Die Spaltung in ein "neues" und ein "altes" Amerika

Von vielen Beobachtern und Kommentatoren wird angesichts der Ereignisse in Washington rund um die Präsidentschaftswahl 2020 die Meinung geäußert, dass die USA ein gespaltenes bzw. zerrissenes Land seien, wobei eine Kluft ausgemacht wird zwischen einem "neuen Amerika", das repräsentiert werde durch die demokratische Partei und Bürgerrechtsgruppen sowie progressive Künstler und Intellektuelle, und einem "alten Amerika", das repräsentiert werde durch die republikanische Partei und rechte Ideologen sowie wissenschaftsfeindliche, religiöse Fanatiker.

Man könnte auch sagen: Für das "neue Amerika" ist - wie gerade die Wahl von Barack Obama zum ersten farbigen Präsidenten der USA 2008 gezeigt hat - gleichgültig geworden, welche Hautfarbe jemand hat, während im "alten Amerika" nach wie vor der Rassismus gegen Schwarze und Latinos schwelt, wobei Neonazigruppen, die unter dem Oberbegriff "White Supremacy" zusammengefasst werden können, sozusagen die Speerspitze dieses Rassismus darstellen. Diese Gruppierung befürchtet, dass in den USA die Weißen zur Minderheit werden könnten, und will deshalb mit allen Mitteln deren Vorherrschaft sichern.

Rassismus und Antietatismus

Trump konnte sich jedoch nicht nur den Rassismus des "alten" Amerika zu Nutze machen, sondern auch dessen antietatistische, also gegen den Staat gerichtete, Grundhaltung. So ist der Staat für die Trump-Anhänger das Feindbild Nr.1, und deshalb sind sie auch davon überzeugt, dass ihr Idol vom amerikanischen Staat – vom "Deep State" – zu Fall gebracht worden ist.

Dieser Antietatismus wurzelt in der Erinnerung an den Kampf der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung gegen den britischen Feudalstaat. Für die Verbindung von Antietatismus mit Rassismus spielt wiederum der amerikanische Bürgerkrieg im 19. Jahrhundert, also der Krieg zwischen den Nordstaaten und den Südstaaten der USA, eine wichtige Rolle. Es kam nämlich zu diesem Bruderzwist, weil sich in zwei großen Fragen die Nordstaaten und die Südstaaten einander unversöhnlich gegenüberstanden. Zum einen wurde gefragt, wie sich das Gleichheitsgebot der Unabhängigkeitserklärung mit der Unfreiheit von Millionen schwarzer Amerikaner vereinbaren ließe. Zum anderen wurde die Frage aufgeworfen, wie wichtig die Einheit der Nation sei.

Der Norden wollte nun die Sklaverei abschaffen, der Süden nicht. Der Norden hielt den nationalen Zusammenhalt für permanent und unauflöslich. Im Süden fand demgegenüber die Vorstellung großen Anklang, dass die USA ein lockerer, möglicherweise aufkündbarer Zusammenschluss von souveränen Staaten seien. Die Südstaaten bezeichneten sich deshalb auch als die Konföderierten. Der Sieg der Nordstaaten im Bürgerkrieg führte dann sowohl zur Abschaffung der Sklaverei als auch zur verfassungsmäßigen Einheit der Nation. Hätten dagegen die Südstaaten gesiegt, wäre es wohl tatsächlich zu einer Spaltung der Vereinigten Staaten gekommen. Und dass dieser Konflikt zwischen dem eher urban geprägten Norden und dem eher ländlich geprägten Süden der USA weiterhin wirksam ist, machten die Trump-Anhänger für jeden sichtbar, als sie bei ihrem Sturm auf das Kapitol die Flagge der Konföderierten mit sich führten, obwohl diese in den USA als Symbol des Rassismus verpönt ist.

