Eine kosmische Katastrophe

Die Romane aus dem Gezeitenwelt-Zyklus wurden geschrieben von Magus Magellan. Hinter diesem Namen verbergen sich vier bekannte deutsche Fantasy-Autoren: Bernhard Hennen, Hadmar von Wieser, Thomas Finn, Karl-Heinz Witzko. Sie alle haben unter dem Pseudonym Magus Magellan die Bücher um die Gezeitenwelt geschrieben. Aber was ist nun das Besondere an diesem Zyklus? Was hebt ihn von anderen Fantasy-Geschichten ab?

Wir befinden uns in einer blühenden und lebendigen Welt, der Gezeitenwelt, die nur in unserer Fantasie existiert. Bisher nichts Ungewöhnliches. Doch es geht hier nicht um den immerwährenden Kampf Gut gegen Böse. Nein, die Menschen haben erst einmal ein anderes Problem.

Dieses Problem kommt in Form eines Meteoriten auf die Gezeitenwelt zu. Der Steinbrocken stürzt in den Ozean und löst Erdbeben, Tsunamis und weitere Katastrophen aus, die einen großen Teil der Gezeitenwelt zerstören. Diese kosmische Katastrophe zieht natürlich auch menschliche und politische Konsequenzen nach sich. So bietet es sich natürlich an, einem gegnerischen Staat, den es richtig übel getroffen hat, den Krieg zu erklären. Es gibt ja eventuell kaum noch Militär und Verteidigungsanlagen.

Jeder Band des Zyklus ist eine in sich abgeschlossene Geschichte. Ausnahme sind der dritte und der vierte Band, die als einzige zusammenhängen und eine längere Geschichte bilden.

Wie gehen die Menschen mit diesem Ereignis um?

Das ist eine der Hauptfragen dieser Romane. Es geht nicht um einen bösen Herrscher, der die Gezeitenwelt unterwerfen oder zerstören möchte. Sie ist bereits zerstört. Und zwar durch eine Laune der Natur, durch einen himmlischen Nomaden, der zufälligerweise mit dem Planeten kollidiert. Die Menschen dieser Welt verstehen das Ereignis nicht. Sie leben in Gesellschaftsstrukturen, die ungefähr - üblich für Fantasygeschichten - mit dem Mittelalter vergleichbar sind. Sie haben keine Ahnung, was geschehen ist. Sie sehen nur, dass dieses Ereignis Zerstörung und Tod im Schlepptau hat. Und damit müssen sie zurecht kommen.

Das Hauptthema des Romans ist nicht der Kampf gegen das pure Böse, sondern der Kampf ums Überleben, um die Zukunft, um das Verstehen dieses Ereignisses. Eine neue Weltordnung entsteht, aus dem Chaos wird etwas neues erschaffen. Und so etwas kann man aus verschiedenen Sichtweisen erzählen. In der Gezeitenwelt gibt es viele Geschichten nach dem kosmischen Holocaust.

Eine Welt - viele Kulturen und viele Geschichten

Und genau das tun die Autoren. Sie erzählen viele Geschichten. Jeder Band beschreibt die Katastrophe und die Ereignisse danach aus der Sicht anderer Menschen aus einer anderen Kultur. Jeder reagiert anders auf die Ereignisse. Und das gilt nicht nur für die unterschiedlichen Kulturen, sondern auch für die verschiedenen Menschen.

Unterschiedlicher könnten die Kulturen nicht sein. Alle Kulturen der Gezeitenwelt sind einer Epoche der unseren Welt angeglichen. So spielt der erste Band in einem Land, das der europäischen Rennaissance gleicht. Der Staat im zweiten Band ist chinesisch angehaucht. Im dritten und vierten Roman lernen wir ein Land kennen, das an Persien erinnert, und der fünfte Band spielt in einer Art europäischem Mittelalter. Man kann sich vorstellen, dass diese unterschiedlichen Kulturen sehr unterschiedlich reagieren.

