Der Berufsberater


1976 im beginnenden Winter in Sachsen Anhalt in "Halle Neustadt" wird mein Sohn krank. Pseudokrupp sagen die Ärzte und es wird der dringene Hinweis gegeben, das wir aus der Gegend um Halle verschwinden und eine Gegend mit sauberer Luft aufsuchen sollen, um den Jungen wieder zu heilen. Ich hatte in Thüringen, in Bad Salzungen kurz vorher vom Grosvater ein halbes Haus geerbt, da lag es nahe, wieder in die Thüringer Berge zu ziehen. Jobs dachten wir, meine Frau und ich gab es genug, also nix wie weg nach Thüringen. Meine Frau und ich hatte aber erst einmal mit der Jobsuche Pech. Ein Arbeitsplatz in einem Kindergarten als Kindergärtnerin war nicht frei - aber in der Abteilung Berufsbildung - Berufsberatung des  Rates des Kreises war eine Stelle vakant. Traudel, meine Frau war in der Partei, der SED, eine Voraussetzung für diese Stelle, - und so konnte sie diesen Job bekommen. Ich erhielt auf meine Bewerbungen in den für mich in Frage kommenden Betrieben Absagen. Mein Problem war, ich war nicht in der Partei und die allgemeinen Lehrausbilderposten waren angeblich alle besetzt. Abteilungsleiter für Berufsausbildung suchte man - nur ich hatte dafür nicht das entsprechende Parteibuch. Eigentlich hatte ich gar keins.

Aber wie der Zufall so spielt, wurden seit 1975 in der DDR die Berufsberatungszentren gegründet und meine Frau hatte davon Wind bekommen. Die Tätigkeit war eigentlich total neu für mich und ich fand diese nach einer kurzen Information über den Inhalt der Tätigkeit höchst interessant. Irgend wie fiel es nicht sehr auf, dass ich nicht "Genosse" war und wurde auf meine Bewerbung eingestellt. Mit zwei belegten Semmeln, einer Thermoskanne aus Alfi Fischbach mit Tee, einem kleinen Notizblock und einer gehörigen Portion Neugier laufe ich am 1.März 1976 die  Eintausendfünfhundert Meter zu meiner neuen Arbeitsstelle in der Rosa-Luxemburg-Straße.

Es empfangt mich gegen 8.00 Uhr mein neuer Chef Dieter Durner, der  vor zwei Wochen diese Stelle ebenfalls angetreten hatte und froh ist einen weiteren Mitstreiter neben seiner nigelnagelneuen Sekretärin Mado Bernhard zu finden. Dieter ist nett, aufgeschlossen und um 5 Jahre älter als ich. Dieter hat von Berufsberatung so viel Ahnung wie ich. Keine! 

Mein  neuer Job als Berufsberater beinhaltet im großen und ganzen folgendes: "Alle Schüler sind entsprechend der Verordnung vom 15. April 1970 über die Berufsberatung (GBI. I Nr. 43 S. 311) langfristig und systematisch zu befähigen, ihre Berufsentscheidung in Übereinstimmung mit den gesellschaftlichen Erfordernissen und ihren persönlichen Interessen, Neigungen und Fähigkeiten verantwortungsbewußt und mit Sachkenntnis zu treffen." "(1) Zur langfristigen Berufsorientierung sind die Schüler und ihre Erziehungsberechtigten über die beruflichen Ausbildungsmöglichkeiten unter besonderer Berücksichtigung der ökonomischen Struktur des Kreises zu informieren. (2) Die Berufsberatungszentren haben die von den Schulen ermittelten Berufswünsche der Schüler zu analysieren und die Ergebnisse mit Betrieben und Schulen auszuwerten. Die Schüler sind bis zu ihrer Bewerbung um eine Lehrstelle durch differenzierte Maßnahmen bei der Berufswahl zu unterstützen. (3) Zur Vorbereitung auf ihre Berufsentscheidung sind die Schüler über die für die Schulabgänger des Kreises geplanten Lehrstellen zu informieren. Dazu sind den Schulen sowie den Berufsberatungszentren und -kabinetten Lehrstellenverzeichnisse zu übergeben."
Dazu war einiges eigentlich ganz einfach organisiert. Die Anzahl der geplanten Lehrstellen deckte sich mit der Anzahl der Bewerbungen und jedem Schulabgänger wurde so eine Lehrstelle gesichert. Das war das praktische in der DDR Planwirtschaft, man konnte den Laden strukturieren wie die Struktur sich abbildete, abzeichnete. Da generell in vielen Betrieben Personalmangel herrschte, wurden ein paar wenige Lehrstellen mehr geplant, um ein wenig Wettbewerb in das System zu bringen. Die Überhangplanung erfolgte aber hauptsächlich in den Berufen, die aus welchen Gründen auch immer volkswirtschaftlich wichtiger waren. Das waren ohne Ausnahme Lehrstellen in der Landwirtschaft und in produzierenden Bereichen der Industrie. Lediglich die Kapazitäten der Berufsschulen war hier eine einstweilige Grenze. Prinzip war aber generell dass die Lehrstellen entsprechend der volkswirtschaftlichen Struktur des jeweiligen Kreises geplant wurden. Waren zum Beispiel 40 % der Beschäftigten in der Industrie, wurden 40% der Schulabgänger für Lehrstellen in der Industrie geplant. Landwirtschaft 20% gleich 20% Lehrstellen Landwirtschaft. Der Rest, Dienstleistungen ebenfals 20/20. Innerhalb dieser Bereiche erfolgte eine differenzierte Aufgliederung nach Berufsgruppen. Die Zahlen und Prämissen dazu lieferte die staatliche Plankommision beim Rat des Kreises zusammen mit der Abteilung Berufsbildung und der Abteilung Volksbildung. 
 
