Der Fall Maria Schmidt - Ein "Vampir" mordet im Herzen von Wien
Im Frühsommer 1913 schnürte ein Unbekannter der Prostituierten Mizzi Schmidt im Wiener Hotel "Zum Römischen Kaiser" die Kehle zu und biss sie in den Hals. Verhaftet wurde der "Vampir" von Wien nie.Der Vampir kam von hinten
Eine Frau, von annähernd dreißig Jahren, lag rücklings auf dem Hotelbett, vollständig bekleidet. Nur die drei obersten Knöpfe der Bluse, welche von hinten zu schließen war, standen offen. Die Leiche wies kaum sichtbaren Zeichen von Gewalteinwirkung auf. Schwache Male an der Kehle sowie den Seiten des Halses deuteten allerdings auf die Art des Ablebens hin. "Tod durch Stickfluss", vermerkte der Arzt in seinem Protokoll. Ob das Opfer allerdings erwürgt oder erdrosselt, also mit bloßen Händen oder mit Hilfe eines Werkzeuges vom Leben zum Tod befördert worden war, wollte der Mediziner nicht ohne weitere Obduktion festlegen. Einigen konnte man sich hingegen rasch auf den Tathergang. Der Mörder öffnete seinem Opfer, welches mit dem Gesicht zum Bette stand, die Bluse, packte die Frau von hinten und brachte sie durch das unbamherzige Zuschnüren der Kehle zu Tode.
An dieser Stelle tritt ein seltsames Detail zutage, das bei der Presse für Aufsehen sorgte. Neben den erwähnten Malen am Hals der Toten echauffierte man sich über eine geheimnisvolle Bisswunde im Halsbereich, die tief bis ins Fleisch gereicht haben soll, und dem Täter rasch den Beinahmen "Vampir von Wien" eintrug.
Der Fall Maria Schmidt sorgte für großes Aufsehen in Wien, allerdings weniger durch die Tat selbst – Morde an Prostituierten hatte es in der überfüllten Residenzstadt immer wieder gegeben – sondern vielmehr durch ein seltsames Versteckspiel des mutmaßlichen Täters mit der Behörde, welches sich über Jahrzehnte hinziehen sollte.
Tatsächlich war der Tatverdächtige sowohl beim Betreten des Hotels vom Nachtportier gesehen worden, als auch beim Verlassen des Zimmers von einem Dienstmädchen. Die Polizei verfügte rasch über detaillierte Beschreibungen des Verdächtigen und konnte in mühevoller Kleinarbeit auch die letzten Stunden Maria Schmidts erstaunlich gut rekonstruieren.
Mit Anzug und Lackschuhen
Demnach hatte der Arbeitstag Marias, die unter dem Spitznamen " reiche Mizzi" allgemeine Bekanntheit genoss, gegen neun Uhr abends begonnen. Kurz vor zehn ließ sich ihre Spur in das Hotel "City" verfolgen, gegen Mitternacht betrat sie mit einem weiteren Freier das Hotel "Modern". Aloisia Belnar, eine weitere Vertreterin der Zunft, legte zusammen mit Maria im Cafe l Éurope eine Arbeitspause ein. Um ca. zwei Uhr Morgens treffen wir Maria Schmidt noch einmal im Stadtzentrum, direkt vor dem Stephansdom, beim Stock-im-Eisen-Platz. Dort kaufte sie sich Äpfel. Zu diesem Zeitpunkt wurde sie von einem weiteren Mann angesprochen, mit dem sie sich in das Hotel "Römischer Kaiser" zurückzog. Gegen 3 Uhr Morgens war die "reiche Mizzi" tot.
Der Spitzname Marias, den Kolleginnen ihr verliehen hatten, beschrieb die Verhältnisse der jungen Frau offenkundig. Denn im Gegensatz zu vielen anderen Prostituierten jener Tage konnte es sich die Mizzi leisten echten Goldschmuck zu tragen, was zweifelsohne Neid und Missgunst schürte. Die Polizei ermittelte daher auch in die Richtung eines Raubmordes, musst allerdings rasch feststellen, dass nichts von Wert abhanden gekommen war. Dass Arbeit und Privatleben strikt getrennt wurden, demonstrieren die Wohnverhältnisse des Prostituierten: Maria Schmidt besaß eine schmucke Wohnung im vierten Wiener Gemeindebezirk, die niemals von Freiern betreten wurde. Was Maria tat, tat sie in den Strassen von Wien. Sie genoss das große Privileg unter den Herren wählen zu können, und so mancher Galan bezahlte für die süßen Dienste eine dreistellige Summe.
