Berufsberater 2 - Berufsberatung in der DDR
Es traten dann aber Ereignisse ein, welche meine Berufswunschgedanken völlig neu mischten. Zum einen gab es eine Katastrophe. Der Freund meines Vaters, der Feinmechanikermeister war, starb plötzlich. Gleichzeitig wurde bekannt, daß ich diesen Beruf nicht woanders lernen konnte, da als Voraussetzung, der Abschluß der 10 Klasse vorausgesetzt wurde.Nun war guter Rat teuer. Mit meinem Zeugnis blieb lediglich nur noch das übrig, was ich nicht werden wollte. Maler, Maurer oder Bergmann. Mein Vater schimpfte mit mir, dass ich mir das mit meinen "Glanzzeugnissen" selber eingebrockt hätte und damit war die Diskussion erledigt. "Du wirst Mauerer, basta!" war seine Festslegung und ich hatte mich entsprechend zu fügen.
Inzwischen war mein Vater Chef der Fräserei im Hartmetallwerk Immelborn und er hätte mir mit diesen Beziehungen locker eine Lehrstelle in der Metallverarbeitung besorgen können. Da aber Vater dachte, daß er sich mit mir nur schämen müßte, hat er keinerlei Anstrengungen in dieser Richtung unternommen. Er hatte diese Position auch erst seit einigen Monaten und er wollte diesen Job nicht mit einem Früchtchen, seinem dusseligen Sohn gefährden. 1960 am 1. September finde ich mich wieder als Dreherlehrling im VEB Pressenwerk Bad Salzungen. Ich hatte Glück gehabt. Mit meinem absolut miesen Zeugnis der achten Klasse hätte ich normalerweise diese Lehrstelle nicht bekommen. Aber es war damals normalerweise keine normale Zeit. Die Grenze, besonders nach Westberlin war noch offen und es gab nicht wenige Salzunger Familien, die ohne Sack und Pack in den den englischen, amerikanischen oder französischen Sektor mit der S-Bahn fuhren und sich als Flüchtlinge bei den Berliner Behörden meldeten. Und so verduftete eben damals eine Salzunger Familie mit einem Sohn, der schon eine Lehrstelle als Dreher in der Tasche hatte ab nach Westberlin. Meine Eltern bekamen davon Wind und lieferten mich als Ersatzlehrling bei meinen zukünftigen skeptisch drein blickenden Lehrmeister Lieber ab.
Ohne es zu ahnen, war ich in einen Job gerutscht, der damals auf mich passte wie der Deckel auf einen Topf. Man musste gut kucken können. Ansonsten arbeitete man nicht körperlich sehr anstrengend wie in manchen anderen von mir mißachtenden Lehrberufen als Bauarbeiter oder als Maler. Die Drehmaschine arbeitete und man musste nur flink neue Werkstücke in die Maschine einspannen. Das technische Verständnis hatte ich irgendwie und nur das Stehen den lieben langen Tag an der Maschine fiel mir ein wenig schwer. Das waren meine ersten Erfahrungen mit dem Thema Berufswahl, die mich schon damals zu ersten Erkenntnissen brachten, das es furchtbar viele Tätigkeiten gibt, von denen man einfach nichts weis, ein falches Bild von der Tätigkeit hat, es falsch sozial einordnete und wichtig war auch, dass sich die Bedingungen sehr schnell wechseln können. Es gab aber auch die Erkenntnis, dass sich im Laufe der eigenen Entwicklung Interessen, Neigungen und Voraussetzungen blitzschnell und auch langsam fließend ändern können. "Der Mensch ist kein unveränderliches statisches Wesen!"