Die reale Bewerbungssituation für die Schüler sah aber regelmäßig oft dramatisch anders aus als wie geplant. Beispiel: Auf ungeführ 70 geplante Lehrstellen  Fahrzeugschlosser (Kraftfahrzeugschlosser) wurden 400 Schüler in einer Jahrgangsstufe erfasst, welche diesen Beruf erlernen wollten. Von den 70 Fahrzeugschlosser Lehrstellen entfielen ca. 50 auf Volkseigene Betriebe, davon 30 auf Lehrstellen für künftige Berufsoffiziere und Berufsunteroffiziere der NVA. Die restlichen 20 Lehrstellen waren für Kinder der selbständigen Handwerksbetriebe und der Produktionsgenossenschaften (PGH) vorgesehen.
Auf 15 Kerammaler- und Dekorierer Lehrstellen wollten sich 70 Mädchen stürzen. Auf 12 Friseurlehrstellen kamen 100 Mädels mit der Absicht die Friseurscheren zu wetzen. Bergmann, also Facharbeiter für Bergbautechnologie wollten nur 8 Schüler werden, aber 70 Lehrstellen waren vakant.  

Bis 1970 war das Feld der Berufsberatung, bei den Räten der Kreise bei der Abteilung Berufsbildung angesiedelt, wo je je nach Pfiffigkeit der jeweiligen Behörde, mal mehr oder weniger planvoll Berufsberatung organisiert wurde. Ab 1970  wurde mit der "Verordnung vom 15. April 1970 über die Berufsberatung" Schritt für Schritt System in den Berufsberatungsprozeß der DDR gebracht. Im gewissen Sinne gab es 1975 die gleichen Probleme wie heute. Einer bestimmten Anzahl von Lehrstellen stehen eine größere Anzahl von Interessenten gegenüber. Es gibt mehr Deckel als Töpfe. Aber von den heutigen Deckelüberhang will ich nicht schreiben, da mich das nicht mehr tangiert. Nur soviel, gegen die heutigen Probleme im Zusammenhang Lehrstellen-Lehrstellenbewerber war meine damalige Tätigkeit um vieles leichter, problemloser und sicher auch spannender. 
Als ich 15 Jahre vorher (1960) eine Lehrstelle fand, war meine Situation die, dass ich von Seiten der Schule, der Gesellschaft, also dem Staat keinerlei Berufsberatungsunterstützung bekommen hatte. Doch halt, etwas gab es doch. Ab der 8. Klasse hatte ich Polytechnischen Unterricht, (UTP), also Unterricht in der Produktion, wo man einen kleinen Einbick in die Realitäten des Berufsalltages bekam. Ich hatte UTP im Pressenwerk Bad Salzungen und konnte mir dort ansehen, was ein Dreher, Schlosser, Gießer, Tischler, Lohnbuchhalter so den lieben langen Tag lang macht. Das war sogar interessanter, als in der Theo-Neubauer-Schule in der Schulbank still zu sitzen und andächtig dem Staatsbürgerunterricht-Lehrer zu zuhören, der mehrere Tage damit verbrachte den Beruf des Bergmannes in den höchsten Tönen zu loben. Der Papa von meinem Freund Eberhard war Bergmann, der erzählte mir, das der Mensch im Bergbau erst beim "Steiger" anfängt. Nach so 15 Jahren unter Tage!