Das fachkundige, überwiegend männliche Publikum begleitete Maria Schmidt auch einige Tage später auf ihrem letzten Weg zum Zentralfriedhof in großer Zahl, nebst Berufskolleginnen und Schaulustigen. Der Trauerzug war lang. Einig war man sich darin, dass die Verstorbene eine Frau von Welt gewesen sei, keine der billigen Praterhuren, wie man sie nach Einbruch der Dunkelheit hinter Büschen und Bäumen verschwinden sehen konnte.
So wurde aus der Einsicht, dass Maria ihren Lebensunterhalt als Edelprostituierte bestritten hatte, die Theorie abgeleitet, dass auch der Mörder ein Mann von Welt sein müsse, oder zumindest ein Mann mit Geld. Und tatsächlich beschrieben die beiden Zeugen im Hotel "Römischer Kaiser" den Begleiter der Schmidt als gut gekleidet, der im dunklen Anzug vorstellig wurde, mit weichem, braunen Hut und auffällig schönen Lackschuhen. Fünfundzwanzig bis achtundzwanzig Jahre soll er alt gewesen sein und der deutschen Sprache mächtig.
"Das Frauenzimmer will noch schlafen.."
Insbesondere das Dienstmädchen der Etage, ein Fräulein Pogacnik, hatte die Möglichkeit, den mysteriösen Fremden etwas genauer zu betrachten. Schon knapp dreißig Minuten nachdem das Paar in Zimmer Nummer achtzehn verschwunden war, wurde nach Personal geläutet. Als das Dienstmädchen klopfte, trat der Unbekannte aus dem Raum, wies Pogacnik an die beiden Wasserkrüge des Zimmers zu füllen und gab dem Stubenmädel eine Krone mit dem Hinweis, dass das Frauenzimmer noch etwas zu schlafen wünsche. Man solle es nicht vor dem Morgen wecken. Dann verschwand der Mann mit den glänzenden Schuhen in der lauen Nacht des Frühsommers. Erst als das Dienstmädchen geraume Zeit später in Zimmer neunzehn, welches mit Nummer achtzehn durch einen Vorraum verbunden war, zu tun hatte, und einen Lichtschein im Nebenzimmer bemerkte, getraute es sich zu klopfen.
"Du hast mir gesagt, ich kann.."
Tausend Kronen wurden auf den Mörder der Maria Schmidt ausgelobt, man ging weit über hundert Hinweisen nach, ohne dem Täter näher zu kommen. Im Handtäschchen der Ermordeten wurde unter anderem auch die Visitenkarte eines jungen Mannes aus besserem Hause gefunden, welcher auf der Rückseite die Worte "Du hast mir gesagt, ich kann...Da hast du es!" vermerkt hatte. Verständlich, dass die Polizei sich für dieses Indiz interessierte und im Zuge der Ermittlungen auch gleich einen Skandal auslöste. Der Sohn eines bekannten Fabrikanten aus Wien konnte seine Unschuld zwar glaubhaft belegen, der Familienclan war ob der abendlichen Aktivitäten des Nachwuchses hingegen weniger begeistert. Überhaupt brachten die Ermittlungen der Polizei eine Vielzahl höchst delikater Einzelheiten ans Licht, sodass mancher Freier um Ruf, Ehre und vor allem Ehe zittern musste. Die Wiener Presse lauerte auf jedes Detail, das im Zuge der Ermittlungen durchsickerte.
Ein Verdächtiger wird verhaftet
Die "Neue Zeitung" titelte in ihrer Ausgabe vom 13. Februar 1914 in großen Lettern: "Der Mörder der Mizzi Schmidt in Prag verhaftet – Geständnis eines Hoteldiebes". Ein gewisser Leopold Sochor, geboren 1890 in Wien, wurde nun einem sensationshungrigen Publikum als Täter präsentiert. Sochor, ein Trickbetrüger, der als vermeintlicher Bahnbediensteter in schicker Uniform auf Beutefang gegangen war, legte ein umfangreiches Geständnis ab. Immer wieder habe er auch Prostituierte bestohlen und sei mit den Damen daher häufig in Streit gelegen. Anhand von Lackschuhen, sowie Teilen des rechten Daumenabdrucks wollte man ihn überführen. Es stellte sich allerdings bald heraus, dass Sochors Daumen wesentlich besser zu einem völlig anderen Delikt, nämlich dem Mord an der Prostituierten Anna Muhr passte, die in Josefstadt am 19. Jänner 1914 umgebracht worden war. Hatte man mit der Überschrift in der "Neuen Zeitung" noch die Festnahme des gefährlichen Mörders der Mizzi Schmidt gefeiert, so musste man sich im Mittelteil des Artikels bereits eingestehen, dass Sochor, wenn gleich nicht unschuldig, vielleicht doch der falsche Malefizbube sein könnte. Schließlich endete der Bericht mit der Frage, ob Leopold Sochor gar ein falscher, quasi ein Künstlername, sein könnte, und gab an, im Fall Schmidt keinen Deut weiter gekommen zu sein. Der interessierte Leser wurde also abermals der Unwissenheit preisgegeben. Nur ein Artikel von vielen, in dem Spekulation und Mutmaßung Qualitätsjournalismus gegenüber der Vorzug gegeben wurde.
