Was in der Nacht des 31. März 1922 auf dem Hinterkaifeck-Hof geschah, erschüttert selbst hundert Jahre später. Die Tat rührt an einer der größten Ängste: Im eigenen Domizil nicht sicher zu sein. So weit entfernt diese Zeit, in der die Wäsche noch mit der Hand gewaschen wurde und kaum ein Haushalt ein Telefon besaß, auch scheinen mag, ganz wie ein exotisches Land, vermögen wir doch die Gänsehaut am Körper zu verspüren, die am Vortag der bestialischen Morde den Besitzer des Hofes, Andreas Gruber, heimgesucht haben musste. Er entdeckt Fußspuren im Schnee, die vom Wald zum Hof führen. Ein zufällig vorbeigekommener, neugieriger Wanderer vielleicht? Bestimmt nicht, denn die Spur führte nur zum Hof – und nicht zurück oder weiter!

Es ist beileibe nicht der erste Hinweis darauf, dass etwas Beängstigendes am Hof vor sich geht. Bereits zuvor hat er eine Zeitung gefunden, die niemand am Hof gekauft hat. Er fragt den Postboten, ob er vielleicht die Zeitung verloren habe. Dieser verneint: Niemand haben diese Zeitung abonniert. Immer wieder entdeckt Gruber Spuren eines Einbruchs, ohne dass jedoch etwas gestohlen worden wäre. Erst im Herbst hat die Magd gekündigt, da sie es vor lauter Angst nicht mehr aushielt. Irgendetwas Unheimliches gehe dort vor. Wie recht sie hat, entdecken Bewohner der Umgebung am 4. April, als sie sechs Leichen auffinden. Der erste, der die Toten in der Scheune entdeckt, ist ein gewisser Lorenz Schlittenbauer, der in weiterer Folge zum Hauptverdächtigen werden soll. Ob an den Verdächtigungen etwas dran war, wird nie geklärt werden. Die Morde am Hinterkaifeck waren und bleiben ein ungeklärtes Verbrechen.

Die reale Vorlage für "Tannöd"

Bekanntlich schreibt das Leben die besten Geschichten – mitunter leider auch die blutigsten. Die Ereignisse am Hinterkaifeck könnten glatt aus einem Horrorfilm stammen, falls sich hierfür ein Studio fände, das den Plot nicht als völlig absurd und komplett unrealistisch verwürfe. Tatsächlich bedient dieser Mordfall gar zu viele Klischees, angefangen von Inzest über einen oder mehrere Mörder, der oder die sich längere Zeit ungesehen im Haus ihrer Opfer versteckten, bis hin zur wohl niemals klärbaren Täterfrage.

Die Ermittlungsakte sind dürftig: Nur wenige Fotos wurden am Tatort geschossen, Fingerabdrücke erst gar nicht genommen. Zu neu war diese Methode noch, um in der tiefsten bayerischen Provinz durchgeführt zu werden. Erstaunlich scheint im Rückblick, dass die ebenfalls – trotz gegenteiliger Behauptung durch alle paar Jahre neu erscheinende Bücher zu dem Thema – ungeklärten Jack-the-Ripper-Morde weltweit bekannt sind, während die Bluttat am Hinterkaifeck außerhalb Deutschlands allenfalls durch den daran angelehnten Krimi "Tannöd" von Andrea Maria Schenkel samt Verfilmung bekannt ist.

Beging Andreas Gruber Inzest?

Um ein weiteres Klischee zu bedienen: Hätten die Wände des Hinterkaifeck-Hofs reden können, welche Geschichten hätten sie erzählt? Natürlich zunächst einmal jene des 31. März 1922, als Andreas Gruber, seine Ehefrau Cäzilia, Grubers Tochter Victoria Gabriel, ihre siebenjährige Tochter Cäzilia und der zweijährige Sohn Josef sowie die Magd Maria Baumgartner ermordet wurden. Laut den offiziellen Ermittlungsergebnissen, waren die Opfer nacheinander in den Stall gelockt und mit einer Reuthaue (eine Hacke zur Lockerung des Ackerbodens) erschlagen worden. Als Lockmittel hätte eine brüllende Kuh gedient. So die offizielle Darstellung, die jedoch rasch angezweifelt wurde, da etwaige Schreie im Stall nicht bis zum Wohnbereich durchgedrungen wären.

