So ganz neu ist das Interesse am Urin nicht, denn schon seit längerer Zeit empfehlen Anhänger der gesunden Lebensweise das Trinken des Säuerlings aus eigener Quelle als wahres Allheilmittel. Zwar sträubt sich der gesunde Menschenverstand mit dem durchaus einleuchtenden Einwand, warum er sich denn einflößen solle, was sein Körper gerade aufwendig entsorgt hat. Aber vergeblich, wenn die alten Ägypter, Griechen, Römer, Inder usw. ihre Gebrechen mit den Ausscheidungen von Mensch und Tier kurierten, kann ein moderner Mensch doch nicht die Nase rümpfen.

Allheilmittel Urin

"Der eigene Urin getrunken, hilft gegen den Biss der Viper, gegen tödliche Gifte und beginnende Wassersucht", schrieb im 1.Jahrhundert n. Chr. der griechische Militärarzt Pedanios Dioskurides in seiner Arzneimittellehre. "Er hilft gegen den Stich des Meerigels, und des Skorpions und ist ein Mittel bei Lepra und Jucken. Auch das liebe Vieh trug zur Gesundung bei: 2 Becher Ziegenharn sollen das unter dem Fleische gebildete Wasser abführen und bei Ohrenleiden heilen, wusste der Gelehrte zu berichten.

Die goldene Quelle

Das bequem verfügbare Nass kam erst aus der Mode, als man im 19. Jahrhundert die Bakterien entdeckte und Ärzte seitdem von seinem Gebrauch abrieten. Aus dieser Versenkung in den schulmedizinischen Untergrund tauchte es 1988 urplötzlich wieder auf, nachdem ihm die Journalistin Carmen Thomas erst Rundfunksendungen und danach ein Buch gewidmet hatte. Diese erste öffentliche Harnschau wirkte wie ein Dammbruch und wer immer Wasser und Tinte nicht zu halten vermochte, sonderte etwas zum Thema ab. Eine wahre Bücherflut aus goldenen Fontänen, Ur- und Lebenssäften ergoss sich übers Land. 

Noch schwärmten die Begeisterten von der vielseitigen Verwendbarkeit des flüssigen Goldes als Haarpflegemittel, Aftershave und Vaginalspülung. Gegen Pickel und Falten sollte es ebenso helfen, wie gegen jedes Zipperlein von Anämie bis Zoster.Gurgeln bei Husten und Heiserkeit, Einreiben bei Depression und Müdigkeit, Mund- und Nasenspülungen zur Entgiftung und reflektorischen Anregung oder Urineinläufe zur Aufmunterung der Darmflora - das alles und vieles mehr findet sich in den einschlägigen Ratgebern.

Geschichte der Eigenharntherapie

Schon damals weckte der Harn geschäftliche Interessen. Man sah Urin nicht nur als ein vom Körper ausgeschiedenes Sekret, sondern als etwas ganz besonders Geheimnissvolles an. Aus diesem Grund hatten es die Alchimisten bei ihrer Suche nach dem Stein der Weisen auf den menschlichen Urin abgesehen, um daraus Gold zu kochen. Sie entdeckten zwar nicht den Nierengrieß, sondern das Element Phosphor. Also genau den Stoff, auf dessen Verzehr nach heutigen Erkenntnissen bei eingeschränkter Nierenfunktion verzichtet werden sollte, denn er muss bei diesen Krankheitsbildern per Dialyse abgebaut werden.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Eigenharntherapie durch den britischen Autor John W. Armstrong bekannt. Armstrong hatte sich seinen eigenen Angaben zufolge durch ein 45-tägiges Fasten, während dessen er ausschließlich Wasser und seinen eigenen Urin zu sich genommen habe, von einer als "unheilbar" diagnostizierten Tuberkulose kuriert. Auslöser für seinen Versuch war das Kapitel 5, Vers 15 des alten Testaments: "Trinke Wasser aus deiner Zisterne und was quillt aus deinem Brunnen". Der Schönheitsfehler daran ist, dass sich der Bibeltext nicht auf die Eigenharnbehandlung bezieht, sondern eine Warnung an Männer, Ehebruch zu begehen, enthält.

Seine Erfahrungen beschrieb er in dem 1944 erschienenen Buch "The Water of Life". Eine Kernaussage war, dass die Diagnose bei der Eigenurintherapie unwichtig sei, da nahezu alle Krankheiten auf diese spezielle Therapie ansprechen würden.

Wenn im Urinal der Zeitgeist weht

Doch inzwischen verebbt der anrüchige Trend, die euphorischen Artikel tröpfeln nur noch. Jeder Supplemente-Händler weiß: Wer seine "Nahrungsergänzung" zum Nullnull -Tarif per Ausscheidung selbst produziert, scheidet natürlich auch als Kunde aus. Prompt weht der Zeitgeist aus einer anderen Richtung. Jetzt ist das Gegenteil wahr: Die einstmals "goldene Fontäne" schützt nicht mehr vor all den genannten Gebresken, sondern enthält deren Ursache. Die Menschheit leidet nun kollektiv unter "Übersäuerung", erkenntlich am sauren, krankheitsträchtigen Urin. So boomen nun die "Basenpulver". Aber wer weiß, mit dem richtigen Pülverchen darf die Kundschaft vielleicht doch wieder am "Selbstgezapften" nippen....

Klaus_Radloff, am 26.09.2010
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