Im lauten Rauschen des Blätterwalds konnte man vor allem eine Stimme vernehmen, die auch heute noch Gewicht hat. Karl Kraus, der berühmte bunte Vogel Wiens, welcher stets sein Nest beschmutzt, griff mit äußerst spitzer Feder den Fall Schmidt auf, darum bemüht, politische Seitenhiebe auf die österreichische Medienlandschaft nicht zu vermeiden. Er schrieb:
"Eine Zeitung, die im Gegensatz zur Mizzi Schmidt nicht zeitweise von einem Offizier, sondern ständig vom Minister des Äußern ausgehalten wird, ist mit voller Verachtung am Werke. Sie nennt den Prostituiertenmord »das scheußlichste aller Verbrechen«, aber natürlich nicht, weil dabei eine Prostituierte ermordet, sondern weil eine Prostituierte ermordet wird. Würde an einem Wucherer ein Verbrechen begangen, der Stand hätte keine Perlustrierung zu fürchten. Der Mord im Hotel zeigt tiefere Gefahr: Hütet euch vor den Prostituierten! Hier hat alles Perspektive, und in den Zeiten der Wahlprostitution, da sich herausstellt, daß ein liberaler Wähler fünf Gulden kostet, erscheint der Nachweis, daß Mädchen nicht teurer sind, erheblich."
An anderer Stelle läßt Kraus es sich nicht nehmen zum Schlag gegen die Scheinmoral der Wiener Gesellschaft auszuholen:
"Nehmt euch in Acht vor euch! Es ist ja alles Lüge, was ihr treibt; wahr seid ihr nur im Bett! Weil aber eure Wahrheit euern Weibern nicht genügt, so lügt ihr. Ihr lügt, ihr speit sie an, ihr treibt sie auf die Straße, damit ihr vor ihnen die gute Stube voraushabt, in der eure Ehrbaren modern. Denn auch ihnen, den einmal nur fürs Leben Prostituierten, den euch allein und stets nur einmal Prostituierten, genügt die Ehre nicht. Sie möchten auf die Straße und ihr macht aus Wut die draußen nur noch schlechter. Ihr seid zu feig, die draußen und die drin gleich auf der Stelle zu ermorden. Mir wollt ihr eure Ehre vormachen? Eure Stimmen kenne ich, eure Kehlköpfe habe ich nachts auf meinem Schreibtisch und droßle sie, weil sie den einzigen Wohllaut, den Gott erschaffen hat, erdrosselt haben. Seit euch im Hals der Adamsapfel steckt, schiebt ihr es auf das Weib. Nun lügt weiter! Lacht, Kehlköpfe krächzt, Kahlköpfe quiekt, grölt, flucht, Kohlköpfe! Weiter! Erkennt, daß nur die Weiber nackend sind, schämt euch für sie und nicht für euch! Glaubt weiter, ein Kondukt von Prostituierten sei weniger wert die Ehre zu erweisen, die ihr die letzte nennt und die die erste ist, die Menschlichkeit, seit der Geburt entstellt zur Bürgerfratze, seitdem sie lebt der Menschlichkeit erweist. Glaubt, daß ein Zeitungs- und Regierungsrat, der auf den Tod von reichen Juden lauert, um von den Partezetteln Zins zu nehmen, Gott mehr gefällt als eine arme Hure, die nichts ihm zu verdienen gab, als sie gestorben war."
Lixi, der Mörder
Ein brauchbarer Hinweis auf den wahren Mörder flatterte der Polizei erst zehn Jahre später in das Kommissariat, zu einer Zeit, als der große Krieg das Interesse am Fall Schmidt längst fort gewaschen hatte, zusammen mit den Schicksalen unzähliger anderer Menschen.