Doch mit diesem blutigen Höhepunkt hätten die Geschichten gewiss nicht ihr Ende gefunden. Da wäre etwa die Lebensgeschichte von Grubers Tochter Victoria. Ihr im Ersten Weltkrieg eingezogener Ehemann Karl Gabriel war im Kampf fürs Kaiserreich in Frankreich gefallen. Nach offiziellen Angaben, denn ein Leichnam war nie überstellt worden. Die junge, schöne Witwe sollte zwar unverheiratet bleiben, dennoch ihr zweites Kind Josef bekommen. Ein Skandal entspinnt sich daraus, der heute multimedial breitgetreten werden würde.

Alleine die Affäre der Witwe mit dem ebenfalls verwitweten Nachbarbauern Lorenz Schlittenbauer hätte damals schon für Aufsehen gesorgt. Offenbar war Schlittenbauer an einer Heirat interessiert. Doch Victorias Vater verhinderte die Ehe und wachte geradezu eifersüchtig über seine Tochter. Während der unehelich geborene Josef als gemeinsames Kind von Schlittenbauer und Victoria gilt, hat der angebliche Vater einen ungeheuren Verdacht: Andreas Gruber soll der wahre Vater sein! Er zeigt Gruber an – mit Erfolg: Dieser muss ins Gefängnis.

Doch später, wohl auf Drängen Victorias, zog er die Anschuldigungen wieder zurück. Mehr noch: Er bekannte sich zur Vaterschaft Josefs. Zunächst, denn später leugnete er diese wieder und zeigte den inzwischen aus der Haft entlassenen Gruber erneut wegen "Blutschande" an. Diesmal jedoch ohne Erfolg. Angeblich soll sich Gruber schon viel früher an der minderjährigen Victoria vergangen haben. Was Gerüchte, was Fakt ist, lässt sich natürlich nicht belegen, wie überhaupt der gesamte Fall von Gerüchten durchdrungen ist.

Hauste der Mörder am Dachboden des Hinterkaifeck?

Doch war Victoria überhaupt eine Witwe? Die wohl umstrittenste Theorie zu den Morden am Hinterkaifeck ist jene, dass ihr Ehemann Karl Gabriel nicht an der Front gestorben, sondern nach Hause zurückgekehrt sei und aus Wut über die Untreue und die "Blutschande" seiner Frau die Familie ermordet habe. Diese Theorie keimte mit der Heimkehr ehemaliger Wehrmachtsoldaten aus Russland auf. Angeblich hätten mehrere Heimkehrer ausgesagt, in der Gefangenschaft einem bayerisch sprechenden General begegnet zu sein, der Ähnlichkeit mit Karl Gabriel hatte. Dieser habe ihnen gegenüber zugegeben, die Morde am Hinterkaifeck begangen zu haben, woraufhin er sich für die Flucht nach Russland entschieden habe. Angeblich hätte er die Identität eines im Kampf getöteten Soldaten angenommen. Nach anderen Berichten wiederum soll Gabriel der französischen Fremdenlegion beigetreten sein. Was an diesen Aussagen dran ist, wird wie so Vieles an diesem Fall ungeklärt bleiben.

Die Gemäuer selbst hätten erzählen können, ob sich der oder die Täter geschickt vor der Familie versteckt hielt bzw. hielten. Deutete der "Spuk", den die im Herbst 1921 den Hof verlassende Magd Kreszenz vernommen haben wollte, in Wahrheit auf die Anwesenheit des Täters hin, ebenso wie die Spuren im Schnee oder die Einbruchsspuren? Das klingt zunächst abwegiger, als es sein könnte. Auf dem weitläufigen Einödhof hätten sich gewiss Verstecke gefunden, insbesondere der Dachboden. Dieser verlief durchgehend vom Wohnhaus über den Stall bis hin zur Scheune.

Gruber selbst dürfte Schritte am Dachboden vernommen haben, fand bei einem Kontrollgang jedoch niemanden vor. Während der Tatortbesichtigung stellte die Polizei aber fest, dass der Boden des Dachbodens mit Heu ausgelegt worden war. Wollte jemand allzu verräterische Geräusche verhindern? Jemand, der auf dem Dachboden hauste? Außerdem waren einige Dachziegel verschoben worden, offenbar um das Gelände im Auge behalten zu können. Das ist wohl jener Aspekt der Bluttat, der am Unheimlichsten wirkt: Der Eindringling im eigenen Haus. Und das zu einer Zeit, in der man nicht einfach mittels Handy die Polizei anrufen und mit den Kindern im Auto flüchten konnte.

