Empörungslust gegen Alltagsfrust

Zu den harmloseren Alterserscheinungen zählt die Retrospektive. Was einem als Kind an Omi und Opi noch tierisch nervte – "Also, wie ich noch ein Mäderl war, da haben wir das nicht dürfen!" -, übernimmt man mit zunehmendem Alter selbst. Man beginnt, über die heutige Musik den Kopf zu schütteln und sich daran zu erinnern, wie toll doch nicht früher, als man noch jung war, viele Bands waren, und dass früher noch gute Filme gemacht wurden, nicht diese seelenlosen Blockbuster, und überhaupt war es damals einfach besser. Stimmt das überhaupt? Vermutlich nicht, denn das Gehirn ist selektiv und vergisst gerne all den Mist früherer Jahrzehnte.

Eingedenk dessen lässt sich aber im Deutschland des 21. Jahrhunderts ein seltsames Phänomen beobachten, das gerne schon mal mit der Vergangenheit liebäugeln lässt. Ich nenne es die "Empörungslust". Sicher, empört wurde sich zu allen Zeiten und in allen Kulturen. Doch auch hierbei treiben es die Deutschen auf die Spitze: Was die Hysterie und Absurdität anbelangt, können sogar die Amis mit ihrer political correctness noch was von uns lernen. Beispiel gefällig? Aber gerne doch! In einem bayerischen Kuhdorf (er hat Kuhdorf gesagt! #aufschrei!) rollt während des Faschingsumzugs eine Panzerattrappe durch die Straßen, darauf die Aufschriften "Ilmtaler Asylabwehr" und "Asylpaket III". Das wäre ja offenbar schon schlimm genug, aber, Zitat der Augsburger Allgemeinen Zeitung: "Und die Deutschlandfahne darf natürlich nicht fehlen."

In Deutschland Fahne zeigen, ist natürlich kein Problem. Aber doch bitteschön nicht die eigene! Was soll denn die Welt von uns denken. Das hat auch die Rautistin des Landes (tuschel, räusper, Deutschland, hüstel) erkannt und entschieden gehandelt:

Jedes einzelne Teilchen wäre für sich genommen schon schlimm genug gewesen, aber die Kombination Panzer, Asyl und Deutschlandflagge, das war eindeutig zu viel des Schlechten! Glücklicherweise gibt es noch tapfere Recken wider menschliche Abgründe wie diesen. Der Schauspieler und nunmehrige Politiker Florian Simbeck hielt den Schreckensanblick für künftige Generationen fotografisch fest und postete ihn auf Facebook. Damit kamen die Räder, pardon: Steine erst so richtig ins Rollen. Praktischerweise kann man in der Woge der Empörung auch gleich das AfD-Aushängeschild Frauke Petry mitdümpeln und ihr wieder einmal einen "Schießbefehl" an der Grenze unterstellen.

Diesen Begriff hat sie meines Wissens nach – ich entschuldige mich, sollte ich irren – nicht benutzt, sondern sich für einen Grenzschutz notfalls auch mit Waffengewalt ausgesprochen, also etwas, das so ungefähr von allen halbwegs intakten Staaten mit Politikern, die ansatzweise noch über Gehirnfunktionen verfügen, praktiziert wird. Egal: Die Empörung ist da, der Vorwurf der Volksverhetzung trabt freudig erregt herbei, geifernd tropft ihm der warme Speichel der Heuchelei aus den Lefzen, und wir befinden uns mitten im schönsten deutschen Empörungsporno. Im Ausland sind deutschsprachige Begriffe wie Schadenfreude oder Angst längst ein Begriff. Empörungslust muss unbedingt noch auf die to-do-Liste der Kulturexporteure! Ich meine, sind wir Exportweltmeister oder nicht? Eben.

Die versprochenen Panzer für die Ostfront sind zwar endlich eingetroffen, aber ... (Bild: https://pixabay.com)

Freiheit der Satire? Klar, ABER ...