Mein Berufswunsch war aber damals dussligerweise Rundfunkreporter, weil der Bruder meiner Mutter, also mein Onkel Rundfunksprecher und Reporter bei Radio Budapest war. Der ist im ganzen Land herumgekutscht und hatte eine attraktive, abwechslungsreiche  interessante Arbeit. Das fand ich toll, wie andere es toll fanden, Feuerwehrmann oder Lokomotivführer zu werden. Dann wußte ich noch, was ich nicht werden wollte. Ich wollte nicht Maler werden, das war mir zu dumm. Maurer wollte ich nicht werden, das war mir zu dreckig. Spediteur, wie mein Vater wollte ich auch nicht werden, das war mir körperlich zu schwer. In den Schacht, also in´s Bergwerk wo es damals die meissten Lehrstellen gab, wollte ich nicht, weil viele Väter meiner Freunde Bergmann waren und wenig angenehmes von dieser Tätigkeit berichteten. Dunkel, gefährlich, körperlich schwer wusste ich. 
Mein Vater wollte, daß ich Feinmechaniker bei einem Freund meines Vaters lernen sollte.  Sehr begeistert war ich gerade nicht, Schreibmaschinen zu reparieren - Rundfunkmechaniker wäre da schon mal besser gewesen. Nur für eine Rundfunkmechanikerlehrstelle hatte mein Vater keine Beziehungen und ohne Beziehungen eine genehme Lehrstelle finden, das ging eben um 1959 auch nicht leicht. Mein Berufsweg war eigentlich in diesem Sinne wegen schlechter schulischer Leistungen  vorgezeichnet und so habe ich mir keine weiteren Gedanken Mitte der 8. Klasse gemacht. Rundfunkreporter war Spinnerei, merkte ich schnell. Dazu brauchte man das Abitur und ich war ein Schüler der nur Vieren und Fünfen vorzuweisen hatte. Noch nicht einmal für die Neunte und Zehnte Klasse war ich geeignet.

Berufsberater 2 - Berufsberatung in der DDR

 Es traten dann aber Ereignisse ein, welche meine Berufswunschgedanken völlig neu mischten. Zum einen gab es eine Katastrophe. Der Freund meines Vaters, der Feinmechanikermeister war, starb plötzlich. Gleichzeitig wurde bekannt, daß ich diesen Beruf nicht woanders lernen konnte, da als Voraussetzung, der Abschluß der 10 Klasse vorausgesetzt wurde.Nun war guter Rat teuer. Mit meinem Zeugnis blieb lediglich nur noch das übrig, was ich nicht werden wollte. Maler, Maurer oder Bergmann. Mein Vater schimpfte mit mir, dass ich mir das mit meinen "Glanzzeugnissen" selber eingebrockt hätte und damit war die Diskussion erledigt. "Du wirst Mauerer, basta!" war seine Festslegung und ich hatte mich entsprechend zu fügen.

Inzwischen war mein Vater Chef der Fräserei im Hartmetallwerk Immelborn und er hätte mir mit diesen Beziehungen locker eine Lehrstelle in der Metallverarbeitung besorgen können. Da aber Vater dachte, daß er sich mit mir nur schämen müßte, hat er keinerlei Anstrengungen in dieser Richtung unternommen. Er hatte diese Position auch erst seit einigen Monaten und er wollte diesen Job nicht mit einem Früchtchen, seinem dusseligen Sohn gefährden. 1960 am 1. September finde ich mich wieder als Dreherlehrling im VEB Pressenwerk Bad Salzungen. Ich hatte  Glück gehabt. Mit meinem absolut miesen Zeugnis der achten Klasse hätte ich normalerweise diese Lehrstelle nicht bekommen. Aber es war damals normalerweise keine normale Zeit. Die Grenze, besonders nach Westberlin war noch offen und es gab nicht wenige Salzunger Familien, die ohne Sack und Pack in den den englischen, amerikanischen oder französischen Sektor mit der S-Bahn fuhren und sich als Flüchtlinge bei den Berliner Behörden meldeten. Und so verduftete eben damals eine Salzunger Familie mit einem Sohn, der schon eine Lehrstelle als Dreher in der Tasche hatte ab nach Westberlin. Meine Eltern bekamen davon Wind und lieferten mich als Ersatzlehrling bei meinen zukünftigen skeptisch drein blickenden Lehrmeister Lieber ab. 