Zur Bedeutung der "Reaganomics"

Die Ablehnung eines starken Zentralstaats, der charakteristisch ist für den Süden der USA, wurde schließlich in den USA zur vorherrschenden Ideologie durch die von Präsident Ronald Reagan nach seinem Wahlsieg 1980 durchgeführte Wirtschafts- und Sozialpolitik, die als "Reaganomics" in die Geschichte eingegangen ist. Das heißt: Unter dem Einfluss der Prinzipien des Neoliberalismus, wie sie u.a. von den Nobelpreisträgern Milton Friedman und Friedrich Hayek entwickelt worden waren, kam es unter der Regierung Reagan zu drastischen Steuersenkungen und einem weitgehenden Verzicht des Staates auf Eingriffe in die Wirtschaft einschließlich einer Deregulierung der Finanzmärkte. Leitbild war dabei die Vorstellung vom Staat als einer freiheits- und wirtschaftsfeindlichen Institution.

Resultat war aber nicht – wie erhofft und versprochen – eine Ankurbelung der Wirtschaft und ein Abbau der Arbeitslosigkeit, sondern die Politik des Marktradikalismus führte zu einer Einkommensumverteilung zugunsten der Superreichen und zu einer ausufernden Staatsverschuldung sowie zu einem Abbau von Sozialleistungen. Verlierer dieser Politik waren weniger Qualifizierte und Besitzlose, aber auch Mittelständler, deren Lebensstandard nicht nur nicht erhöht wurde, sondern noch gesunken ist, weil sie ständig von Arbeitslosigkeit, Verschuldung und damit Existenznot bedroht sind, was auch mit dem Zerfall des verarbeitenden Gewerbes, einer Deindustrialisierung, in weiten Teilen des Landes zusammenhängt.

Die ökonomische und soziale Spaltung der USA und ihre Folgen

Die durch die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Reagan-Regierung geschaffene ökonomische und soziale Kluft zwischen Reichen, die immer reicher werden, und einer Mittelschicht, die immer mehr an Boden verliert, ist nie wieder geschlossen worden, ganz im Gegenteil. Denn in den USA hat auch in der jüngsten Vergangenheit nur eine kleine Elite von Wachstums- und Einkommensschüben profitiert, so dass sich die US-amerikanische Politik immer mehr zu einer Interessenvertretung der Superreichen zulasten des normalen Bürgers entwickelt hat. Man könnte die USA deshalb als eine Plutokratie bezeichnen, also als einen Staat, der von den Vermögenden regiert wird, wobei die Politiker deren Handlanger sind.

Durch die katastrophale Wirtschafts-und Sozialpolitik der Reagan-Regierung und die damit einhergehende Beförderung der Plutokratie als dominierende politische Herrschaftsform für die US-amerikanische Gesellschaft setzte folglich Ende des vorigen Jahrhunderts ein Niedergang der Vereinigten Staaten ein, der bis heute fortdauert. Und auch die psychologischen Folgen dieser Entwicklung sind verheerend, denn durch die krasse ökonomische Ungleichheit ist das uramerikanische Versprechen von der Chancengleichheit, vom sozialen Aufstieg, von der halbwegs gerechten Leistungsgesellschaft, wie es im "amerikanischen Traum", also im "Tellerwäscher-wird-Millionär-Mythos" zum Ausdruck kommt, zur Farce verkommen.

Die Kriegserklärung der "Tea-Party-Bewegung"

Aber die Abgehängten und ökonomisch Deklassierten haben diesen Zwang, vom "amerikanischen Traum" Abschied nehmen zu müssen, nicht klaglos hingenommen. Mit der sogenannten Tea-Party-Bewegung, die mit ihrer Namensgebung an ein Ereignis in Boston im Vorfeld des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges erinnert und die während der ersten Präsidentschaft Barack Obamas auf dem rechten Flügell der republikanischen Partei entstanden ist, begann der Aufstand gegen das "Establishment", gegen die staatlichen Eliten, die die Bürger für all die Fehlentwicklungen, die sie erlebt hatten, verantwortlich machten. Das heißt: Aufbauend auf der Abneigung vieler Amerikaner gegen den Staat, konnte die Tea-Party-Bewegung viele Amerikaner davon überzeugen, dass die Machteliten die ökonomische Misere verursacht und auch als Krisenmanager versagt hätten.