Und schon geht alles seinen mittlerweile gewohnten Gang: In sozialen Netzwerken wird heftig debattiert, ob man im Fasching mit einer Panzerattrappe durch die Fauna und Flora tuckern darf, oder ob das schon Autobahn ist. Beim für den GAU (Größtmöglicher absurder Unsinn) zuständigen Karnevalsverein dürften Kreuzschmerzen vor Buckeln und Entschuldigen vorherrschen, und auch die Polizei gerät ins Visier: Hat sie nicht entschieden genug eingegriffen? Oder wie es der stets um objektive Darstellungen und schonungslosen Journalismus bemühte "Spiegel" (aktuelles Cover mit Frauke Petry: "Die Hassprediger") unaufgeregt benennt:

"Die Polizei hatte den Panzer nach Angaben eines Sprechers nicht angehalten, da es zwar den Anfangsverdacht der Volksverhetzung gebe, allerdings auch die Kunstfreiheit eine Rolle spiele."

Zur Ehrenrettung der Polizei: Leider existiert ja immer noch dieser neo-liberale, bestimmt rechtsrechte Kampfbegriff der "Kunstfreiheit", unter der sich abartige Umtriebe verstecken können. Das Heimtückische an der Freiheit der Kunst ist ja, dass sie blöderweise irgendwie für alle gilt, also nicht nur für die Guten, sondern auch für jene, die von den Guten als böse erachtet werden. Man stelle sich bloß mal vor – ich weiß, das ist ein absurdes Szenario! -, ein Deutscher würde sich mit Kanak Sprak ganz offensichtlich über Migranten lustig machen. Wäre das noch Kunstfreiheit? Oder kann, ja, muss das weg?

Je suis Rainer!

Apropos "Kunst" und "Freiheit": Erinnern Sie sich an den Jänner 2015, als die Redaktion des Satiremagazins "Charlie Hebdo" von religiös verwirrten Einzeltätern in den Permanent-Ruhestand versetzt wurde? Und wie plötzlich ganz Deutschland voll und ganz hinter der Freiheit von Satire und Meinung stand? War das nicht ergreifend, wie sich Helldeutschland ausgerechnet mit Frankreich solidarisierte und Facebook-User die Attentate nicht nur verurteilten und sich ganz betroffen zeigten, sondern ihre selfies mit der Tricolore als Hintergrund versahen? Als vor wenigen Wochen acht Deutsche bei einem Terroranschlag in Istanbul getötet wurden, kam es zu keiner Solidarisierungswelle. Das sollte freilich nicht verwundern: Wenn in den USA jemand erschossen wird, implodieren die Foren auch nur dann, wenn das Opfer ein Schwarzer und der Täter ein Weißer war. Sämtliche anderen Konstellationen interessieren exakt Bockwurst.

Ja, natürlich sind wir für die Kunst- und Meinungsfreiheit, aber man darf sie doch bitte nicht dermaßen schamlos ausnutzen, indem man sie auch praktiziert! Den Papst mit vollgeschissenen Hosen karikieren, das ist ja die eine Sache. Das kann man lustig finden oder auch nicht. Aber unflätig über den Islam herziehen, also bitte, das ist einfach nur menschenverachtend, rassistisch und sonst noch irgendwas, das ich gerade vor Empörung nicht aussprechen kann.

Noch ahnten Peggy und Elsa nicht, dass das Ganze eine Falle war ... am Ende der Straße stand ein McDonald's! (Bild: https://pixabay.com)

Je suis Solidaritäts-Heuchler

Ja, klar, im Fasching gilt die Narrenfreiheit, aber das darf man doch nicht so wörtlich nehmen! Es gibt auch noch einen guten Geschmack, und den bestimmen die Hüter von Anstand und Moral. Im Jahr 1 nach "Charlie Hebdo" haben nicht die Islamisten, sondern die deutschen Empörungs-Taliban gewonnen. Da reicht die anzügliche Bemerkung eines Altpolitikers für einen Shitstorm und wochenlange, erregte Diskussionen. Wenn in Köln offenbar ein paar Frauen von Mitmenschen angeblich männlichen Geschlechts (bitte nicht missverstehen: Ich weiß natürlich, dass das Geschlecht ein soziales Konstrukt ist, das von faschistischen Männerbünden oktroyiert wird) tendenziell an möglicherweise unangebrachten Stellen kontaktiert wurden, muss man selbstverständlich erst einmal die Ruhe bewahren und darf keinesfalls hysterisch werden oder gar Sanktionen gegen die Missverstandenen fordern. Zwischen hysterischer Empörung und ein bisschen Nachtreten gegen die vermeintlichen oder tatsächlichen Opfer liegt das neue Maß der Armleuchterlänge.