Ohne es zu ahnen, war ich in einen Job gerutscht, der damals auf mich passte wie der Deckel auf einen Topf. Man musste gut kucken können. Ansonsten arbeitete man nicht körperlich sehr anstrengend wie in manchen anderen von mir mißachtenden Lehrberufen als Bauarbeiter oder als Maler. Die Drehmaschine arbeitete und man musste nur flink neue Werkstücke in die Maschine einspannen. Das technische Verständnis hatte ich irgendwie und nur das Stehen den lieben langen Tag an der Maschine fiel mir ein wenig schwer.  Das waren meine ersten Erfahrungen mit dem Thema Berufswahl, die mich schon damals zu ersten Erkenntnissen brachten, das es furchtbar viele Tätigkeiten gibt, von denen man einfach nichts weis, ein falches Bild von der Tätigkeit hat, es falsch sozial einordnete und wichtig war auch, dass sich die Bedingungen sehr schnell wechseln können. Es gab aber auch die Erkenntnis, dass sich im Laufe der eigenen Entwicklung Interessen, Neigungen und Voraussetzungen blitzschnell und auch langsam fließend ändern können. "Der Mensch ist kein unveränderliches statisches Wesen!" 

Ich war damals schon in den ersten Wochen als Berufsberater aus eigenem Erleben einer fünfzehnjährigen Berufsentwicklung in der noch schwammigen Auffassung, dass der zuerst erlernte Beruf lediglich ein erster Start in die Berufswelt ist und die Anpassung der speziellen Tätigkeit auf die eigene Persönlichkeit innerhalb der Lebensziele ein langer, langer Entwicklungsprozeß ist, den man selber teilweise bewußt beeinflussen kann. Der Prozess dazu ist furchtbar komplex und  von vielen ungeregelten Einflüssen chaosartig gesteuert. Obwohl, damals sah es für mich objektiv erkennbar sehr statisch aus. Man lernte einen Beruf und übte diesen sein Leben lang aus. 
 
Ich packte erst einmal meine Semmeln zum Frühstück aus, nachdem ich meine eigene Position und obige Erfahrungen meinem neuen Chef Dieter Durner präsentierte. Er dachte ähnlich wie ich und in der Frühstückspause redeten wir eigentlich das gleiche wie vor der Frühstückspause. Uns beiden war klar, dass wir auf Grund unserer Berufs- und Lebenserfahrung schon ganz ausgebuffte Berufsberater wären und das bissel noch notwendige Fachwissen mit Links und vierzig Fieber blitzschnell aneignen können. Gegen Mittag frage ich meinen Chef Dieter Durner "Was macht man nun mit dem Rest der 330 Interessenten Fahrzeugschlosser?" Dieter, mit dem ich inzwischen schon auf "Du" war, entgegnete "Denen müssen wir das alles ausreden, das ist unsere künftige Arbeit!"

Am anderen Tag begannen die ersten aus dem Bauch mit gesundem Menschenverstand geholten Lösungsansätze für dieses Problem, die Schulabgänger künftig so zu lenken, dass sie aus dem im Lehrstellenverzeichnis des Kreises Bad Salzungen die ausgewiesenen Lehrstellen finden, damit der Plan der Kreispankommission erfüllt wird. Er wurde in den nächsten Jahren zu 95% erfüllt!

Mein Ansatz, den Schülern  zu helfen, war die ungeheuere Variantenvielfalt der Berufe, die man eigentlich nur zu präsentieren brauchte, um eine Verteilung der Neigungen und Interessen zu ermöglichen. Manchmal war das sehr einfach, oft war es unlösbar, weil die Statik der Wünsche absolut nicht zu knacken waren. 