Bei den Vordenkern der Tea-Party-Bewegung ist allerdings letztlich das negative, antietatistische Staatsverständnis zu einer regelrechten Kriegserklärung gegenüber dem Staat und den ihn tragenden Eliten mutiert. Und bei vielen Tea-Party-Anhängern war dann im Präsidentschaftswahlkampf 2016 Donald Trump der Mann, dem sie zutrauten, den Staat und die herrschenden Eliten zugunsten der Bürger zu entmachten.

Der Putschversuch

Bleibt die Frage – die schon oft gestellt worden ist – warum ausgerechnet Donald Trump eine solche Rolle spielen konnte. Ausschlaggebend dafür war wohl, dass er "den Feind" beim Namen genannt hat. Denn er wetterte ja gegen das "Establishment". Ferner bestärkte er seine Anhänger in ihrer Überzeugung, dass nur weiße Amerikaner "richtige Amerikaner" seien, dass also das Land den Weißen gehört. Damit streichelte Trump die verwundeten Seelen seiner Anhänger. Denn nun konnte sich der größte "Loser" in dem Bewusstsein, die "richtige Hautfarbe" zu besitzen, als "Winner" fühlen. Dermaßen ideologisch verblendet, haben seine Anhänger darüber hinweggesehen, dass sich unter Trump ihre wirtschaftliche Situation in keinster Weise verbessert hat, ganz im Gegenteil. Denn auch Trump hat Politik zugunsten der Milliardäre gemacht und die Staatsverschuldung weiter drastisch erhöht.

Und diese ideologische Verblendung ging so weit, dass die radikalsten Trump-Anhänger – allen voran Mitglieder der von rechtsextremen Verschwörungsideologien geleiteten QAnon-Bewegung - glaubten, ihr Sturm auf das Kapitol sei der Auftakt zu einem Staatsstreich, durch den die Wahl von Joe Biden zum US-Präsidenten doch noch verhindert werden sollte. Denn wie jetzt bekannt wurde, waren sie allen Ernstes davon überzeugt, dass Joe Biden und all die anderen führenden Demokraten vor der Vereidigung verhaftet oder vielleicht sogar – so ihr Wunschtraum - gleich an Ort und Stelle aufgehängt würden. Sie konnten es deshalb kaum fassen, dass die Vereidigung von Joe Biden als neuer US-Präsident tatsächlich stattgefunden hat. Und bei diesen radikalen Trump-Anhängern besteht - wie Experten befürchten - weiterhin ein großes Gewaltpotenzial. Der Alptraum der Trump-Ära ist also anscheinend noch nicht vorbei.

Die Herkulesaufgabe des Joe Biden – Gibt es einen neuen "New Deal"?

Was der neue US-Präsident Joe Biden jetzt leisten soll, muss man als eine Herkulesaufgabe bezeichnen. Denn er muss zum einen energisch gegen die Corona-Pandemie vorgehen, zum anderen die Wirtschaftskrise eindämmen und drittens das ideologisch zerrissene Land wieder zusammenführen. Wie eine solche Herkulesaufgabe gelöst werden kann, hat allerdings ein anderer Politiker bereits vorgemacht, nämlich der Demokrat Franklin D. Roosevelt, der 1932 - mitten in der damaligen Weltwirtschaftskrise – zum US-Präsidenten gewählt worden war. Roosevelt versprach den Amerikanern einen "New Deal", d.h., eine neue, gerechtere Verteilung der Chancen, und begann gleich nach seinem Amtsantritt, die Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik zu reformieren.