Aber nicht nur das. Die Autoren beschreiben ganz genau die unterschiedlichen Kulturen, Staatsformen, militärischen Strukturen und Sitten und Gebräuche. Sogar Flora und Fauna unterscheiden sich in den verschiedenen Ländern. Die Baustile sind anders, Schiffstypen sind unterschiedlich. Das eine Land ist eher eine Seefahrernation, ein anderes hat mit Schiffen nicht viel am Hut usw. Jede Kultur wartet mit neuen Überraschungen auf.

Das Böse gibt es nicht

Dabei kommen natürlich auch typische Fantasyelemente wie Kriege und Magie nicht zu kurz. Aber sie sind keine Werkzeuge, um irgendwelche Monster zu bekämpfen. In der Gezeitenwelt ist kein Platz für das Böse oder irgendwelche Monster. Wenn Monster auftauchen, dann eher am Rande. Aber es geht nicht hauptsächlich um den Kampf gegen diese.

Als Beispiel kann ein Krieg dienen, der zwischen zwei Ländern entbrennt. Im ersten Band erleben wir den Krieg aus der Sicht des eines Staates. Dessen Soldaten betrachten sich als die "Guten", die das "Böse" bekämpfen. Sie dämonisieren den Gegner regelrecht. Natürlich, sie haben ja auch eine andere Religion. Im zweiten Band erleben wir einige der Ereignisse aus der Perspektive der Bewohner des anderen Staates. Und was sehen wir? Es sind ganz gewöhnliche Menschen, die wiederum die Leute, die wir im ersten Band lieb gewonnen haben, als böse betrachten. Gut und Böse ist Sache der Perspektive - wie in der Realität.

Aber auch einige Charaktere sind ungewöhnlich. Im ersten Band wird die junge Walfängerin Alessandra von der Kirche und vor allem von einem Pater namens Francisco gejagt. Francisco möchte die Frau unbedingt tot sehen und schreckt vor nichts zurück. Ist er böse? Ich vertage die Antwort und stelle die Frage später noch einmal. Denn während er Alessandra jagen lässt, tut er alles, um den Überlebenden der Katastrophe zu helfen. Ich frage noch einmal: Ist Francisco böse? Es hängt von der Perspektive ab und wir lernen beide Seiten kennen.

Die Handlung der fünf Bände

Im folgenden möchte ich die Handlung der fünf Bände kurz und grob zusammenfassen. Die Geschichten sind sehr komplex und dadurch, dass sie nicht von einem Autor geschrieben wurde, auch sehr individuell. Man erkennt in jedem Band eine andere Handschrift und einen anderen Erzählstil. Einige Geschichten sind eher lustig, andere ernster. Aber spannend, unterhaltsam und abwechlungsreich sind sie alle. Ich beschreibe im Folgenden nur einen Teil der teilweise sehr komplexen Geschichten in den Romanen.

Bernard Hennen - "Der Wahrträumer"

Alessandra Paresi soll sterben. Das hat die Kirche beschlossen, denn sie soll zusammen mit zwei anderen Menschen als Märyterin den Zorn Gottes besänftigen, der sich als neuer Stern am Himmel zeigt. Doch Alessandra wehrt sich und entzieht sich ihren Henkern. Der neue Stern fällt auf die Welt und richtet unglaubliche Verwüstung an. Für die Kirche und Pater Francisco ist die Sache klar: Die Menschen wurden bestraft, weil Alessandra entkommen konnte. Also muss sie sterben, um Gott zu besänftigen.

Der Schamane eines Volkes, das an die amerikanischen Indianer erinnert, stirbt bei der Katastrophe. Doch sein potentieller Nachfolger, Seruun, wird von seinen Leuten nicht geachtet und wird mit seiner geliebten verstoßen. Sie leben als Verstoßene in einer Welt, über die infolge der Katastrophe eine Eiszeit hereingebrochen ist. Seruun möchte sein Volk in den Süden führen, wo es wärmer ist, doch der neue Schamane möchte seine Machtposition nicht aufgeben. So müssen Seruun und seine Geliebte Grasfeder einen Kampf gegen den Schamanen führen, um ihr Volk zu retten.