Ich war damals schon in den ersten Wochen als Berufsberater aus eigenem Erleben einer fünfzehnjährigen Berufsentwicklung in der noch schwammigen Auffassung, dass der zuerst erlernte Beruf lediglich ein erster Start in die Berufswelt ist und die Anpassung der speziellen Tätigkeit auf die eigene Persönlichkeit innerhalb der Lebensziele ein langer, langer Entwicklungsprozeß ist, den man selber teilweise bewußt beeinflussen kann. Der Prozess dazu ist furchtbar komplex und von vielen ungeregelten Einflüssen chaosartig gesteuert. Obwohl, damals sah es für mich objektiv erkennbar sehr statisch aus. Man lernte einen Beruf und übte diesen sein Leben lang aus.
Ich packte erst einmal meine Semmeln zum Frühstück aus, nachdem ich meine eigene Position und obige Erfahrungen meinem neuen Chef Dieter Durner präsentierte. Er dachte ähnlich wie ich und in der Frühstückspause redeten wir eigentlich das gleiche wie vor der Frühstückspause. Uns beiden war klar, dass wir auf Grund unserer Berufs- und Lebenserfahrung schon ganz ausgebuffte Berufsberater wären und das bissel noch notwendige Fachwissen mit Links und vierzig Fieber blitzschnell aneignen können. Gegen Mittag frage ich meinen Chef Dieter Durner "Was macht man nun mit dem Rest der 330 Interessenten Fahrzeugschlosser?" Dieter, mit dem ich inzwischen schon auf "Du" war, entgegnete "Denen müssen wir das alles ausreden, das ist unsere künftige Arbeit!"
Am anderen Tag begannen die ersten aus dem Bauch mit gesundem Menschenverstand geholten Lösungsansätze für dieses Problem, die Schulabgänger künftig so zu lenken, dass sie aus dem im Lehrstellenverzeichnis des Kreises Bad Salzungen die ausgewiesenen Lehrstellen finden, damit der Plan der Kreispankommission erfüllt wird. Er wurde in den nächsten Jahren zu 95% erfüllt!
Mein Ansatz, den Schülern zu helfen, war die ungeheuere Variantenvielfalt der Berufe, die man eigentlich nur zu präsentieren brauchte, um eine Verteilung der Neigungen und Interessen zu ermöglichen. Manchmal war das sehr einfach, oft war es unlösbar, weil die Statik der Wünsche absolut nicht zu knacken waren.
Ein Apotheker hatte drei Töchter. Eine wurde gelenkt und gestriezt von der Familie auch Apothekerin zu werden. Das klappte auch. Über erweiterte Oberschule und Phamaziestudium in Leipzig wurde sie auf diesen Weg gelenkt. Ob sie es auch wirklich so wollte, entzog sich meiner Kenntnis. Die übrigen zwei Apothekertöchter wollten und sollten mit hundertprozentiger Sicherheit keinen Arbeiterberuf anstreben, wie z.B. Maschinist für Wärmekraftwerke oder Rinderzüchterin in einer LPG. Eine schaffte es noch über Beziehungen zur EOS, zur erweiterten Oberschule und wollte und sollte Medizin studieren. In der elften Klasse wurde sie schwanger und wurde Bibliothekarin. Die dritte Apothekertochter schaffte es nicht bis zum Abitur. Sie saß vor mir kurz vor Ende der zehnten Klasse und erzählte von ihren "superschlauen Schwestern" denen sie nie gewachsen war. Doch sie wollte sie überholen und fragte mich, wie das für sie möglich machen könnte. Ihr Zeugnis der Neunten Klasse war schauderhaft mittelmäßig - Durchschnitt "Drei". In Chemie hatte sie aber zufälligerweise eine "Zwei" stehen. Die Alkene, Alkane, Alkine, die Acetylenkohlenwasserstoffe hatten es ihr angetan, sagte sie. Sie hatte einfach zufälligerweise die Systematik der Kohlenwasserstoffe begriffen. Die Dinger kannte ich und rief meine ehemaligen Kollegen in der Betriebsschule in Buna an. Dort gab es eine Ausbildung zur Chemiefacharbeiter mit Abitur, die alles nahmen aus der DDR, welche auch nur ahnungsweise für Chemie Interesse hatten. Ein halbes Jahr später war Elfi in Buna. Berufsausbildung mit Abitur zum Chemiefacharbeiter mit Abitur. Danach absolvierte sie das Grundstudium Medizin bis zum Physikum an der Humboldt-Universität zu Berlin. Elfi wurde Tropenmedizinerin. Bei der ersten fachlichen Auslandsreise nach Äthopien stieg sie in den nächsten Flieger zurück nach Westdeutschland mit einem Pass der Bundesrepublik und heiratete dort einen Zahnarzt. Nach dem zweiten Kind wurde sie in der Gegend um Kassel Hausfrau. Ihre Kinder, drei Jungen wurden alle Kohlenstoffchemiker für Alkene, Alkane, Alkine.
