Freudentaumel und Versprechungen nach der friedlichen Revolution

Die Revolution von 1989, mit der sich die Bürger der DDR des SED-Regimes entledigt hatten, löste zunächst einen Freudentaumel aus, denn den DDR-Bürgern war damit etwas geglückt, was man gemeinhin den Deutschen nicht zutraut: ein politischer Umsturz, der von Erfolg gekrönt war und der dazu noch ohne Blutvergießen verlaufen war. Aber wie sollte es nun weitergehen? Wie ich in meinem Artikel über die friedliche Revolution dargelegt habe, träumten viele Angehörige der ehemaligen DDR-Opposition von einer anderen, durch grundlegende Reformen erneuerten DDR und damit von einer friedlichen Koexistenz der beiden deutschen Staaten.

Dann stellte sich jedoch heraus, dass immer mehr DDR-Bürger etwas anderes wollten, nämlich den Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten und damit die Überwindung der deutschen Teilung. Diesen Wunsch machte sich der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl schnell zu Eigen und versprach im Wahlkampf vor der ersten demokratischen Volkskammerwahl am 18. März 1990 eine rasche Wiederherstellung der deutschen Einheit mit sofortiger Einführung der DM in Ostdeutschland sowie einer Umstellung der Löhne, Renten und vor allem Sparkonten im Verhältnis von 1:1 (DDR-Mark zu D-Mark). Damit sicherte er den Sieg der aus dem Zusammenschluss der CDU-Ost mit anderen Gruppierungen hervorgegangenen "Allianz für Deutschland", so dass die deutsche Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 nur noch "Formsache" war.

Mit der Einführung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion am 1. Juli 1990 war den Bürgern der ehemaligen DDR von der Bundesregierung ferner zugesichert worden, dass die Lohn- und Lebensniveauanpassung an die alte Bundesrepublik in drei bis fünf Jahren erreicht sein würde. Nach dem Vollzug der deutschen Wiedervereinigung glaubten folglich die Bürger der ehemaligen DDR, nun in einer Gesellschaft zu leben, in der sie die sozialen Errungenschaften, die die DDR ihnen geboten hatte, und zusätzlich die Annehmlichkeiten eines freiheitlichen, demokratischen und wirtschaftlich prosperierenden Systems würden genießen können. Für viele sollte sich dies jedoch als Irrtum, als Illusion, herausstellen.

Der Realitätsschock

Vielen Ostdeutschen war vermutlich nicht klar, dass sie nach erfolgter Wiedervereinigung nicht von "lieben, fürsorglichen Verwandten" aufgenommen worden waren, die ihre "ostdeutschen Brüder und Schwestern"- von denen in den Sonntagsreden westdeutscher Politiker während des Kalten Krieges immer die Rede war - vielleicht auch noch für die Entbehrungen, die sie in 40 Jahren Planwirtschaft erlitten hatten, entschädigen würden, sondern dass sie in einer knallharten Eigentümergesellschaft gelandet waren, in der Jeder und Jede für sich selber sorgen muss.

Vor allem konnten viele Ostdeutsche nicht voraussehen, was aus "ihren" Betrieben werden würde, wenn sie, wie geschehen, übergangslos den Gesetzen der freien Marktwirtschaft ausgeliefert werden, und welche Folgen das für sie persönlich haben würde. Sie konnten sich mit anderen Worten nicht vorstellen, in welchem Ausmaß in Ostdeutschland scheinbar unrentable Betriebe geschlossen und die Mitarbeiter entlassen werden. Letztlich sind ja, wie ich in meinem Artikel über die "Treuhand" gezeigt habe, durch deren Maßnahmen zur Umwandlung der DDR -Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft Millionen Arbeitsplätze verloren gegangen.

Und am meisten betroffen von "Strukturumbrüchen" und Arbeitslosigkeit war die soziale Gruppierung der Arbeiter, vor allem die Gruppe der Arbeiterinnen, denn Arbeiterinnen meldeten sich doppelt so häufig arbeitslos wie Arbeiter. Damit aber waren ausgerechnet jene Gruppierungen die größten Verlierer der mit der deutschen Wiedervereinigung einhergehenden ökonomischen Transformation, die bei der Volkskammerwahl am 18. März 1990 überproportional für die von der Bundesregierung unterstützte "Allianz für Deutschland" votiert hatten.

