Grundthese Wolfgang Meisenheimers

Weil wir ein Gefühl für die Schwerkraft auf unseren Körper und dessen aufrechte Haltung haben, können wir die Senkrechte und das Gleichgewicht auch bei anderen Objekten einschätzen. Wir haben in unserem Denken und Fühlen die physikalischen Gesetze verinnerlicht, die wir an unserem eigenen Leib erfahren. Dadurch können wir Kräfte und Zustände einschätzen, die auf andere Gegenstände wirken.

Dieser Vorgang ist im Übrigen unabhängig von der tatsächlichen Benutzung des Raumes. In der Türe ist das Hindurchgehen vorweggenommen, im Fenster das Hinausblicken- und zwar unabhängig von der Umsetzung in die Tat. Das heißt, eine Türe wirkt eng, auch wenn wir sie überhaupt nicht benützen - weil wir die Benutzung bereit im Geiste vorwegnehmen und einschätzen! 

Informationen zur Person


Professor Dr. Wolfgang Meisenheimer wurde 1933 geboren und studierte Architektur an der Technischen Hochschule in Aachen.

Seit seiner Dissertation zum Thema "Der Raum der Architektur; Strukturen, Gestalten Begriffe" wohnt und arbeitet er als freier Architekt in Düren. Von 1978 bis 1998 war er Professor an der FH Düsseldorf für das Lehrgebiet "Grundlagen des Entwerfens" und zugleich neun Jahre lang Dekan des Fachbereichs Architektur. Er hat zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten zu Grundphänomenen der Architektur verfasst, die sich vor allem mit Raum-Zeit-Strukturen beschäftigen.

 

Seine wichtigsten Publikationen sind "Choreografie des architektonischen Raumes" (1998) und "das Denken des Leibes und der architektonische Raum" (2004). Mit letzterem befasst sich der vorliegende Artikel. Der Artikel orientiert sich an der Abfolge der Themen im Buch, wobei zugunsten der Komprimierung auf Wesentliches einige Kapitel ausgelassen sind.

Konstruktion von Atmosphären - Der Raum erinnert den Körper an das Repertoire seiner Gesten.

Das Entwerfen ist ein ständiger Wechsel zwischen erfindendem, wahrnehmendem, ordnendem und rationalem Tun. Das dabei entstehende Repertoire der Architekturgesten korrespondiert mit dem uns eigenen Repertoire an Raumerfahrungen des Leibes. Der Raum enthält potentielles Tun, zugleich wird unser Körper an das ihm zur Verfügung stehende Repertoire an Gesten erinnert.

Begriffserklärung

Architektonischer Raum

Der architektonische Raum im Sinne Meisenheimers ist nicht nur die uns physisch umgebende Räumlichkeit. Vielmehr ist es der Raum, den wir als Ganzes wahrnehmen. Das heißt es handelt sich um die Gesamtheit aus architektonisch gebautem Raum und dem sogenannten Erlebnisraum. Der Erlebnisraum ist der gefühlte Raum, in dem sich Erinnerung, Atmosphäre und subjektives Empfinden mischen.

Damit wird klar, dass an ein und demselben Ort von unterschiedlichen Personen niemals derselbe architektonische Raum erlebt wird. 

Der Körper als Messinstrument

Jeder Mensch hat eine Vorstellung davon, wie sein Körper von Außen aussieht, kann sich ihn als geometrisches Gebilde vorstellen. Wir wissen um die Abmessungen unserer Gliedmaßen und die Beweglichkeit der Gelenke. Wir haben also ein Bild davon, wie sich unser Leib im Raum bewegt. Damit ist der menschliche Körper ein Messinstrument für unsere Möglichkeiten in unserem Umfeld.

Meisenheimer nennt dieses Bewusstsein eines jeden um den eigenen Leib das "Körperschema".

Enge. Weite.


Das Gefühl des Raum-einnehmen-könnens und Nicht-einnehmen-könnens gehört zu den grundlegenden Erfahrungen unseres Körpers.

Dabei erleben wir oft Enge und Weite nicht als bloße Zustände, sondern als Vorgänge, die des Dehnens und Pressens. Empfunden wird besonders intensiv der Übergang. Nie ist das Gefühl der Weite einer Halle so groß wie im Moment des Betretens durch eine schmale Öffnung. Dabei ist auch bei diesem Urphänomen der Leib das Messinstrument des Geistes.

Körpertechniken

Der Leib verhält sich in Abhängigkeit des ihn umgebenden Raumes.

Dieses Verhalten des Körpers in der umgebenden Architektur sind die Körpertechniken. Diese sind individuell völlig verschieden und abhängig von zahlreichen Faktoren. Einerseits gibt es statische Faktoren wie Alter, Geschlecht, Kulturkreis, andererseits wechselnde Einflüsse wie persönliche Stimmung oder körperliche Verfassung.

Die Gesellschaft schränkt durch Normen und Verhaltensregeln unser Bewegungsrepertoire erheblich ein. Entsprechend reagiert die Architektur und bietet hauptsächlich Möglich- keiten für diese reduzierten Bewegungsmuster an. Dem kontrollierten Körper wird der kontrollierte Raum gegenübergestellt, der bestimmte Verhaltensmuster unterstützt bzw. verhindert. Daher gibt es bei uns keine Zimmer mit nur 1,40 Meter Höhe, weil auf dem Boden knien in Mitteleuropa eine nicht erwünschte Haltung ist. Bei den Dogon, einem Ureinwohnerstamm in Afrika jedoch tagt der Ältestenrat in genau einem solchen Raum, da die Stammesältesten in hockender Haltung beraten sollen.

