Die Motive von Selbstmordattentätern
Selbstmordattentate sind das Resultat von Lebensbedingungen, die von Ungerechtigkeit, Hass und Gewalt geprägt sind. Selbstmordattentäter sind gleichzeitig Märtyrer und Mörder.Das zerstörte "World Trade Center" in New York (Bild: Wikilmages/pixabay.com)
Das Pentagon nach den Anschlägen vom 11.9.2001 (Bild: Wikilmages/pixabay.com)
Ein Blick in die Geschichte
Wenn man sich aus geschichtlicher Perspektive mit dem Phänomen des Selbstmordattentats beschäftigt, wird deutlich, dass es sich dabei weder um ein modernes, noch um ein rein islamisches Phänomen handelt, auch wenn das erste spektakuläre Selbstmordattentat von Muslimen verübt worden ist. Und zwar handelte es sich dabei um eine schiitische Sekte des 12. und 13. Jahrhundert im heutigen Iran – die Assassinen. Junge Männer dieser Sekte sollen Persönlichkeiten der sunnitischen und christlichen Elite im Nahen Osten mit vergifteten Dolchen ermordet haben, wobei die Attentäter den eigenen Tod nach der Tat billigend in Kauf nahmen.
Die wohl berühmtesten Selbstmörder der Geschichte waren die japanischen Kamikaze-Flieger, die im Zweiten Weltkrieg ihre Maschinen auf amerikanische Kriegsschiffe abstürzen ließen, um in der Endphase des bereits verlorenen Krieges auf diese Weise ihrem als göttlich verehrten Kaiser, dem Tenno, zu dienen. Auch im Bürgerkrieg auf Sri Lanka wurden von den Tamilischen Tigern, einer nationalen Befreiungsarmee der tamilischen Bevölkerungsminderheit, zahlreiche Selbstmordattentate verübt. Im Krieg zwischen dem Iran und dem Irak zogen von 1980 an Zehntausende iranische Jugendliche in Selbstmordschlachten gegen Saddam Husseins Truppen.
1983 wurden im Libanon drei Attentate verübt, die sozusagen den Auftakt zur Einsetzung von Selbstmördern als lebende Bomben im Konflikt zwischen den Palästinensern und Israel sowie seinen Verbündeten bildeten. Und zwar zündeten Attentäter mit Sprengstoff beladene LKWs auf dem Gelände der amerikanischen Botschaft in Beirut sowie auf einem amerikanischen und einem französischen Militärstützpunkt. Ein weiteres nahöstliches Schlachtfeld, auf dem es häufig zu Selbstmordattentaten kommt, ist der Irak, wobei der innerislamische Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten, aber auch die Aversion gegenüber den Christen eine große Rolle spielt. Das Selbstmordattentat ist also keine Erfindung des Islamismus, aber von Islamisten begangene Selbstmordattentate sind die Geißel unserer Zeit.
Beruhen Selbstmordattentate auf rationalem Kalkül?
Nach Ansicht von amerikanischen Wissenschaftlern verüben Moslems Selbstmordattentate, um damit einen Selbstmord zu kaschieren, weil im Islam die Selbsttötung eine der schlimmsten Sünden ist. Demgegenüber sind für den Kriminologen Frank D. Stolt Selbstmordattentate keineswegs Kurzschlusshandlungen von einzelnen Terroristen, sondern beruhen auf rationalem Kalkül.
Und zwar unterscheidet Stolt in diesem Zusammenhang werden zwischen der Perspektive des Beobachters und der Perspektive des Handelnden. So würden Selbstmordattentate für den Beobachter als irrational erscheinen, weil sie seiner Meinung nach auf irrtümlichen Wahrnehmungen beruhen, aber für den Handelnden seien sie rational, weil er sich der Irrtümlichkeit seiner Wahrnehmung im Moment des Handelns nicht bewusst ist. Das heißt: Für Stolt verfolgen die Akteure ein konkretes Ziel, das sie mit dem Selbstmordattentat glauben erreichen zu können, können also ihr Handeln rational begründen. Man könnte auch sagen: Die Entscheidung der Akteure für ein Selbstmordattentat und gegen eine legale politische oder parlamentarische Aktivität liegt in den Vorteilen des Attentats für die Akteure begründet.