Drei Ziele standen beim "New Deal" im Vordergrund: die Bekämpfung der Notlage vieler Menschen, die Ankurbelung der Wirtschaft und der Aufbau eines nationalen Sozialversicherungssystems. Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele waren staatliche Investitionen, Arbeitsbeschaffungsprogramme und die Einführung einer Altersrente für erwerbslose alte Menschen sowie von Arbeitslosenunterstützung und Sozialhilfe für Bedürftige.

Joe Biden scheint nun tatsächlich - gemeinsam mit Vizepräsidentin Kamala Harris - die Umsetzung eines neuen "New Deal" zu planen, denn er will ein neues riesiges Konjunkturpaket mit einem Umfang von fast zwei Billionen Dollar auf den Weg bringen mit dem Ziel, die Impfkampagne gegen das Coronavirus zu beschleunigen und die Wirtschaftskrise zu bekämpfen. Konkrete Sofort-Maßnahmen sind eine bessere Versorgung Bedürftiger mit Lebensmitteln, die Zahlung von Arbeitslosengeld an Arbeitnehmer, die ihre Jobs wegen Corona-Risiken aufgeben, sowie die Verbesserung der Übermittlung beschlossener Direktzahlungen an Bezugsberechtigte.

In der Steuerpolitik plant Biden eine Erhöhung der Steuern für Bezieher höherer Einkommen, insbesondere des Spitzensteuersatzes, sowie der Unternehmenssteuer. Zur Sicherung der Sozialversicherungssysteme sollen die Sozialabgaben für Großverdienerinnen und -verdiener erhöht werden und die Einkommen aus Kapitaleinkünften genauso besteuert werden wie Einkünfte aus Lohnarbeit. In der Gesundheitspolitik setzt Biden auf die von Obama 2010 implementierte Reform des Affordable Care Acts (Obamacare) und will dieses Reformprojekt der Obama-Administration noch ausbauen u.a. mit dem Ziel einer staatlichen Krankenversicherung für alle.

Zu den längerfristigen Projekten der Biden-Administration zählt die Klima- und Energiepolitik. Hier steht der Kampf gegen die globale Erwärmung im Zentrum der Reformen. So soll in den kommenden vier Jahren die US-Wirtschaft zunehmend auf die Nutzung erneuerbarer Energien umgestellt werden. Das heißt: Das Energiesystem der USA soll bis 2035 frei vom Ausstoß von Kohlenstoffen sein, und die Treibhausgas-Emissionen sollen bis ins Jahr 2050 auf Null zurückgefahren werden.

 

Schlusswort

Wenn es Joe Biden gelingen könnte, zunächst einmal die Stimmung in den USA zu verändern, hätte er sicherlich schon viel erreicht, denn wie sich vor 90 Jahren bei der Umsetzung des "New Deal" gezeigt hat, hatten durch die damit verbundenen Maßnahmen die Amerikaner wieder Hoffnung geschöpft, es war zu einer regelrechten Aufbruchstimmung gekommen, ja der "New Deal" hat vermutlich in der damaligen Situation der Demokratie in Amerika ihr Überleben gesichert.

Umso verhängnisvoller war 50 Jahre später das Wiederaufleben des Wirtschaftsliberalisus in radikaler Form unter Reagan, weil dadurch viele alte Wunden, die Roosevelt geheilt hatte, wieder aufbrachen. Und leider setzten viele US-Bürger, die von den Folgen dieser Politik betroffen waren, insbesondere ein bestimmter Teil der amerikanischen Mittelschicht, aus ideologischen Gründen auf das "falsche Pferd", d.h., sie wählten Politiker, die die gleiche Politik praktizierten und damit den Verfall der Mittelschicht noch beschleunigten. Vielleicht kann nun Joe Biden diese Menschen davon überzeugen, dass der Sozialstaat kein "sozialistisches Teufelszeug" ist, sondern vielen Menschen, die unverschuldet in eine Notlage geraten sind, wieder zu einem menschenwürdigen Leben verhelfen bzw. verhindern kann, dass Menschen überhaupt in eine existenzielle Notlage geraten, und damit noch einmal die Demokratie in Amerika retten.

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