DDR gleich Unrechtsstaat wird heute postuliert. Bezogen auf die Prämissen einer freiheitlichen bürgerlichen Demokratie, wie im kapitalistischen Westdeutschland, war die DDR das sicher auch. DDR, das war Diktatur einer sehr sehr großen unübersichtlichen und zugleich übersichtlichen Parteienkaste, die aber sachlich gesehen, durch die Bank eine mehr oder weniger Mafiafamilienorganisation war. Oberhaupt war immer der erste Vorsitzende des Rates des Bezirkes. In Suhl, war das zu meiner Zeit der Schlosser Hans Albrecht, der es immerhin zum Ingenieurökonom schaffte. In Bad Salzungen war es "Der Erste", ein von Landolf Scherzer beschriebener erster Sekretär der Kreisleitung der SED. Ein "Guter", der aber innerhalb der entgegengepolten SED-Mafia aus Suhl und Berlin gegen Windmühlen kämpfte und organisierte.
Ich war so zehn Jahre von 1976 - 1986 als Berufsberater wirksam und erlebt eine Mutantenorganisation in Sachen Berufswahl. Die DDR postulierte sich nach innen und außen als "Arbeiter- und Bauern Staat", wo angeblich die Arbeiter und Bauern das Sagen haben. Die Macht hatte eine Parteiaristrokratie, die im innerstem Sinne wie ein Partei-Familienclan ähnlich wie heute in Nordkorea oder in der Sahelzone in einem Wüstenstamm funktionierte. Mit dem Unterschied, das die Nachfolgemacht der Kinder und Kindeskinder in der DDR cleverer versteckt wurde. Gut, eine weitere Ausnahme war seinerzeit Margot, die noch als Ministerin für Volksbildung die Geschicke der Volksbildung bis zum unrühmlichen Ende der DDR leitete. Ihr Mann war Erich Honecker, der Staatsratsvorsitzende der DDR.
In Rumänien, bei Nicolae Ceaușescu war seine Frau Elena Ceaușescu, die bisher nur gute Noten im Fach Nähen vorweisen konnte ähnlich vordergründig positioniert. Ab 1971 bekleidete sie hohe Posten innerhalb der kommunistischen Partei und in der Regierung Rumäniens. Außerdem war sie Vorsitzende der rumänischen Akademie der Wissenschaften und galt im Land offiziell als "Gelehrte von Weltruhm", obwohl sie die Schule mit 14 verlassen hatte und gute Noten nur im Fach "Nähen" vorweisen konnte. Ohne je studiert zu haben, trug sie später einen fingierten Doktortitel im Fach Technische Chemie ("Acad. Dr. Ing").