Auch für die terroristischen Organisationen, denen die Attentäter in der Regel angehören, würden die Vorteile von Selbstmordattentaten auf der Hand liegen. So sei ein erfolgreicher Selbstmordanschlag die effektivste Strategie, um neben hohen Opferzahlen auch das Interesse der nationalen und internationalen Medien zu garantieren. Weitere Vorzüge von Selbstmordanschlägen aus der Sicht der terroristischen Gruppen seien der geringe zeitliche und finanzielle Aufwand bei der Planung und Organisation. Hinzu komme der psychologische Langzeiteffekt, der durch Selbstmordattentate bei der Bevölkerung und bei den Sympathisanten erzeugt wird. So werde einerseits ein lang anhaltendes Gefühl von Angst und Schrecken in der Gesellschaft erzeugt, andererseits würden Anhänger diese Selbstmordattentate als große Erfolge aufnehmen. Außerdem könnten sich Sympathisanten dadurch animiert fühlen, ebenfalls Selbstmordattentäter zu werden. Ferner sei das Sicherheitsrisiko für die Organisation minimal, weil der Attentäter "nichts mehr verraten kann".
Sind Selbstmordattentäter Märtyrer?
Bleibt die Frage, was Menschen dazu veranlasst, Selbstmordattentate als rationale Handlungen zu begreifen. Und zwar erscheint Menschen, die ein Selbstmordattentat planen, ihre Handlung deshalb als rational, weil sie meinen, damit "einer höheren Sache zu dienen". Ihre Handlungsweise kann deshalb nach Expertenmeinung als altruistisch betrachtet werden. Das heißt: Selbstmordattentäter können der Kategorie der altruistischen Selbstmorde zugeordnet werden, weil sie den Wert ihres eigenen Lebens geringer schätzen als die Ehre einer Gruppe, einer Religion oder den Wert anderer kollektiver Interessen. Weil sie aus idealistischen Motiven ihr Leben opfern, gelten Selbstmordattentäter in der islamischen Welt auch als Märtyrer.
Hier hat sich – so der frühere bayrische Kultusminister und Politikwissenschaftler Hans Maier - eine Auffassung des Martyriums durchgesetzt, die sich sowohl von der islamischen als auch von der jüdischen und christlichen Überlieferung deutlich unterscheide. Denn traditionell gelte jemand als Märtyrer, der bereit ist, für seinen Glauben zu sterben, der also, weil er eine Wahrheit bezeugt, zum Opfer wird, zum Blutzeugen (wie der hier abgebildete St. Nepomuk). Er suche aber das Lebensopfer nicht - und schon gar nicht nehme er andere mit in den eigenen Tod. Selbstmordattentäter seien also zum einen tatsächlich Märtyrer, weil sie sich für etwas aufopfern, woran sie glauben, aber gleichzeitig seien sie auch Mörder. Im Islamismus ist folglich für Maier die Grenze zwischen Martyrium und Selbstmord, Blutzeugnis und mörderischem Kampf verwischt worden. Resultat sei das Phänomen des "frommen Mörders", des "Mörders mit dem reinen Gewissen."
In dieser Sichtweise besteht auch eine enge Verbindung zwischen Martyrium und Paradies. So sind die Selbstmordattentäter davon überzeugt, sofort nach ihrem Tod als Belohnung für ihr Tun ins Paradies zu kommen. Und diese "Vorzugsbehandlung" gilt ihrer Meinung nach auch für ihre Angehörigen. Letztere werden außerdem bereits in ihrem irdischen Dasein entschädigt. So wird Hinterbliebenen von "Märtyrern" oftmals eine Summe aus Fonds ausgezahlt, die extra für diesem Zweck eingerichtet worden sind. Diesbezüglich haben Selbstmordattentäter also auch egoistische Motive.
Die "Erziehung" zum Selbstmordattentäter
Nach Ansicht des Direktors der Klinik für Psychiatrie der Universität Graz, Professor Dr. Dr. Hans-Peter Kapfhammer, durchlaufen Jugendliche, die sich einer islamistischen Terror-Organisation angeschlossen haben, hier einen Sozialisationsprozess, durch den sie zu Selbstmordattentätern "abgerichtet werden", wobei dieser Prozess an die Erfahrungen, die die Jugendlichen in ihrem sozialen Umfeld gemacht haben, und die psychischen Dispositionen, die sie aufgrund dieser Erfahrungen erworben haben, anknüpft.
