Die Verengung des Demokratiebegriffs

Ausgangspunkt ist für Wang Hui eine Kritik an der Verengung des Demokratiebegriffs auf die "Massendemokratie", die er in eine enge Verbindung bringt mit der ideologischen Konstruktion eines Dualismus von Demokratie und Sozialismus im "Kalten Krieg" und mit  dem "Sieg" des Kapitalismus über den Sozialismus. Das heißt: Als Folgewirkung dieser historischen Entwicklungen werden andere Auffassungen von Demokratie wie "Volksdemokratie" der Kategorie "Politische Diktatur" zugeordnet. Diese Freund-Feind-Konstruktion ist aber – so Wang Hui - nicht hilfreich, um die Krise, in die die Demokratien mit ihrem kapitalistischen Wirtschaftssystem nach dem Zusammenbruch des Sozialismus geraten sind, zu analysieren. Die Krise der Demokratie begann Wang Hui zufolge vermutlich auch schon eher, sie ist jedoch durch die Krise des Sozialismus verdeckt worden. Aber auch die Länder, die sich in der Übergangsphase vom Sozialismus zur Demokratie befinden, kämpfen seiner Meinung nach mit inneren Konflikten.

Der "repräsentative Bruch"

Für Wang Hui wird die Krisenhaftigkeit der "traditionellen" und der "neuen" Demokratien gleichermaßen durch eine spezifische Fehlentwicklung verursacht, die er als Abkopplung des demokratischen Systems, also der politischen Demokratie bzw. Demokratisierung, von den Formen der gesellschaftlichen Demokratie bzw. Demokratisierung beschreibt. Das heißt: Der Kern der gegenwärtigen politischen Krise besteht in der Destruktion der Gesellschaftsform, die eigentlich zum politischen System gehört. Und zwar koexistiert derzeit die politische Freiheit in der Demokratie mit der ungleichen Verteilung von Eigentum und Vermögen, und diese ökonomische und soziale Ungleichheit höhlt die politische Gleichheit aus. Ohne substantielle Gleichheit, ohne Gleichheit unter den Bürgern, werden die Bürgerrechte der politischen Demokratie mit anderen Worten zu einem leeren Begriff. Wang Hui spricht in diesem Zusammenhang von einem "repräsentativen Bruch", und dieser beruht seiner Meinung nach auf der Abkopplung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Elite und deren Interessen von den Massen. Aber auch die Parteien, Medien und das Rechtssystem vertreten Wang Hui zufolge – auch wenn sie sich gerne für allgemein erklären – nicht angemessen gesellschaftliche Interessen und öffentliche Meinungen. Das ist für Hui der direkte Ausdruck des "repräsentativen Bruchs". Und darin kommt – so Hui - eine dreifache Krise der demokratischen Politik zum Ausdruck: die Krise der Parteien (z.B. Parteien gleich Staat), die Krise der Öffentlichkeit (Medien, die expandieren, aber abgekoppelt vom öffentlichen Raum), die Krise des Rechtssystems (z.B. wird Prozessieren von Interessen beherrscht). "Vereinfacht heißt das: Die Parteien sind verstaatlicht, der Staat zum Unternehmen privatisiert, die Medien zu Parteien vereinfacht, Politiker zu Medienstars trainiert, die Justiz inhaltlich entleert". Daraus ergibt sich für Wang Hui die Frage nach dem künftigen Charakter der Parteien, der "Öffentlichkeit", des "politischen und rechtlichen Systems", vor allem aber auch nach einer neuen Politik der Gleichheit.

Globale Demokratiekrise (Bild: Nemo/Pixabay.com)

Globale Wirtschaftskrise (Bild: geralt/Pixabay.com)

Chancengleichheit

Um die Konturen einer möglichen neuen Politik der Gleichheit zu verdeutlichen, erläutert Wang Hui verschiedene Formen der Gleichheit. Die erste Kategorie ist die Chancengleichheit, die zweite die Gleichheit der Umverteilung bzw. Verteilungsgerechtigkeit oder Ergebnisgleichheit. Und zwar wurde – so Wang Hui - mit dem Einzug der Kapitallogik in alle Lebensbereiche Gleichheit reduziert auf Chancengleichheit, bezogen auf den Marktwettbewerb, also den freien Zugang zum Markt. Chancengleichheit unterliegt damit der Logik des Warentauschs. Das heißt: Die Beziehungen zwischen den Menschen drücken sich in Tauschbeziehungen zwischen Waren aus, und da jeder Mensch das gleiche Recht hat, seine Waren gegen andere zu tauschen, herrschen zwischen den Menschen als Tauschsubjekten Beziehungen der Gleichheit. Chancengleichheit legt also angeblich großen Wert auf die Startgleichheit und soll die Voraussetzungen für die vom Wettbewerb geprägten Marktverhältnisse schaffen. Aber für die Tatsache, dass die ungleichen gesellschaftlichen Bedingungen die Chancengleichheit einschränken, interessiert sie sich nicht. Auch die Tatsache, dass der Wettbewerb unter Bedingungen der Chancengleichheit Monopole und Ungleichheiten hervorbringt, d.h., ungleiche Wettbewerbsbedingungen reproduziert, was ungleiche Startchancen zur Folge hat, wird nicht berücksichtigt. Chancengleichheit wird damit zur Lüge.

