Kann ein Richter in der Hauptverhandlung objektiv sein?

Hat die Staatsanwaltschaft in einem Strafverfahren gegen den Beschuldigten Anklage erhoben, folgt damit nicht automatisch das Hauptverfahren mit der öffentlichen Hauptverhandlung. Zuvor muss das Gericht die Klage prüfen. Nur wenn es ebenfalls – wie die Staatsanwaltschaft – der Auffassung ist, dass der Angeschuldigte hinreichend tatverdächtig ist, eröffnet es das Hauptverfahren. Diese Regelung der StPO soll verhindern, dass es in einem Strafverfahren vorschnell zur Hauptverhandlung kommt. Hinreichend tatverdächtig ist der Angeschuldigte, wenn seine Verurteilung nach der gegenwärtigen oder noch zu erwartenden Sach- und Rechtslage wahrscheinlicher ist als ein Freispruch.

Das Problem: Das Gericht entscheidet in einem Strafverfahren nicht nur im Zwischenverfahren, sondern auch in der späteren Hauptverhandlung. Kann ein Richter, der zuvor eher von der Verurteilung des Angeschuldigten ausgegangen ist, in der Hauptverhandlung noch unvoreingenommen sein? So zumindest sieht es die StPO vor. Nach § 261 StPO muss das Gericht nach seiner "freien, aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung geschöpften Überzeugung" entscheiden. Es zählt also allein die Hauptverhandlung.

Was aber passiert, wenn das Gericht bereits im Zwischenverfahren nach dem Studieren der Akte fest von der Schuld des Angeschuldigten überzeugt ist? Wie wird es auf neue, entlastende Beweise in der Hauptverhandlung reagieren? Wie wird es verschiedene Beweisanzeichen interpretieren – unabhängig oder eher zu Lasten des Angeklagten? Kann ein Richter überhaupt in dem Maße objektiv sein, wie es die StPO von ihm verlangt?

Der Inertia-Effekt: Es kann nicht sein, was nicht sein darf

Es ist eine Situation, wie sie die meisten Menschen wohl schon erlebt haben. Jemand beharrt hartnäckig auf seiner Meinung, obwohl mittlerweile alles dafür spricht, sie zu ändern. Die Sozialpsychologie bezeichnet diese Erscheinung der Trägheit, sich auf neue, abweichende Informationen einzulassen, als Inertia-Effekt. Warum fällt es uns manchmal so schwer, von dem abzurücken, was wir uns einmal in den Kopf gesetzt haben? Nach der Theorie der kognitiven Dissonanz entsteht eine unangenehme psychische Spannung, wenn Kognitionen miteinander in Widerspruch geraten. Kognitionen sind die Vorstellungen einer Person von der Welt: Gedanken, Wertvorstellungen, Handlungen und Einstellungen. Um diese Spannung zu verringen, nimmt man Dinge nur noch selektiv wahr. Der Inertia-Effekt ist also eine durchaus nützliche und zutiefst menschliche Reaktion.

Wie gefährlich ist der Inertia-Effekt im Strafverfahren? Mit der Entscheidung im Zwischenverfahren, das Hauptverfahren zu eröffnen, trifft das Gericht zwar noch keine endgültige Entscheidung darüber, wie der Prozess ausgehen wird. Diese Vorentscheidung führt aber dazu – so die Theorie –, dass Richter Informationen in der Hauptverhandlung selektiv wahrnehmen, um nicht in Widerspruch zur eigenen Hypothese zu geraten. Sprechen Beweise oder Indizien für die eigene Vorentscheidung, werden sie überschätzt, sprechen sie dagegen, werden sie unterschätzt.

Wie schätzt die Wissenschaft die Befürchtungen ein, der Inertia-Effekt wirke sich im Zusammenspiel mit den rechtlichen Vorgaben der StPO auf die Objektivität des Gerichts aus? Empirische Studien konnten bislang keine Klarheit darüber geben, ob und wie sich der Inertia-Effekt auf Entscheidungen in Strafverfahren auswirkt. Die Zweifel, dass Richter den hohen Anforderungen der StPO an seine Objektivität gerecht werden können, bleiben also. Eine mögliche Lösung: Ein und derselbe Richter sollte nicht länger sowohl im Zwischenverfahren als auch im Hauptverfahren entscheiden dürfen.

Verwendete Literatur:

Degener, W. (2002). Zum Fragerecht des Strafverteidigers gem. § 240 Abs. 2 StPO. Strafverteidiger (StV), 11, 618-626.

Mann, L. (1999). Sozialpsychologie. Weinheim und Basel: Beltz Verlag, S. 165-198.

Titelbild: Gerd Altmann / pixabay.com

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