Der Schüler Gerber: Roman von Friedrich Torberg
Für den intelligenten Schüler Kurt Gerber wird die Reifeprüfung zum Martyrium. Langsam, aber sicher zermürben ihn der sadistische Klassenvorstand und eine unerwiderte Liebe.Die Schule als Spiegelbild des Lebens
Wien in der Zwischenkriegszeit. Für einige der Schüler am Realgymnasium XVI ist das entscheidende Jahr angebrochen: In wenigen Monaten werden sie der Reifeprüfung unterzogen, die bei nicht Wenigen über Gedeih und Verderb entscheiden kann. Denn es geht um weit mehr, als einen Schulabschluss: Um den Eintritt in eine Beamtenlaufbahn beispielsweise oder, wie im Falle des ebenso intelligenten wie sensiblen Kurt Gerber um den Beweis, auch widrigsten Umständen tapfer widerstehen zu können.
Denn das Schicksal meint es ausgerechnet im Maturajahr nicht allzu gut mit Kurt: Sein schwer arbeitender Vater laboriert an Herzproblemen, seine Liebe zur Mitschülerin Lisa Berwald ist offenbar hoffnungslos und zu allem Überfluss erhält seine Klasse einen neuen Vorstand: Artur Kupfer, auf dem Gebiet der Mathematik eine anerkannte Kapazität, auf sozialer Ebene eine traurige Figur, deren einziger Lebensinhalt im Schikanieren der ihm machtlos ausgelieferten Schüler zu bestehen scheint.
Rasch entspinnen sich erste, kleinliche Grabenkämpfe zwischen dem als "Gott Kupfer" ehrfurchtsvoll-spöttisch betitelten Professor und dem unangepassten Kurt Gerber. Kupfers Vorteil besteht in des Schülers mathematischer Schwäche. Der Lehrer setzt alles daran, das "aufmüpfige Früchtchen" genussvoll mit seinen sadistischen Spielchen zu zermürben. Aber Gerber denkt gar nicht daran, klein beizugeben und nimmt den ungleichen Kampf auf, der seinen Tribut fordert: Der Genuss der einst süßen Zerstreuungen des Lebens wie Literatur oder Konzertbesuche leidet unter den stetigen Auseinandersetzungen mit "Gott Kupfer", bis das Drama im unvermeidlichen Schlussakt mündet: Dem Tag der Reifeprüfung, an dem der Mathematikprofessor zum finalen Schlag ausholt...
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Reif fürs Leben?
Wohl jeder, der mehr als die Klatschspalten oder Bieretiketten liest, kennt dieses seltsame Gefühl, eine ganz besondere Geschichte gelesen zu haben, die ihn nie wieder loslässt. Sei es, weil manche Szenen beängstigend bekannt erscheinen, sei es, weil die Charaktere auf unvergleichliche Weise berühren. In meinem Fall zählt Friedrich Torbergs "Der Schüler Gerber" zu diesen Werken, was vor allem an der zentralen Frage des Romans liegt: Wer entscheidet über die "Reife" anderer?
Der überaus kluge Schüler Gerber ist ohne Zweifel reif, auch ohne schulamtliche Bestätigung dessen. Dennoch zählt in seiner Welt ein Stück Papier mehr, als die dahinter stehende Person. Ein - leider - nach wie vor gültiges Dilemma: Menschen werden nicht als Individuen betrachtet, sondern kategorisiert, eingeordnet und schlussendlich schubladisiert. Allzu viel hat sich somit gegenüber dem in "Der Schüler Gerber" beschriebenen Wien der Zwischenkriegszeit bis heute nicht geändert. Wichtig ist nicht, wer man ist und wofür man steht, sondern der aufgedrückte Stempel anmaßender Bürokraten.
Traue keiner Autorität: Friedrich Torberg
Torberg, der bürgerlich Friedrich Ephraim Kantor hieß, verfasste das Manuskript auf der Basis eigener, schmerzhafter Erfahrungen an der Schule. Ironischerweise wurde ihm selbst beim ersten Antreten zur Matura 1927 die "Reife" verweigert. Dessen ungeachtet avancierte er zu einem der bekanntesten Schriftsteller Österreichs, den ein damals typisches Schicksal ereilte: 1933 wurden seine Werke in Nazi-Deutschland verboten, später musste er auf Grund seiner jüdischen Herkunft emigrieren.