Ausblicke. Durchblicke.

Architektonische Räume spielen mit der Lust auf Weite.

Die Erfahrung der Weite ist für uns entscheidend, da sie das Sich-orientieren beinhaltet. Wir suchen Fixpunkte in der Ferne, um die geschlossenen Räumlichkeiten in einem inneren Koordinatenfeld zu positionieren und auszurichten.

Der freie Blick vermittelt Sicherheit und Kontrolle, währen der versperrte Blick Ohnmacht beinhaltet. Im islamischen Raum wird dies bewusst als Stilmittel der Macht eingesetzt. Die dortigen Paläste spielen subtil mit dem Thema des Zeigens und Verbergens mithilfe von vergitterten Fenstern und durchscheinenden Vorhängen. So zeigt die versperrte Sicht auf den Herrscher oder auf Heiligtümer z.B. die Grenzen des Untertanen auf.

Das Erleben der Öffnung und Weitung wird umso intensiver, je sparsamer die Öffnungen auftreten. Tadao Ando zum Beispiel weiß meisterhaft mit sparsam gesetzten Lichtöffnungen umzugehen, die dadurch ungeheuere Intensität erlangen.

Zu beachten ist auch, dass die im Fenster sicht- bare Landschaft in aller Regel nicht als potentieller Bewegungsraum im Meisenheimerschen Sinne verstanden wird, sondern lediglich eine Blicklandschaft ist.

Suggestive Mitte.

Jeder Mensch sucht die Symmetrie.

In allen Kulturkreisen lässt sich die Orientierung der Menschen an vorhandenen Symmetrien beobachten. Welchen Grund hat diese Fixierung auf die Mittelachse, die doch keinem erkennbaren Zweck folgt? Meisenheimer stellt die Theorie auf, dass der Auslöser die in unserem Körper angelegte Symmetrie ist. Unser ganzes Erleben, die Bewegung der Arme und Beine, das Sehen und Hören, bis hin zur Reizverarbeitung in zwei Gehirnhälften, basiert auf den zwei gleichen Seiten unseres Körpers. Unwillkürlich versuchen wir uns zu einem Symmetrischen Gebilde in Beziehung zu setzen, indem wir die zwei Spiegelachsen zur Deckung bringen.

Mein Zimmer

Mein Zimmer ist mein Ich im ausgebreiteten Zustand.

Im Grunde ist jede Raumeinrichtung nur eine Ansammlung von Gegenständen. Für denjenigen, der das Zimmer bewohnt aber, ist jeder dieser Gegenstände verknüpft mit einer Geschichte. Jeder Gegenstand in meinem Zimmer hat eine emotionale Verknüpfung über eine Erinnerung, die nur ich und wenige andere kennen. Geist und Körper erinnern sich an Vorgänge, die mit den Objekten zusammenhängen. Das eigene Zimmer ist also ein Raum, dessen Inhalt sowohl die Vergangenheit, als auch die Gegenwart, als auch die potentielle Zukunft enthält. Der größte Anteil des architektonischen Raumes "mein Zimmer" ist daher Vorstellungsraum. Für Fremde bleibt es eine Sammlung von Dingen ohne Bezug. Das erklärt auch, warum eine Möbelausstellung immer kalt und leblos wirken muss. Ihr fehlt das Netz aus Handlungsfäden, das die Dinge mit dem Betrachter verbindet.

Das Fremde

Fremd ist, was wir nicht in unserer Körpererfahrung abrufen können.


Etwas, das wir noch nie benutzt haben, das unser Körper noch nie vermessen hat, ist uns fremd. Zugleich sind uns Dinge vertraut, die wir noch nie gesehen haben, wenn sie bekannt scheinende Bewegungsräume und –muster implizieren. Ein Tisch oder ein Stuhl beinhalten in unserer Körpererfahrung ein bekanntes Bewegungsrepertoire. Sie kommen uns also vertraut vor, auch wenn wir diesen speziellen Stuhl nie zuvor gesehen haben.

Eine Ausnahme bilden Designmöbel, die mit den bekannten Merkmalen so ungewohnt umgehen, dass dies Irritationen auslöst. Der Reiz für unser Körpergefühl besteht darin, Bekanntes mit Lücken zu erkunden, Neues zu entdecken, das in gewisser Weise bekannt vorkommt. Ist die Hemmschwelle niedrig genug, so lädt das Objekt zum Probieren ein. Ein Wohnumfeld, das mit den bekannten Mustern spielt und sie variiert, ist demnach besonders interessant.

Cyberspace

Die Entkoppelung von Sinneswahrnehmung und Körpergefühl.

Der Mensch hat im Laufe seiner Geschichte viele Möglichkeiten erfunden, sein Wahrneh- mungsvermögen über die körperlichen Grenzen hinaus zu erweitern. Ferngläser und Telefone sind nur die einfachsten Beispiele. Die Entwicklung des Cyberspace birgt insofern keine völlig neue Entwicklung in sich. Dennoch ist die Trennung zwischen der Wahrnehmung durch unsere Sinne und der Erfahrung des Resultats in Form von Kräften auf unseren Körper neu, zumindest in dieser umfassenden Dimension.

Der Wahrnehmungsraum dehnt sich enorm aus, unter Umständen werden bei neuerer Technik außer Optik und Akustik auch der Geruchssinn mit einbezogen. Gleichzeitig schrumpft der Bewe-gungsraum auf ein Minimum, beschränkt sich eventuell auf die Armbewegung und das Klicken mit der Maus. Dies hat unter Umständen die bedenkliche Folge, dass wir Teile unseres Körpergefühls verlieren.

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