Ein Apotheker hatte drei Töchter. Eine wurde gelenkt und gestriezt von der Familie auch Apothekerin zu werden. Das klappte auch. Über erweiterte Oberschule und Phamaziestudium in Leipzig wurde sie auf diesen Weg gelenkt. Ob sie es auch wirklich so wollte, entzog sich meiner Kenntnis. Die übrigen zwei Apothekertöchter wollten und sollten mit hundertprozentiger Sicherheit  keinen Arbeiterberuf anstreben, wie z.B. Maschinist für Wärmekraftwerke oder Rinderzüchterin in einer LPG. Eine schaffte es noch über Beziehungen zur EOS, zur erweiterten Oberschule und wollte und sollte Medizin studieren. In der elften Klasse wurde sie schwanger und wurde Bibliothekarin. Die dritte Apothekertochter schaffte es nicht bis zum Abitur. Sie saß vor mir kurz vor Ende der zehnten Klasse und erzählte von ihren "superschlauen Schwestern" denen sie nie gewachsen war. Doch sie wollte sie überholen und fragte mich, wie das  für sie möglich machen könnte.  Ihr Zeugnis der Neunten Klasse war schauderhaft mittelmäßig - Durchschnitt "Drei". In Chemie hatte sie aber zufälligerweise eine "Zwei" stehen. Die Alkene, Alkane, Alkine, die Acetylenkohlenwasserstoffe hatten es ihr angetan, sagte sie. Sie hatte einfach zufälligerweise die Systematik der Kohlenwasserstoffe begriffen. Die Dinger kannte ich und rief meine ehemaligen Kollegen in der Betriebsschule in Buna an. Dort gab es eine Ausbildung zur Chemiefacharbeiter mit Abitur, die alles nahmen aus der DDR, welche auch nur ahnungsweise für Chemie Interesse hatten. Ein halbes Jahr später war Elfi in Buna. Berufsausbildung mit Abitur zum Chemiefacharbeiter mit Abitur. Danach absolvierte sie das Grundstudium Medizin bis zum Physikum an der Humboldt-Universität zu Berlin. Elfi wurde Tropenmedizinerin. Bei der ersten fachlichen Auslandsreise nach Äthopien stieg sie in den nächsten Flieger zurück nach Westdeutschland mit einem Pass der Bundesrepublik und heiratete dort einen Zahnarzt. Nach dem zweiten Kind wurde sie in der Gegend um Kassel Hausfrau. Ihre Kinder, drei Jungen wurden alle Kohlenstoffchemiker für Alkene, Alkane, Alkine.

DDR gleich Unrechtsstaat wird heute postuliert. Bezogen auf die Prämissen einer freiheitlichen bürgerlichen Demokratie, wie im kapitalistischen  Westdeutschland, war die DDR das sicher auch. DDR, das war Diktatur einer sehr sehr großen unübersichtlichen und zugleich übersichtlichen Parteienkaste, die aber sachlich gesehen, durch die Bank eine mehr oder weniger Mafiafamilienorganisation war. Oberhaupt war immer der erste Vorsitzende des Rates des Bezirkes. In Suhl, war das zu meiner Zeit der Schlosser Hans Albrecht, der es immerhin zum Ingenieurökonom schaffte. In Bad Salzungen war es "Der Erste", ein von Landolf Scherzer beschriebener erster Sekretär der Kreisleitung der SED. Ein "Guter", der aber innerhalb der entgegengepolten SED-Mafia aus Suhl und Berlin gegen Windmühlen kämpfte und organisierte.

Ich war so zehn Jahre  von 1976 - 1986 als Berufsberater wirksam und erlebt eine Mutantenorganisation in Sachen Berufswahl. Die DDR postulierte sich nach innen und außen als "Arbeiter- und Bauern Staat", wo angeblich die Arbeiter und Bauern das Sagen haben. Die Macht hatte eine Parteiaristrokratie, die im innerstem Sinne wie ein Partei-Familienclan ähnlich wie heute in Nordkorea oder in der Sahelzone in einem Wüstenstamm funktionierte. Mit dem  Unterschied, das die Nachfolgemacht der Kinder und Kindeskinder in der DDR cleverer versteckt wurde. Gut, eine weitere Ausnahme war seinerzeit Margot, die noch als Ministerin für Volksbildung die Geschicke der Volksbildung bis zum unrühmlichen Ende der DDR leitete. Ihr Mann war Erich Honecker, der Staatsratsvorsitzende der DDR. 

In Rumänien, bei Nicolae Ceaușescu war seine Frau Elena Ceaușescu,  die bisher nur gute Noten im Fach Nähen vorweisen konnte ähnlich vordergründig positioniert. Ab 1971 bekleidete  sie hohe Posten innerhalb der kommunistischen Partei und in der Regierung Rumäniens. Außerdem war sie Vorsitzende der rumänischen Akademie der Wissenschaften und galt im Land offiziell als "Gelehrte von Weltruhm", obwohl sie die Schule mit 14 verlassen hatte und gute Noten nur im Fach "Nähen" vorweisen konnte. Ohne je studiert zu haben, trug sie später einen fingierten Doktortitel im Fach Technische Chemie ("Acad. Dr. Ing").