Psychische Folgen der Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland

Generell war die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland in den 1990er Jahren so hoch – sie war in manchen Gegenden höher als zur Zeit der Weltwirtschaftskrise von 1929 - dass es kaum eine ostdeutsche Familie gab, die nicht davon betroffen war. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass für Ostdeutsche Arbeitslosigkeit ein Phänomen war, das in keiner Lebensplanung vorgesehen war. Folglich hatte das bisher unbekannte Damoklesschwert reale oder drohende Arbeitslosigkeit für die betroffenen Familien erhebliche psychische Auswirkungen, selbst wenn nur eine Person betroffen war.

Und zwar haben infolge der Arbeitslosigkeit viele Ostdeutsche tiefgreifende Entwertungs-, Ohnmachts- und Überwältigungserfahrungen gemacht, die - was nicht verwunderlich ist - vor allem mit der Tätigkeit der Treuhand in Verbindung gebracht werden. In dieser Perspektive erscheint die Treuhand als eine fern, kalt, anonym und arrogant agierende "Obrigkeit", die die zuvor von der SED-Führung und ihren "Staatsorganen" praktizierte, unanfechtbare Macht- und Herrschaftspolitik fortsetzte.

Viele Ostdeutsche haben mit anderen Worten den Eindruck, dass die Ostdeutschen bzw. Ostdeutschland zunächst über 40 Jahre vom SED-Regime und seinen kommunistischen Funktionären im sowjetisch dominierten "Ostblock" unterdrückt und ausgenutzt worden seien, um unmittelbar nach den revolutionären Umbrüchen binnen vier Jahren von der Treuhandanstalt und ihren West-Managern zugunsten der westlichen Konzerne beziehungsweise des Kapitalismus "ausverkauft" (das "Volksvermögen") und "abgewickelt" (die Betriebe und Arbeitsplätze) zu werden. Nach Ansicht der Betroffenen wurde ihnen also, kaum dass sie das eine Regime überwunden hatten, ein neues aufgezwungen, von dem sie genauso unterdrückt wurden wie vom alten.

Man kann hier vom Grundwiderspruch der Nachwendeerfahrung vieler Ostdeutscher sprechen, nämlich, dass sie in dem Augenblick, in dem sie das Ziel erreichen, das sie zunächst verfolgten, d.h., politische und bürgerliche Rechte zu erobern, eine unermessliche soziale Verunsicherung erleben. Viele Ostdeutsche waren folglich nach der Wiedervereinigung tief enttäuscht, weil sie keine Chance bekamen, sich ein neues Leben jenseits staatlicher Alimentierungen aufzubauen und weiter die Rolle eines unterlegenen und deklassierten Befehlsempfängers spielen mussten. Diese Erfahrung wurde noch verstärkt durch den umfassenden Elitenwechsel in vielen Bereichen zugunsten Westdeutscher, die nicht selten wenig Verständnis zeigten für die anders gelagerten Erfahrungen der ihnen nun unterstellten Ostdeutschen.

Politische Folgen – der Aufschwung der AfD

Nach Expertenmeinung haben die subjektiven Entwertungs- und Ohnmachtserfahrungen, die in den frühen 1990er-Jahren von vielen Ostdeutschen gemacht wurden, eine positive Identifikation mit dem neuen politischen beziehungsweise ökonomischen System nachhaltig erschwert, also zu einer dauerhaften Entfremdung von Teilen der ostdeutschen Gesellschaft von der Institutionen- und Werteordnung der Bundesrepublik geführt. Gleichzeitig habe durch das mit den Entwertungs- und Ohnmachtserfahrungen einhergehende kontinuierliche Erleben einer umfassenden Fremdbestimmung (zunächst durch das autoritäre SED-Regime, später durch eine rigorose Treuhand-Politik) die politische Kultur in den neuen Bundesländern langfristig Schaden genommen.

