Von wegen Garten Eden!

England im ausgehenden 19. Jahrhundert: Ein versponnener Tüftler und Erfinder erklärt seinen verblüfften Freunden, dass er eine Zeitmaschine gebaut habe. Später reist er tatsächlich in die Zeit, genauer gesagt in das Jahr 802.701 n. Chr., eine verständlicherweise völlig andere Welt. Zunächst wähnt er sich in einer Art Garten Eden, als er von den naiv-kindlichen Eloi neugierig begrüßt und in ihrer Mitte aufgenommen wird. Rasch wird ihm klar, dass diese ausnehmend hübschen, wie intellektuell anspruchslosen Nachkommen unmöglich ihre Kleider genäht und ihre Nahrung angebaut haben können. Dennoch macht er gute Miene zum unverständlichen Spiel und findet in der schönen Weena eine treue Gefährtin.

Doch ein dunkles Geheimnis scheint über dieser Welt zu liegen. Denn aus ihm unerfindlichen Gründen fürchten die Eloi die Finsternis. Der Grund hierfür dräut ihm mit anwachsendem Entsetzen, als nachts seine Zeitmaschine verschleppt und offenbar in eine riesige Sphinx verfrachtet wurde. Ehe sich der Zeitreisende näher mit dem Verschwinden seiner Apparatur befassen kann, begreift er, woher die Eloi ihre Lebensgrundlagen beziehen: Diese werden von den unterirdisch hausenden Morlocks, an die Dunkelheit gewöhnte, zu hässlichen Affenwesen degenerierten Menschen produziert und den Eloi überlassen, um sie wie Vieh züchten und schließlich schlachten zu können. Nachts, wenn die Eloi schlafen und die Morlocks das Sonnenlicht nicht mehr fürchten müssen, wird die Ernte eingeholt. Der Zeitreisende nimmt den Kampf mit den Kannibalen auf …

Pessimist H. G Wells

H. G. Wells - Die ZeitmaschineNun kann man von den literarischen Fähigkeiten eines Herbert George Wells halten, was auch immer man möchte. Seine Verdienste insbesondere für die Science Fiction sind unbestreitbar. Mit der gegenständlichen Zeitmaschine, bösartigen Invasoren vom Mars, dem modernen Dr. Frankenstein Moreau, der auf einer abgelegenen Insel wahnsinnige Genexperimente durchführt, und dem unsichtbar machenden Serum, schuf er gleich mehrere klassische Motive des Genres, die in zahlreichen Variationen immer wieder aufgegriffen werden. Zugegeben: Völlig neu waren Wells‘ Entwürfe zwar nicht, doch entwickelte er in seinen Romanen und Kurzgeschichten vorhandene Ideen weiter und setzte sie in einen völlig neuen Kontext. Ein besonders anschauliches Beispiel hierfür ist sein Roman "Die Zeitmaschine". Das Konzept einer Zeitreise war bereits zuvor immer wieder literarisch verarbeitet worden. Allerdings wurde es von Wells auf die Spitze getrieben, indem er dem Motiv erstmals einen wissenschaftlichen Anstrich verlieh. Reiste der Protagonist in Mark Twains "Ein Yankee am Hofe des König Artus" noch unbeabsichtigt durch die Zeit, nachdem er sich eine Kopfnuss eingefangen hat, findet die Zeitreise in Wells‘ Roman vor dem Hintergrund kühlen Erfindungsgeistes statt. Interessanterweise war der Brite notorischer Pessimist und keinesfalls davon überzeugt, dass der technologischen Weiterentwicklung eine ebensolche auf geistiger und moralischer Ebene der Menschheit folgen würde, was ihn von vielen Zeitgenossen unterschied.

Zum Verständnis des Romans muss man zudem seine politischen und gesellschaftlichen Überzeugungen anführen: Wells war überzeugter Sozialist und Marxist, sowie lange Zeit glühender Verfechter der Eugenik. Vom stalinistischen Terror distanzierte er sich jedoch später und die von den USA ausgehende eugenische Bewegung erfreute sich großer Popularität unter vielen Intellektuellen seiner Zeit, wie G. B. Shaw oder der Frauenrechtlerin Margaret Sanger. Pervertiert wurde diese Bewegung natürlich durch das verheerende Wirken der Nazis, was in dieser Form von den Befürwortern nicht beabsichtigt war.