Der logische Verdächtige: Lorenz Schlittenbauer

Als Hauptverdächtiger galt von Anfang an Lorenz Schlittenbauer. Geschuldet war dies seinen merkwürdigen, mitunter widersprüchlichen Aussagen und einer Vielzahl kleiner Indizien. Eine dieser Seltsamkeiten war, dass er sich in dem Anwesen offenkundig sehr gut auskannte und vielleicht sogar einen Haustürschlüssel besaß. Andreas Gruber hatte nur einen Tag vor seiner Ermordung den Verlust des Haustürschlüssels beklagt. Schlittenbauer gab später an, der Schlüssel habe gesteckt. Unklar ist aber, ob es mehrere Schlüssel oder nur diesen einen gab. Angeblich ließ Schlittenbauer am Stammtisch immer wieder Bemerkungen fallen, die auf ihn als Täter hingedeutet hätten. Auch dies ist natürlich nicht mehr verifizierbar.

Einer der seltsamsten Begleitumstände der Morde am Hinterkaifeck ist allerdings, dass das Vieh nach den Morden versorgt worden war. Augenzeugen berichteten zudem, sie hätten Rauch aus dem Kamin aufsteigen sehen. Offenkundig hatte der Täter noch Tage nach der Tat im Anwesen gewohnt, dort gegessen und geschlafen. Erst kurz vor der Entdeckung der Leichen war der Täter geflüchtet. Das spricht nicht nur dafür, dass die Tat kühl geplant worden war, sondern auch für eine emotionale Bindung des Täters an den Hof. Obwohl das Rachemotiv Schlittenbauer verdächtig macht, bleibt doch die Frage, ob er nicht nur den ihm verhassten Gruber, sondern auch dessen gesamte Familie, darunter Victoria und den möglicherweise gemeinsamen Sohn Josef, kaltblütig ermordet hätte.

Die Leichen vom Hinterkaifeck werden kopflos bestattet

Bei jedem Verbrechen gilt eine der Fragen dem Motiv. Könnte es nicht Raubmord gewesen sein? Dieses Motiv lässt sich freilich so gut wie sicher ausschließen. Die Familie galt als vermögend, und noch kurz vor den Morden vermachte Victoria der Kirche eine Spende über 700 Mark. Seltsamerweise hatte die Witwe gleichzeitig ihre Sparguthaben aufgelöst, angeblich weil sie in den Hof investieren wollte. Das behobene Geld lagerte im Haus und konnte sichergestellt werden. Überhaupt waren das Geld, wie auch sämtliche Wertgegenstände nicht angetastet worden.

Neben Lorenz Schlittenbauer waren noch weitere Personen beschuldigt und einvernommen worden. Ein Täter konnte aber nie präsentiert werden. Dabei griff die Polizei zu ungewöhnlichen Ermittlungsmethoden: Sie wendet sich an okkulte Zirkel. Mehrere Séancen werden abgehalten, ohne entscheidende Hinweise zu liefern. Nicht weniger bizarr erscheint es, dass nach den Leichen nach der Obduktion die Köpfe abgeschnitten wurden. Es handle sich, so der zuständige Gerichtsmediziner, um Beweismittel. Bei der Beerdigung auf dem Friedhof Waidhofen werden sechs Leichen ohne Köpfe bestattet. Die Köpfe selbst verschwinden im Chaos des Zweiten Weltkriegs.

Und selbst wenn die Mauern des Hinterkaifeck-Hofs reden hätten können, wären sie rasch verstummt. Denn nur ein Jahr nach den Morden war der Hof abgerissen worden. Heute erinnert nur noch ein Marterl mit der Aufschrift "Gottloser Mörderhand fielen zum Opfer" an jenes grauenhafte Verbrechen. Wessen Mörderhände es waren, wird wohl niemals geklärt werden können, womit die Morde am Hinterkaifeck auf ewig ein Mysterium bleiben werden.

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