Ein anonym gehaltener Brief bezichtigte einen gewissen Felix Kundegraber der Tat. Das Schreiben enthielt Details, die man heute wohl als "Insiderinformationen" bezeichnen würde. Nicht alles, was darin erläutert wurde, passte genau ins Bild, doch kannte der Verfasser offensichtlich genug Details um den Akt erneut zu öffnen. Kundegraber allerdings hatte Wien bereits im Jahre 1913 verlassen und war, so schien es, niemals zurückgekehrt. Genauere Erhebungen allerdings zeigten recht bald, dass der Lixi, wie man ihn im Kreise der Familie liebevoll nannte, sehr wohl den Weg nach Hause gefunden hatte, um seine Verwandten zu besuchen. Auch habe er sich einigen Personen schon vor vielen Jahren anvertraut, sein Gewissen erleichtert und im Kreise der Familie einen Plan ausgeheckt, um der Justiz entgehen zu können: Felix Kundegraber verwandelte sich in Felix Gerbauld, einen Neffen, der zunächst in die französische Fremdenlegion eingetreten war und später, nach Annahme der französischen Staatsbürgerschaft, in Marseille eine Familie gegründet hatte. Die Ehefrau wusste nichts von der dunklen Vergangenheit ihres charmanten Gatten, auch Lixis Eltern hatte sie niemals kennengelernt, obwohl diese bei der Hochzeit anwesend waren. Anonym hatte sich Familie Kundegraber unter die Hochzeitsgäste gemischt und ihrem Sohn am schönsten Tag des Lebens augenzwinkernd zugeprostet.
Die Wiener Polizei allerdings ließ nicht locker und erwirkte nach Monaten des Verhandelns mit den französischen Behörden einen Haftbefehl. Die Auslieferung hingegen gestaltete sich als schwierig. Kundegraber, alias Gerbauld, war Franzose, die Staatsbürgerschaft hatte er durch die fünf Jahre in der Fremdenlegion rechtmäßig erworben. Somit hatten die österreichischen Behörden trotz internationaler Abkommen keine Handhabe.
Ausgeliefert wurde Kundegraber nie. Auch der Versuch, die Namensänderung als unrechtmäßig zu entlarven, wodurch der französische Pass seine Gültigkeit verloren hätte, scheiterte. Der Mord an Maria Schmidt blieb ungesühnt, Kundegraber ein freier Mann.
Nach Jahren tauchte ein schriftliches Geständnis Felix Kundegrabers auf, in welchem er die Bluttat zugab. Unterschieben war das Schriftstück mit "Lixi, der Mörder".
Allerdings hegte man auch daran Zweifel. Kundegraber, der ein großer Prahler gewesen sein soll und stets großes Interesse an Kriminalgeschichten gehabt hatte, hätte nur das Interesse an der eigenen Person steigern wollen, so hieß es.
Mord oder Unfall?
In den Jahren die folgten, musste sich die Polizei noch diversen Spuren widmen, ohne der Lösung des Falls näher gekommen zu sein. Schließlich entbrannte eine kuriose Diskussion darüber, ob Mizzi Schmidt überhaupt ermordet, oder vielleicht Opfer eines Blutgerinsels als Folge einer Operation im Nasenbereich geworden war. Vielleicht hatte Kundegraber, alias Gerbauld, Maria Schmidt noch bei guter Gesundheit verlassen und vom Tod der Frau erst durch aus der Presse erfahren, so mutmaßte man. Der Obduktionsbericht, viele Jahre zuvor geschrieben, hatte nichts von einer Nasenoperation erwähnt, völlig ausschließen ließ sich ein natürlicher Tot allerdings auch nicht. Ähnlich wie der Polizeiarzt im Hotel, hatten sich auch die beiden Pathologen bei der Obduktion nicht auf eine eindeutige Art und Weise des Sterbens festlegen können, zumal Luftröhre und andere innere Strukturen unversehrt geblieben waren.
Zimmer Nummer achzehn gibt es nicht
Ein Umstand, der bis heute die Fantasie diverser Verschwörungstheoretiker anregt, sei in Zusammenhang mit dem Tod der Maria Schmidt noch erwähnt:
Der Mord an der Prostituierten hatte sich in Zimmer Nummer achtzehn zugetragen, in einem Raum, der nach heutigem Stand der Dinge nicht existiert. Zwar besitzt das Hotel insgesamt 24 Gästezimmer, eine Türe mit dem Schild Nummer achtzehn wird man allerdings vergeblich suchen. Eine Erklärung für das Fehlen des Zimmers kann das heute in dem Haus angestellte Hotelpersonal übrigens nicht geben, auch wenn anzunehmen ist, dass man die Räume ob des großen medialen Echos damals schlicht umbenannt hat.
Dieser Artikel ist Teil des Projektes "Malefizgeschichten - Böses aus der guten, alten Zeit".
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tedknudsen /Flickr
(Die Amish-Glaubensgemeinschaft in Amerika)