Der gesellschaftskritische Seitenhieb auf die enormen Klassenunterschiede unter der britischen Krone sind unverkennbar und werden auf die Spitze getrieben: In der "Zeitmaschine" werden die Kinder nicht von der industriellen Revolution, sondern von der degenerierten Unterschicht gefressen, buchstäblich (übrigens keine völlig neue, makabre Idee: Jonathan Swift hatte 200 Jahre zuvor in einem satirischen Essay vorgeschlagen, die Kinder Irlands als Nahrung heranzuzüchten, was ungeheure ökonomische Vorteile brächte). Zweifellos beeinflussten Marx‘ Schriften den Autoren dahingehend, das Konzept der Klassengesellschaften ironisch zu brechen und es gleichermaßen evolutionär ans Ende der Fahnenstange zu treiben. Hier die naiven Eloi, Nachkommen einer dekadenten Oberschicht, dort die Morlocks, in den Untergrund getrieben, vom Fleische der Eloi abhängig. Man könnte sogar der Interpretation anheimfallen, wonach die Eloi die besitzende Klasse des wichtigsten Kapitals dieser zukünftigen Welt seien: Ihrer Körper.

Wells entspann somit keine Utopie, sondern eine Dystopie, die im letzten Abschnitt in der Reise ans Ende der Zeit endet: Der sterbenden Erde in ihrem letzten Lebenszyklus. Aus seinen Abenteuern gewinnt der Erfinder letztendlich niederschmetternde Einsichten: Die Hoffnung auf eine "bessere" Zukunft entpuppt sich als illusorisches Luftschloss, denn die Evolution unserer eigenen Spezies wendet unser Schicksal nicht zwangsläufig zur Überwindung der Klassengegensätze. Natürlich empfindet der namenlose Reisende die kannibalistischen Morlocks als Monster und die Eloi als bedauernswerte Geschöpfe. In einem größeren Rahmen betrachtet erscheint die Beziehung zwischen Morlocks und Eloi symbiotisch: Das unbeschwerte Leben der Eloi ist dem Fleiß der Morlocks geschuldet – die Oberirdischen können ohne die Unterirdischen nicht existieren, und umgekehrt.

Abseits der politischen und gesellschaftlichen Implikationen (und ironischen Überspitzungen) bietet "Die Zeitmaschine" spannendes, wiewohl nachdenklich stimmendes Lesevergnügen. Wie später in seinem Bestseller "Krieg der Welten" bleibt der Protagonist namenlos, oder wohl besser umschrieben: Anonym. Dadurch vermied es Wells, zwischen Leser und Erzähler emotionale Tiefe aufzubauen und lässt ihn das Geschehen in geradezu nüchterner Wissenschaftlichkeit darlegen, als betrachte er seine eigenen Erlebnisse unter einem Mikroskop. Dieser Ansatz wurde bei den Verfilmungen ins Gegenteil verkehrt, wenn der Zeitreisende emotional aufgewühlt wird und sich den jeweiligen popkulturellen Apokalypse-Szenarien seiner Zeit – in George Pals Version aus 1960 hat ein Atomkrieg die Erde verwüstet, 2002 eine globale Katastrophe in Folge der Umweltzerstörung – stellen muss. Wells hingegen betrachtete die Evolution der Menschheit in Eloi und Morlocks von einem darwinistischen Standpunkt aus und ließ den moralisch erhobenen Zeigefinger stecken. Seine moralischen Ansichten verbargen sich zwischen den Zeilen, was natürlich mehr Mühe des Leser erfordert, als plakativ auf die Verdorbenheit der Menschen hingewiesen zu werden. Andererseits speist sich ein Teil des Lesevergnügens eben daraus, die offensichtliche, aber auch versteckte Gesellschaftskritik herauszufiltern.

Interessant ist neben dem Umstand, dass die Funktionsweise der Zeitmaschine selbst nicht näher beschrieben wird (was bei modernen High-Tech-Thrillern meist in haarsträubender Pseudo-Wissenschaftlichkeit ausartet) der unterschwellige Pessimismus, der wie so viele andere Werke von H. G. Wells auch in der "Zeitmaschine" evident wird: Die Zukunft hält für die Menschheit eine zunehmend leblosere Welt bereit, anstatt des erhofften Utopia. Ähnliches lässt sich bei "Krieg der Welten" beobachten, wo die Invasoren zwar besiegt werden, jedoch eine in Trümmer liegende Zivilisation zurücklassen. Dass der 1946 verstorbene Wells unter anderem beide Weltkriege und den Einsatz der Atombombe miterlebte, dürfte ihn in seinem Pessimismus wohl nur bestärkt haben.

Anmerkung zum Cover der aktuellen Taschenbuchausgabe: Die Illustration stammt aus H R. Gigers Entwürfen zur "Dune"-Verfilmung David Lynchs aus 1984 und steht in keinerlei Verbindung zum Roman "Die Zeitmaschine".

Originaltitel: The Time Machine

Autor: H. G. Wells

Veröffentlichungsjahr: 1895

Seitenanzahl: 160 Seiten (Taschenbuchausgabe)

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