Seine tiefe Abneigung gegenüber Autoritäten und der Systeme, denen sie entsprangen, schimmert gerade in "Der Schüler Gerber" unverhohlen durch. "Gott Kupfer", Offizier im Ersten Weltkrieg, wird außerhalb der Schulanstalt von niemandem in dem von ihm erhofften Maße geachtet und poliert sein geringes Selbstvertrauen damit auf, die ihm ausgelieferten Schüler zu drangsalieren. Dabei gelingt Torberg die Zurschaustellung eines im Grunde genommen lächerlich schwachen und im zwischenmenschlichen Verhalten schäbigen Charakters meisterlich. Auch wenn der Leser mit Artur Kupfer nicht sympathisieren kann, so werden seine Motive und Ansichten plastisch und geradezu greifbar geschildert.
Plastische Charaktere
Dermaßen wuchtig und schillernd ist diese Figur geraten, dass der eigentliche Protagonist Kurt Gerber szenenweise hinter der übermächtigen Gestalt des Schuldespoten zu verschwinden droht. Aber auch seine Gefühlswelt tritt transparent hervor und Torberg zeichnet das Porträt eines hoffnungslos romantischen Kämpfers an nicht zu gewinnenden Lebensfronten. Tapfer widersetzt er sich den kleinen und großen Gemeinheiten des an der Schule "Gott" Geheißenen. Mit demselben Idealismus wirbt er um die Gunst der selbstbewussten Lisa, die sich ausgerechnet ihm, der sie leidenschaftlich liebt, verweigert. Ihre Motive bleiben trotz der auktorialen Erzählweise, bei der dem Leser die Gedanken und Gefühle der Figuren direkt vermittelt werden, meist unklar und geraten ins Fahrtwasser der in älteren Romanen typischen "störrischen" jungen Frau, die eigentlich nur einen richtigen Kerl an ihrer Seite bräuchte, um zur Räson gebracht zu werden.
Trotz des ernsthaften Plots und der vielen Demütigungen und Niederlagen des tragischen Helden, lockern - mitunter erstaunlich derbe - Witzeleien und köstliche Dialoge das Drama immer wieder auf. Mag die Sprache stilistisch an einigen Stellen auch veraltet erscheinen: Die Handlung selbst und die beiden Protagonisten sind von schierer Zeitlosigkeit und vermögen Jahrzehnte später noch zu überzeugen. Dabei bereitet der Blick zurück in eine Zeit, als dem Telefon Exklusivität anhaftete, Telegramme eine gebräuchliche Kommunikationsform darstellten und Lehrer unangefochtene Autoritäten waren, so manches stille Vergnügen.
Ungeachtet der mitunter bekrittelten "Antiquiertheit" handelt es sich beim "Schüler Gerber" um einen gleichermaßen spannend, wie flott zu lesenden Roman mit einem Protagonisten, der sich seinen Platz im Leben erkämpfen möchte, aber eingedenk seiner Intelligenz und Integrität am System und seinen Schergen scheitert.
Erste große Rolle für Gabriel Barylli
1981 verfilmte Wolfgang Glück den Roman mit Gabriel Barylli in der Hauptrolle. Für ihn bedeutete diese Rolle zwar den Durchbruch als Schauspieler, doch Kritiker lobten hauptsächlich Werner Kreindl, der "Gott Kupfer" dermaßen eindrucksvoll verkörperte, dass der Zuschauer vermeint, Torberg hätte ihm den Charakter auf den Leib geschrieben.
Übrigens liest Schauspieler und Buchautor Barylli das (unverständlicherweise gekürzte) Hörbuch. Der Rezensent empfiehlt ausdrücklich sowohl die Lektüre des Romans, als auch den Film selbst, der die Atmosphäre der Vorlage sehr bedrückend und realistisch einfängt.
Originaltitel: Der Schüler Gerber hat maturiert
Autor: Friedrich Torberg
Veröffentlichungsjahr: 1930 (Erstveröffentlichung)
Seitenanzahl: 304 Seiten
Verlag: Deutscher Taschenbuch Verlag
Bildquelle:
Karin Scherbart
(Asterix bei den Pikten – Rezension)