Das heißt: Die Betreffenden sind aufgewachsen in einer seit Jahrzehnten von politischer Gewalt beherrschten Region und sind entweder unmittelbar und persönlich solchen traumatischen Gewalterfahrungen ausgeliefert gewesen oder sind Zeugen davon geworden. Und nicht nur das: Die Bevölkerung dieser Region ist geprägt von einem Gefühl ewiger historischer Ungerechtigkeit, politischer Unterwerfung, militärischer Unterdrückung, sozialer Demütigung u. a., das von Generation zu Generation weitergegeben wird und die traumatischen Erfahrungen der Jugendlichen noch verstärkt. Resultat ist bei diesen eine individual-psychologische Ausrichtung, die sie für die Inhalte der Schulung in der Terror-Organisation empfänglich macht. Dabei geht es insbesondere darum, das brennende Gefühl, Ungerechtigkeit und zahlreichen Demütigungen durch den jeweiligen "Feind" ausgesetzt zu sein, einmünden zu lassen in den Wunsch nach Rache und Vergeltung sowie das Erleben der eigenen Machtlosigkeit umzuwandeln in ein Gefühl der ultimativen Macht über das eigene und eine Vielzahl anderer Leben. Gleichzeitig wird den Jugendlichen suggeriert, die Bereitschaft, "sich für eine höhere Sache aufzuopfern", sein Ausweis einer moralischen Überlegenheit gegenüber dem verhassten Gegner.
Leiden potenzielle Selbstmordattentäter an einer psychischen Störung?
Die Überlegungen von Professor Kapfhammer zur Vorgeschichte von Selbstmordattentätern könnten auch so gedeutet werden, dass bei den Betreffenden die anhaltenden Traumatisierungen psychische Störungen ausgelöst haben, so dass im Extremfall die normale narzisstische Besetzung des Selbst zu einem bösartigen Narzissmus entartet ist.
Konkret bedeutet dies, dass traumatisierte Persönlichkeiten dann zu menschlichen Bomben werden, wenn sie es nicht schaffen, ihr narzisstisches Gleichgewicht mit den üblichen Mitteln, also vor allem mit Hilfe von Beziehungen zu anderen Menschen oder mit tröstenden Phantasien, zu erhalten, sondern stattdessen Ideen von grandioser Überlegenheit und Allmacht entwickeln, wobei diese Ideen von einem religiös-politischen Fanatismus herrühren, wie er für islamistische Organisationen typisch ist. Warum aber wird durch die Verbindung mit Fanatismus der Narzissmus dermaßen explosiv?
Fanatismus und Fundamentalismus
Das ursprüngliche Kernmotiv des Fanatismus ist das Ergriffensein und die Begeisterung von hohen ethischen Werten und Menschheitszielen. Der Fanatismus erwächst also aus bestimmten ideellen Einstellungen und Identifikationen mit hohen Zielen, er wurzelt seinem Wesen nach in den hellen, ideell ausgerichteten Bereichen der menschlichen Psyche.
Eine destruktive, fundamentalistische, Form nimmt der Fanatismus an, wenn er eine rigide Antwort ist auf Wertepluralismus, wenn also ein Pluralismus kultureller, politischer und religiöser Wertvorstellungen nicht als befreiend empfunden wird, sondern als bedrohlich. Das heißt: Bei dieser Form von Fanatismus wird die gleichzeitige Gültigkeit verschiedener Lebens- und Glaubensformen abgelehnt und nur einer einzigen das Existenzrecht zuerkannt. Und dieses Beharren auf der alleinigen Gültigkeit und Verbindlichkeit einer ganz bestimmten Lebens- und Glaubensform vermittelt Sicherheit. Die Suche nach Sicherheit durch Identifikation mit einer bestimmten Lebens- und Glaubensform ist das wesentliche Merkmal fundamentalistischer Positionen. Der islamische Fundamentalismus, der Islamismus, stellt somit wie alle Fundamentalismen ein schützendes Sicherungs- und Verankerungssystem dar, das gegen alle Unsicherheiten und Zweifel abschottet. Daraus erklärt sich die oft schroffe Abgrenzung, die aggressive Zurückweisung anderer Ansichten und Lebensformen, das Schüren von Hass und Ressentiments gegenüber Fremden und Andersdenkenden.
