schöne Prinzessin, der edle, tapfere Prinz. Und daher rührt die spontane Vertrautheit der Menschen aller Zeiten und Kulturen mit den von den Märchenfiguren verkörperten "guten" oder "bösen" Persönlichkeitsbildern, wobei diese unbewusst als Anteile der eigenen und der Persönlichkeitsstruktur von Bezugspersonen einschließlich der damit verbundenen Beziehungskonflikte wahrgenommen werden. Zentrale Topoi dieser Sprache der Seele sind deshalb menschliche Eigenschaften, menschliche Abgründe und menschliches Miteinander, die Belohnung guter Taten und die Bestrafung böser Taten, die aus guten und bösen Charaktereigenschaften resultieren.
Fazit
Als archetypische Geschichte ist ein Märchen immer ein Spiegelbild der menschlichen Seele und kann demzufolge die Herzen aller Menschen berühren, ungeachtet der Unterschiede zwischen Kulturen und Religionen. Märchen sind mit anderen Worten ein gemeinsames Kulturerbe aller Völker der Erde. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Fürstenhochzeiten in ihrer Funktion als moderne Märchen zu globalen, weltweit beachteten Medienereignissen werden.
Bildnachweis
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Bildquelle:
jimmywayne / Flickr
(Die Legende der Bell-Hexe im Wilden Westen)