Letzteres kommt zum Ausdruck in der Neigung vieler Ostdeutscher, bei Wahlen eine radikale Partei zu wählen und sich damit sozusagen für die erlittenen Demütigungen und Verletzungen zu rächen, und zwar zunächst die Linkspartei und in den letzten Jahren zunehmend die rechtspopulistische AfD. Die AfD hat also mittlerweile die Linkspartei als Protestpartei abgelöst. Nach Expertenmeinung ist dies darauf zurückzuführen, dass nun die AfD das Anti-Establishment-Moment kultiviert, das die Linkspartei längst aufgegeben hat. Man könnte auch sagen: Seit die Linkspartei selbst in einigen Bundesländern mitregiert und in Thüringen sogar den Ministerpräsidenten stellt, glauben unzufriedene Ostdeutsche, dass sie die politischen Eliten nicht mehr mit der Wahl der Linkspartei, sondern nur noch mit der Wahl der AfD "erschrecken" können. Dass sie damit eine Partei wählen, die offen fremdenfeindlich und rassistisch auftritt, scheint sie nicht zu stören.

Dieses für viele befremdliche Phänomen könnte man damit erklären, dass die AfD geschickt an die traumatischen Umbrucherfahrungen vieler Ostdeutscher anknüpft und sie darin bestärkt, dass sie von den politischen Eliten der Bundesrepublik genauso unterdrückt und betrogen werden wie seinerzeit in der DDR vom SED-Politbüro. Die friedliche Revolution von 1989 müsse folglich weitergeführt und mit der Entmachtung der bundesrepublikanischen Eliten vollendet werden.

"Integriert doch erst mal uns!"

Erneute Nahrung fand die grundlegende Kritik vieler Ostdeutscher am politischen System der Bundesrepublik, als deren Sprachrohr sich die AfD präsentiert, als 2015 hunderttausende Menschen auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung und Armut nach Deutschland kamen, um hier Asyl zu beantragen, und zwar überwiegend Muslime. Nach Ansicht von Sachsens Integrationsministerin Petra Köpping (SPD) hatten dadurch viele Menschen im Osten das Gefühl, dass mit den Migranten schon wieder die nächste große Veränderung kommt, obwohl sie mit den Folgewirkungen der Wiedervereinigung noch gar nicht fertig sind. Für Köpping kommt dies zum Ausdruck in der an sie gerichteten Forderung: "Integriert doch erst mal uns!"

"Integriert doch erst mal uns"! lautet auch der Titel einer von Köpping verfassten "Streitschrift für den Osten", in der sie die These vertritt, dass die psychischen Verletzungen und Demütigungen, die viele Ostdeutsche nach der Wiedervereinigung erlitten haben, weil ihre Lebensleistung nicht anerkannt worden ist und ihre Wertvorstellungen abqualifiziert worden sind, jetzt endlich öffentlich thematisiert und aufgearbeitet werden müssen. Und hier besteht wirklich Grund zur Eile, weil die älteren Ostdeutschen den Frust, den sie aufgrund ihrer schlechten Erfahrungen empfunden haben, an die Jüngeren weitergeben und dadurch bei diesen eine Distanz zur Gesellschaft der Bundesrepublik, aber auch massive Angst vor Veränderungen bewirken, so dass mittlerweile in Ostdeutschland auch viele junge Leute AfD wählen.

Sympathie für rechtsextremes Gedankengut?

Für manche Experten ist es angesichts der hohen Stimmenanteile, die die AfD bei den letzten Wahlen in Ostdeutschland erzielt hat, eine offene Frage, ob die Wähler wirklich nur aus Protest für diese Partei votiert haben und nicht auch aus Sympathie für die politischen Inhalte, die sie vertritt. So konnte festgestellt werden, dass in heutigen AfD-Hochburgen seinerzeit auch Hitlers NSDAP bei Wahlen besonders gut abgeschnitten hat. Das heißt: Wo seinerzeit im Osten Deutschlands die NSDAP erfolgreich war, ist es heute die AfD.