Tugendfanatismus und Moralvergiftung
Man könnte den fundamentalistischen Fanatiker in Anlehnung an Überlegungen des Philosophen Jean-Claude Wolf zur Moral als Quelle des Bösen auch beschreiben als einen Tugendfanatiker, der aufgrund der Maßlosigkeit der moralischen Forderungen, die mit dem Glauben an eine einzige, allein selig machende Doktrin einhergeht, an einer Moralvergiftung leidet. Das heißt: Der fundamentalistische Fanatiker wird gerade durch seinen hohen Idealismus, durch die Stärke seiner moralischen Überzeugungen, zu einer Inkarnation des Bösen.
Und zwar ist es zumeist ein charismatischer Führer, der die Moralvergiftung, die er selbst erlitten hat, an andere weitergibt. Man kann in diesem Zusammenhang auch von einem perversen Immoralismus sprechen, bei dem zu viel Moral unbewusst und unverarbeitet verinnerlicht wurde oder die bewusste Aneignung nicht kritisch genug und allzu distanzlos war und bei dem die moralischen Prinzipien, die verinnerlicht wurden, ganz von Wünschen und Neigungen abgekoppelt sind, während gleichzeitig gewisse moralische Hemmungen und Rücksichten sowie Gefühle wie Mitleid gänzlich fehlen.
Dabei ist von entscheidender Bedeutung, dass diese Moralvergiftung anknüpft an die psychische Labilität, den Selbsthass, des fundamentalistischen Fanatikers und diesen zu überwinden verspricht. Das heißt: In der Psychodynamik des fundamentalistischen Fanatikers, in seinem innerseelischen Kräftespiel der Beweggründe, Bedürfnisse und Interessen, spielt die Kompensation eines persönlichen Defizits eine entscheidende Rolle. Aber unter den politischen und gesellschaftlichen Bedingungen, die sein Leben bestimmen, gelingt ihm diese Kompensation nur durch die Übernahme einer rigiden Moral.
Und dies macht ihn anfällig für eine politisch-religiöse Ideologie, die vorgaukelt, unverrückbare Wahrheiten zu vertreten, wobei der Anspruch, "auf der richtigen Seite zu stehen", und mit seinen Vorstellungen und Zielen "rechtzuhaben", letztlich über das Leben anderer und die geltenden Gesetze gestellt wird. Aufgrund der Moralvergiftung, an der er leidet, hält der fundamentalistische Fanatiker die Gewalt, die er ausübt, mit anderen Worten für restlos legitimiert.
Schlusswort
Für mich liegt es auf der Hand, dass die Anführer der terroristischen islamistischen Organisationen, die derzeit die politische Agenda bestimmen, an der beschriebenen Moralvergiftung leiden und diese an ihre Anhänger weitergeben. Und dass letztere dafür empfänglich sind, liegt an dem politischen, sozialen und religiösen Umfeld, in dem sie leben. Das heißt: "Es macht etwas mit den Menschen", wenn sie in einem Umfeld aufwachsen, das von Hass, Gewalt und Ungerechtigkeit geprägt ist. Das geht an niemandem spurlos vorüber! Wer also gegen die Geißel des Selbstmordattentats vorgehen will, muss dafür sorgen - so schwer es auch erscheint und wie lang der Weg dorthin auch sein mag - dass möglichst überall auf der Welt die Menschen in einer friedlichen Umgebung leben können.
Quellen:
https://www.bpb.de/politik/extremismus/islamismus/36382/selbstmordattentaeter?p=all
http://www.con-spiration.de/texte/2008/maier.html
http://www.bmi.gv.at/cms/BMI_SIAK/4/2/1/2010/ausgabe_3/files/Stolt_3_2010.pdf
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-48753342.html
http://www.psychosoziale-gesundheit.net/psychiatrie/Suizid-terrorismus.htm
http://www.psychosoziale-gesundheit.net/pdf/faust1_narzissmus.pdf
http://www.psychosoziale-gesundheit.net/pdf/faust1_fanatismus.pdf
Jean-Claude Wolf, Das Böse als ethische Kategorie, Passagen-Verlag, Wien 2002
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