Bis zum 30.06.1985 hielt ich durch als Berufsberater. Es waren zehn Jahre Erkenntnisgewinn über die Arbeitsteilung in einer mittleren industriellen Gesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts. Egal, wo ich auch hin kam, es grauste mich über die Bedingungen der Tätigkeiten in fast allen Berufen. Das hatte weniger mit den soziologischen und politisch gesellschaftlichen Veränderungen zu tun, sondern mit  neueren technischem wissenschaftlichen Entwicklungen addiert zu dem Verfall der ehemaligen mechanisierten Produktion. Um 1917 wurden Drehmaschinen automatisiert, um Granaten mit Kurvensteuerung hundertfach blitzschnell täglich zu produzieren. Bei Krupp in Essen konnten so damals schon siebenhundert  Artilleriegeschosse in einer Stunde einen Güterwagen füllen. Wenige Arbeiter reichten dazu. Mit dem Gewinn dieser Produktion konnte man eigentlich jeden Tag ein Haus in den Bergen in Bayern erwerben. Ein Arbeiter konnte sich immerhin 10 Fahrradklingeln an einem Tag dafür kaufen.

Egal in welchen Betrieb in Südwestthüringen ich damals oberflächlich meine Blicke lenkte, die Arbeit, die man dort wahrnehmen konnte, war entillusioniert, monoton, langweilig, mies, ungesund, tröge, beschissen, grausam, unterbezahlt, schockierend. Im Emmentaler Käsewerk Bad Salzungen, dem einzigen Emmentaler Käsewerk der DDR war es laut, nass, stinkig, ungemütlich, mies, belastend, ungesund. Modern war es aber gleichzeitig auch. Kantine, Kindergarten, sauber, organisiert. Der Eingang zum Betrieb war was feines!

Drei Kilometer daneben war das Hartmetallwerk Immelborn. Sinterhartmetalle für Drehmeißel, Fräser, Bohrer wurden dort produziert. Man muss sich mal dazu eine Weihnachtsbäckerei vorstellen. Nur anstatt der Plätzchen  mit Mehl und feinen Ingredenzien wurden Schneidplatten für Drehmeißel mit über tausend Grad gebacken. Die Finger, die das organisierten, wurden nie wieder sauber. Ruß, Dreck, Metalloxide drangen in jede Pore der Haut ein und gingen kaum raus wie tätowierte Spuren. "Mama deine Finger sind so schwarz" sagte, ja fragte ich. Mama machte die Arbeit Spaß. Vorher war sie Hausfrau und hockte den ganzen Tag alleine langweilig zuhause herum. Hartmetall pressen und schleifen war ihr Paradies. Zehn Kolleginnen hatte sie, mit denen sie den ganzen Tag schwatzen konnte, necken Spaß haben. Die Arbeit war dreckig....gut......mühselig war sie nicht. Eine Friseurin verdiente damals vierundzwanzig Mark am Tag. Drei Mark die Stunde.

Im Hartmetallwerk Immelborn hatte man das doppelte! Bei meinen Berufsberatungsgesprächen brauchte ich manchmal nur einen DIN A4 Zettel, auf denen ich diese Zahlen schrieb: 3x8=24   oder  6x8=48. Also fragte ich ein Mädchen was Friseuse werden wollte, "Willste am Tag vierundzwanzig Mark verdienen oder 48 Mark?   Als Friseuse muss´te den ganzen Tag stehen und kannst mit Deinen Kunden schwatzen. Als Hartmetallerin sitzt du den ganzen Tag und schwatzt mit zehn Kolleginnen! "Geh mal hin und schau dir das an!" 

Mit den Bergbauberufen war das damals fast genau so. Ein KFZ Schlosser-Geselle hatte einmanchmal mühseliges Leben. Die privaten Meister waren teilweise durch ihre privilegische Position Arschlöcher, Schmarotzer, korrupt, mies, Steuerbescheißer, unangenehm. Ein Facharbeiter für Bergbautechnologie, also ein Bergmann in der Kaliindustrie in Merkers, Dorndorf Unterbreizbach verdiente da oft doppelte. Kalibergbau war Salonbergbau. Hochindustrialisiert schon um 1976. Eine sitzende Tätigkeit mit Tiefschaufellader, die nun täglich zweihundert bis vierhundert Meter im Schacht hin und her fuhren. Es war warm, es war bequem, man bekam nie eine Erkältung!


Autor seit 13 Jahren
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