Schere zwischen "arm und reich" (Bild: Bernd Kasper/pixelio.de)

Ungleich verteilter Reichtum (Bild: Bernd Kasper/pixelio.de)

Die Gleichheit als Verteilungsgerechtigkeit

Im Gegensatz zur Chancengleichheit überschneidet sich die Verteilungsgerechtigkeit mit der Gleichheit der Bedingungen, und sie versucht, die durch die Funktion des kapitalistischen Systems, inklusive die des Marktes, im Produktionsprozess entstandene Ungleichheit möglichst gering zu halten. Und zwar soll auf der Basis von Eigentum und Markt durch das Steuersystem eine Umverteilung vorgenommen werden, um die Klassengegensätze zu mildern bzw. zu regulieren. So entsteht im Rahmen der sozialen Demokratie die soziale Marktwirtschaft. Die Gleichheit als Verteilungsgerechtigkeit betrifft also nicht nur die Startbedingungen, die Ressourcen, sondern sie betont auch die Bedeutung der Ergebnisgleichheit. Ihre Verwirklichung mit der Umverteilung als Kern ist jedoch, wie Wang Hui betont, mit einer schwierigen Aufgabe konfrontiert, nämlich zu verhindern, dass privates Eigentum in Monopolkapital verwandelt wird, da dies letzten Endes den Zusammenbruch des sozialen Systems herbeiführt.

Die Gleichheit der Fähigkeiten

Eine weitere Dimension der Gleichheit ist die Gleichheit der Fähigkeiten. Deren Bedeutung erschließt sich daraus, dass ohne Gleichheit der Grundfähigkeiten auch die Umverteilung der materiellen Voraussetzungen keine Praxis der Gleichheit gewährleisten kann. Das heißt: Chancengleichheit bleibt ein leeres Wort, solange es keine Gleichheit der Fähigkeiten gibt. Und zwar setzt die Gleichheit der Fähigkeiten die gleiche politische und soziale Stellung der Mitglieder der Gesellschaft voraus. Diese wird aber nicht nur durch die Autonomie des einzelnen Menschen bestimmt, sondern auch durch die Schutzfunktion der Gesellschaft. Somit müssen Wang Hui zufolge mindestens drei Ebenen der Gleichheit unterschieden werden: Chancengleichheit, Verteilungsgerechtigkeit und die Gleichheit der Fähigkeiten. Bestehen hier Ungleichheiten, kommt es zu einer Diskrepanz zwischen dem demokratischen System und der gesellschaftlichen Form.

Grundwerte (Bild: Andreas Willfahrt/pixelio.de)

Ideal "Weltweite Gleichheit" (Bild: Nemo/Pixabay.com)

Was bedeutet "Demokratie"?

Von besonderer Bedeutung ist für Wang Hui die Frage, ob eine Gesellschaft allein aufgrund ihres demokratischen politischen Systems als "demokratisch" bezeichnet werden kann, ob man also bereits dann von einer demokratischen Gesellschaft sprechen kann, wenn diese zwar über eine formale Demokratie verfügt, ihr aber die gesellschaftliche Gleichheit fehlt. Die Dritte Welt ist für ihn diesbezüglich ein Negativbeispiel. Das heißt: "Viele Länder der Dritten Welt folgen dem Modell der westlichen politischen Demokratie und sind daran gescheitert, eine demokratische Gesellschaft zu formen. Hierarchie, Diktatur und Monopol existieren parallel zum demokratischen System". Das zeigt für Wang Hui, dass sich die Frage der Demokratie nicht eindimensional diskutieren lässt. Es müssen vielmehr Wege aufgezeigt werden, wie sich die Trennung des politischen Systems von der gesellschaftlichen Form überwinden lässt.