Bis zum 30.06.1985 hielt ich durch als Berufsberater. Es waren zehn Jahre Erkenntnisgewinn über die Arbeitsteilung in einer mittleren industriellen Gesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts. Egal, wo ich auch hin kam, es grauste mich über die Bedingungen der Tätigkeiten in fast allen Berufen. Das hatte weniger mit den soziologischen und politisch gesellschaftlichen Veränderungen zu tun, sondern mit neueren technischem wissenschaftlichen Entwicklungen addiert zu dem Verfall der ehemaligen mechanisierten Produktion. Um 1917 wurden Drehmaschinen automatisiert, um Granaten mit Kurvensteuerung hundertfach blitzschnell täglich zu produzieren. Bei Krupp in Essen konnten so damals schon siebenhundert Artilleriegeschosse in einer Stunde einen Güterwagen füllen. Wenige Arbeiter reichten dazu. Mit dem Gewinn dieser Produktion konnte man eigentlich jeden Tag ein Haus in den Bergen in Bayern erwerben. Ein Arbeiter konnte sich immerhin 10 Fahrradklingeln an einem Tag dafür kaufen.
Egal in welchen Betrieb in Südwestthüringen ich damals oberflächlich meine Blicke lenkte, die Arbeit, die man dort wahrnehmen konnte, war entillusioniert, monoton, langweilig, mies, ungesund, tröge, beschissen, grausam, unterbezahlt, schockierend. Im Emmentaler Käsewerk Bad Salzungen, dem einzigen Emmentaler Käsewerk der DDR war es laut, nass, stinkig, ungemütlich, mies, belastend, ungesund. Modern war es aber gleichzeitig auch. Kantine, Kindergarten, sauber, organisiert. Der Eingang zum Betrieb war was feines!
Drei Kilometer daneben war das Hartmetallwerk Immelborn. Sinterhartmetalle für Drehmeißel, Fräser, Bohrer wurden dort produziert. Man muss sich mal dazu eine Weihnachtsbäckerei vorstellen. Nur anstatt der Plätzchen mit Mehl und feinen Ingredenzien wurden Schneidplatten für Drehmeißel mit über tausend Grad gebacken. Die Finger, die das organisierten, wurden nie wieder sauber. Ruß, Dreck, Metalloxide drangen in jede Pore der Haut ein und gingen kaum raus wie tätowierte Spuren. "Mama deine Finger sind so schwarz" sagte, ja fragte ich. Mama machte die Arbeit Spaß. Vorher war sie Hausfrau und hockte den ganzen Tag alleine langweilig zuhause herum. Hartmetall pressen und schleifen war ihr Paradies. Zehn Kolleginnen hatte sie, mit denen sie den ganzen Tag schwatzen konnte, necken Spaß haben. Die Arbeit war dreckig....gut......mühselig war sie nicht. Eine Friseurin verdiente damals vierundzwanzig Mark am Tag. Drei Mark die Stunde.
Im Hartmetallwerk Immelborn hatte man das doppelte! Bei meinen Berufsberatungsgesprächen brauchte ich manchmal nur einen DIN A4 Zettel, auf denen ich diese Zahlen schrieb: 3x8=24 oder 6x8=48. Also fragte ich ein Mädchen was Friseuse werden wollte, "Willste am Tag vierundzwanzig Mark verdienen oder 48 Mark? Als Friseuse muss´te den ganzen Tag stehen und kannst mit Deinen Kunden schwatzen. Als Hartmetallerin sitzt du den ganzen Tag und schwatzt mit zehn Kolleginnen! "Geh mal hin und schau dir das an!"
Mit den Bergbauberufen war das damals fast genau so. Ein KFZ Schlosser-Geselle hatte einmanchmal mühseliges Leben. Die privaten Meister waren teilweise durch ihre privilegische Position Arschlöcher, Schmarotzer, korrupt, mies, Steuerbescheißer, unangenehm. Ein Facharbeiter für Bergbautechnologie, also ein Bergmann in der Kaliindustrie in Merkers, Dorndorf Unterbreizbach verdiente da oft doppelte. Kalibergbau war Salonbergbau. Hochindustrialisiert schon um 1976. Eine sitzende Tätigkeit mit Tiefschaufellader, die nun täglich zweihundert bis vierhundert Meter im Schacht hin und her fuhren. Es war warm, es war bequem, man bekam nie eine Erkältung!