Nach Expertenmeinung erklärt dies natürlich nicht den ganzen Wahlerfolg der AFD, aber es sei ein wichtiger Faktor neben den anderen Faktoren, die oft genannt werden wie Arbeitslosigkeit, Verlust von gut bezahlten Jobs im Industriesektor, Unsicherheit wegen der Zuwanderung. Der Wahlerfolg der AfD sei mit anderen Worten auch zurückzuführen auf eine kulturelle Tradition von rechtsgerichtetem, rechtspopulistischem Denken. Für andere Beobachter steht demgegenüber eindeutig die Protesthaltung im Vordergrund, und sie warnen davor, nach all den psychischen Wunden, die den Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung zugefügt worden sind, diese nun auch noch als Nazis zu verunglimpfen. Dem könnte man hinzufügen, dass es sicherlich in Ostdeutschland einen "harten Kern" von AfD-Anhängern gibt, die diese Partei aus Überzeugung wählen. Aber in Westdeutschland wird das nicht anders aussehen.

Soziale Zusammensetzung und Geschlecht der AfD-Wähler

Wahlanalysen zufolge votierten bei den letzten Wahlen in Ostdeutschland vor allem Männer zwischen 24 und 60 für die Rechtspopulisten, in Sachsen vorrangig Arbeiter und Arbeitslose, in Brandenburg außerdem viele Selbständige und Angestellte. Großen Anklang fand die Partei auch bei bisherigen Nichtwählern. Besonders hoch fielen die AfD-Zugewinne in "abgehängten" Regionen aus, also dort, wo sich Einwohner infrastrukturell und wirtschaftlich benachteiligt fühlen, zum Beispiel im Südosten Brandenburgs.

Daraus ergeben sich auch wichtige Unterschiede zwischen den Lagern der AfD-Wähler im Westen und im Osten. Das heißt: In Westdeutschland ist die AfD vor allem im abgehängten Bereich urbaner Zentren stark, in Ostdeutschland findet sie im ländlichen Raum größeren Anklang. Ihre Wählerschaft ist hier sozial heterogener, aber die männlichen Facharbeiter mit mittlerem Bildungsabschluss zwischen 24 und 60 Jahren bilden den Kern der Wählerschaft der AfD im Osten. Dies zeigt auch, dass im Osten viele heutige AfD-Anhänger nach anfänglichen Startschwierigkeiten nach der Wiedervereinigung eigentlich in der neuen Gesellschaft Fuß gefasst haben. Aber scheinbar haben sie die traumatischen Erfahrungen, die sie in der damaligen gesellschaftlichen Umbruchphase gemacht hatten, nie wirklich verarbeitet, und ihre Vergangenheit holt sie viele Jahre später wieder ein, wobei, wie Petra Köpping gezeigt hat, der massive Zustrom von Flüchtlingen aus dem Ausland ein wichtiger Auslöser war.

Dabei ist bemerkenswert, dass die Frauen - die ja die eigentlichen Verliererinnen der Wiedervereinigung waren – diese schwierige Lebensphase scheinbar besser bewältigt haben als die Männer und deshalb viel weniger als die Männer dazu neigen, sich durch Wahl einer rechtspopulistischen Partei für erlittene Demütigungen und mangelnde Wertschätzung rächen zu wollen. Vielleicht sind Frauen doch das stärkere Geschlecht! Aber diese Vermutung hilft nicht weiter, denn das Problem, dass ostdeutsche Männer die AfD bei Wahlen fast zur stärksten Partei in Ostdeutschland machen, ist nun einmal da und muss gelöst werden.

Quellenangabe:

https://www.deutschlandfunkkultur.de/jana-hensel-und-wolfgang-engler-im-gespraech-der-kollaps.1270.de.html?dram:article_id=428203

https://web.de/magazine/politik/integriert-petra-koepping-wendefrust-ostdeutschen-33516830

https://taz.de/Maenner-aus-Ostdeutschland/!5635424/

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1125460.erfolg-der-afd-das-image-gilt-als-wirklichkeit.html

https://www.nzz.ch/meinung/die-volkseigene-erfahrung-wem-gehoert-das-ideelle-erbe-der-ddr-ld.1500906

https://www.nzz.ch/feuilleton/afd-ddr-dieser-streit-ist-ueberfaellig-die-ostdeutsche-erfahrung-braucht-30-jahre-nach-dem-mauerfall-einen-platz-im-gedaechtnis-der-bundesrepublik-ld.1504492

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