Die Beziehung zwischen demokratischem System und ökonomischer Struktur

Zwischen demokratischem System und ökonomischer Struktur besteht - das ist für Wang Hui ein wichtiges Resultat seiner Überlegungen - eine enge Beziehung. Das heißt: Ohne eine Demokratisierung der ökonomischen Struktur ist eine soziale Demokratie nicht möglich, geschweige denn eine sozialistische Demokratie. Deshalb kommt es neben der Gerechtigkeit der Verteilung durch das Steuersystem vor allem auch auf die Demokratisierung der Unternehmensverfassung an, d.h., auf die Beteiligung der Arbeitenden am Management. Auch bei allen Experimenten der sozialen und der Unternehmensdemokratie nach dem Zweiten Weltkrieg ging es, wie Wang Hui betont, um die gemeinsame Verwaltung und die gemeinsame Verfügung von Eigentümern, Managern und Arbeitern. Er folgert daraus, dass Unternehmensdemokratie plus Verteilungsgerechtigkeit unter der Kontrolle des Staates in etwa den Inhalt der Wirtschaftsdemokratie bilden. In der jetzigen durch den Siegeszug des Neoliberalismus verursachten Finanzkrise ist jedoch – so Wang Hui – die Wallstreet von der Finanzspekulation beherrscht. "Die Firmeneigentümer und das Management teilen sich die Spekulationsgewinne. Aber die schwerwiegenden Konsequenzen müssen von Gesellschaft und Staat getragen werden". Besonders dramatisch ist hier die Krise, in die die als Verteilungsgerechtigkeit verstandene Gleichheit geraten ist. Das zeigt für Wang Hui, dass das neoliberale Wirtschaftsmodell antidemokratisch ist.

Das "alte China" (Bild: AWFG_Berlin/Pixabay.com)

Das "neue China" (Bild: videoartlab/Pixabay.com)

Das Spannungsverhältnis zwischen Kapitalismus und Demokratie

Wang Hui zufolge zeigt aber nicht nur das neoliberale Wirtschaftsmodell, sondern die Geschichte des Kapitalismus insgesamt, dass die politische Demokratie nicht zwingend mit einer demokratischen Gesellschaftsform zusammenhängt. Das heißt: Eine (kapitalistische) Marktgesellschaft schafft von sich aus keine Ausgewogenheit. Hier würde vielmehr ohne rationale Regulierung, ohne Garantie durch das politische System, auch ohne gesellschaftliche Kämpfe für Gleichheit und Gerechtigkeit der Bruch zwischen der demokratischen politischen Form und der gesellschaftlichen Form zum Dauerzustand. Dieses Problem betrifft seiner Meinung nach nicht zuletzt auch China. Und zwar sollte China – so Wang Hui – das Erbe der Gleichheit rekonstruieren, das aus der chinesischen Revolution und aus der Geschichte des Sozialismus hervorgegangen ist.

Fazit

Für den chinesischen Sozialphilosophen Wang Hui muss Demokratie als politisches System und als Gesellschaftsform begriffen werden. Und zwar umfasst die Demokratie als politisches System das Wahlrecht, den Schutz der bürgerlichen Rechte, Meinungsfreiheit, Pluralismus etc. Der Kern der Demokratie als Gesellschaftsform ist Gleichheit, die sich in sozialer Sicherung, im Zugang zu öffentlichen Gütern für alle Bürger und in Umverteilung verkörpert. Beides zusammen macht die sogenannte soziale Demokratie aus. Wang Hui zufolge gehören also gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Demokratie untrennbar zusammen.

Bewertung

Dass ein chinesischer Intellektueller Stellung nimmt zum Zustand der westlichen Demokratie, wird für den einen oder anderen Angehörigen des westlichen Kulturkreises befremdlich sein, gilt China doch als Land mit einem zutiefst antidemokratisachen, autoritären Regime. Zudem ist Wang Hui kein Dissident. Doch auch in China ist, wie bereits in der Einleitung angedeutet, Einiges in Bewegung geraten. Mir persönlich hat an Wang Huis Schrift am besten gefallen, dass er einige Wahrheiten über die westliche Demokratie ausgesprochen hat, die in Diskussionen, die im Westen geführt werden, gerne "unter den Teppich gekehrt werden". Ich möchte deshalb diese Schrift Lesern empfehlen, die an ungewohnten Perspektiven auf die westliche Demokratie, und zwar aus der Sicht der Philosophie, interessiert sind. Die Schrift ist übrigens die gedruckte Version eines Vortrags, den Wang Hui im Kontext einer Veranstaltungsreihe, die vom Kulturforum der Sozialdemokratie veranstaltet wird, gehalten hat. Ergänzt wird der Text durch Stellungnahmen von führenden Sozialdemokraten und durch den Abdruck eines Podiumsgesprächs, in dem sich Wang Hui mit seinen Thesen der Diskussion gestellt hat.

Bildnachweis

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Autor seit 11 Jahren
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