Hademar von Wieser - "Himmlisches Feuer"

Der Herrscher von Serkan Katau sieht den neuen Stern am Himmel als Zeichen, dass er die Blauen Götter angreifen soll. Er stellt eine gewaltige Armee auf, um den Palast der mythischen Wesen anzugreifen. Gleichzeitig gelingt dem jungen Strolch die Flucht aus der Sklaverei. Er und einige Vagabunden folgen dem Heer und zehren von dessen Hinterlassenschaften. Als die Schlacht ausbricht, schlägt der Meteorit ein.

Strolch überlebt und findet auf dem Schlachtfeld die abgeschlagene Hand eines Blauen Gottes. Er nimmt sie mit, was Fünfarm, den Besitzer der Hand, nicht gerade glücklich stimmt. Er verfolgt Strolch, doch der kluge Junge kann dem nicht ganz so intelligenten Blauen Gott davon überzeugen, dass er Fünfarm helfen kann, das Geheimnis über die Herkunft der Blauen Götter zu lüften. Das ungleiche Paar zieht über zwei Kontinente und erlebt viele Abenteuer.

Thomas Finn - "Das Weltennetz" und "Die Purpurinseln"

Surjadora ist die Kommandantin einer kleinen Flottille aus zwei Schiffen. Sie soll die geheimnisvollen Purpurinseln finden. Als die Schiffe das Reich der Tausend Inseln (die Purpurinseln) erreichen, platzen sie nicht nur in eine Hochzeitsgesellschaft, sondern auch in einen Staatsstreich. Der König wird getötet, Prinz Nukulahi gelingt auf Surjadoras Schiffen die Flucht. Die Beiden möchten den Maharadscha überzeugen, in den Kampf auf den Purpurinseln einzugreifen.

Doch dann schlägt der Meteorit ein und der Maharadscha hat erst einmal andere Sorgen als das weit entfernte Königreich. Surjadora und Nukulahi können nicht auf die Hilfe des Herrschers setzen. Und so beginnt eine Odyssee, während der sie auch Strolch und Fünfarm aus dem zweiten Band begegnen und an deren Ende der Kampf gegen den Thronräuber stehen soll.

Karl-Heinz Wiztko - "Das Traumbeben"

Mojeb ist besoffen, als die Welt untergeht. Und zwar so sehr, dass er erst nach der Katastrophe aufwacht und sich darüber wundert, dass es auf einmal so viel Zerstörung und so viele Tote gibt. In einem Anfall von Pflichtbewusstsein kehrt er zu dem Gefängnis zurück, in dem er arbeitet, und muss feststellen, dass es nicht mehr existiert. Dumm gelaufen. Aber in den Trümmern haben einige Gefangene überlebt. Und diese dürfen natürlich nicht entkommen. Mojeb bindet die vier Männer und eine Frau zusammen, um mit ihnen zusammen durch die zerstörte Welt zu laufen auf der Suche nach einem anderen Gefängnis.

Sie gelangen in eine Stadt, die von einer grausamen Vögtin unterdrückt wird. Als Mojeb die grundlose Ermordung eines jungen Mannes durch Soldaten der Herrscherin miterlebt, organisiert er einen Widerstand, der sogar erfolgreich ist. Doch eines haben er und seine Widerständler nicht bedacht: Was geschieht nach der Vertreibung der Vögtin?  Wie soll die Stadt verwaltet werden? Wie kann man die verschiedenen Interessengruppen miteinander vereinen? Und wer ermordet des Nachts die vielen Menschen in der Stadt? Doch Mojeb, der sich inzwischen mit seinen Gefangenen und dem Ritter Seffenaui angefreundet hat, ist entschlosen alle Probleme zu lösen.

Einfach wunderbare Geschichten

Die Geschichten aus der Gezeitenwelt erzählen von einer Katastrophe - aber auch von Hoffnung, Freundschaften, Siegen über den Tod und über die Verzweiflung. Der Leser begleitet interessante und facettenreiche Charaktere durch eine unglaublich lebendige Welt - trotz der Katastrophe. Die Welt ist sehr detailliert beschrieben und in sich sehr stimmig, trotz der vier Autoren und der unterschiedlichen Kulturen. 

Manchmal haben die Romane einige Längen, aber sie sind dennoch meistens aufregend und abwechslungsreich und erzählen einfach wunderbare Geschichten, die sich meiner Meinung nach sehr stark von der üblichen Fantasy abheben.

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