Der Armleuchter ist dadurch gekennzeichnet, dass er das Lichtlein außen trägt, nicht im Oberstübchen, wo es zapperduster geworden ist. Und deshalb merkt der Armleuchter gar nicht mehr seine eigene Unterbelichtung, wenn er sich darüber freut, dass es während des Düsseldorfer Karnevals lediglich zu rund einem Dutzend Anzeigen wegen sexueller Nötigung (sprich: Armlänge nicht eingehalten, der Lauser!) gekommen ist, und das bei einem Großaufgebot der Polizei. Vielleicht halfen ja auch die "Security Points für Frauen" mit, das Schlimmste wie zu Silvester in Köln, als schamloses Weibsvolk sich hilflosen jungen Männern förmlich an den Schritt schmiss, zu verhindern.

"Je suis ... l'état!!" (Bild: https://pixabay.com)

Wie war das früher? Vor der Empörungslust?

Und dann stellen sich alte, in Lebendmumifizierung begriffene Knacker wie ich Fragen der Sorte: Wie war das eigentlich früher, als ich noch jung war? Die Antwort, einem müden Echo aus längst verblichenen Tagen gleich, lautet: Da gab es keine Sicherheitszonen für Frauen. Ihnen wurde auch nicht geraten, Pfefferspray einzustecken und niemals alleine irgendwo hin zu gehen. Selbst bei großen Umzügen standen alibimäßig höchstens ein paar Bullen herum, die gelangweilt in die Gegend stierten und allenfalls bei Wirtshausschlägereien eingriffen. Zog ein besoffener Vollhonk an den Glocken einer Maid, scheuerte ihm diese eine, dass er die Glöcklein läuten hörte. Und wenn er immer noch nicht genug hatte, gab es von den Umstehenden eine an die Denkmurmel. Das war nicht unbedingt schön und aus links-pazifistischer Sicht unmenschlich, denn Gewalt löst keine Probleme, aber … nun ja, Gewalt löst Probleme eigentlich doch recht ordentlich, wenn man es genau nimmt. Der Vollhonk hatte noch ein paar Tage lang so einen Schädel und ein Veilchen, aber die Sache war damit gegessen und der Lerneffekt tendierte gen 100%.

Vor allem aber hätte man über einen Panzer bestimmt geredet, manche hätten gelacht, andere hätten ihn geschmacklos gefunden. Mit Sicherheit wäre jedoch keiner heulend zur Polizei und zur Presse gelaufen, da es früher so etwas wie ein persönliches Gespräch gab. O Gott, wie altmodisch: Anstatt die halbe Weg zu benachrichtigen, wie erschüttert, entsetzt oder abgestoßen man doch nicht sei, suchte man das persönliche Gespräch. Also ganz ohne "Bild"-Schlagzeile mit großer Abstimmung, bitte alle mitmachen, die sonst keine Freude im Leben haben, Facebook und Twitter. Nö, man redete einfach miteinander. Die Empörung galt den großen Skandalen und Ungerechtigkeiten. Aber das ist so wie mit einer Droge: Man nimmt ab und an was, findet Gefallen daran, hey!, das Zeug haut voll rein!, dann braucht man mehr, und mehr, und mehr, und irgendwann könnte man sich around the clock daran begeilen.

Alkoholiker-Seance: Wenn sich alles um mich dreht, ist das ein Zeichen aus dem Jenseits, dass ich weitersaufen soll (Bild: https://pixabay.com)

Fazit: Alles ist scheiße

Denn, was am Schönsten an der Empörungslust ist: Jeder kann mitmachen! Und man kann sich über alles empören! Das ist Basisdemokratie, Leute. Klar: Man kann sich über eine angeblich oder tatsächlich sexistische Werbung empören, so unwichtig diese auch sein mag. Aber jetzt kommt's: Man kann sich über die Empörten empören! Und diese wiederum können sich darüber empören, dass es Leute gibt, die sie bekloppt heißen. Folgerichtig sind wir gemäß Zirkelschluss alle Empörte. Wie im Fall des Umzugspanzers. Sehen Sie, was passiert ist? Eine Empörungswelle wurde losgetreten, und plötzlich fühlen sich Überlebende aus der Steinzeit wie ich bemüßigt, darüber zu schreiben, obwohl sie nichts zur unsinnigen Diskussion beizutragen haben. Was sollte man auch Bemerkenswertes darüber schreiben? Sollte man darauf hinweisen, dass Satire weder lustig, noch geschmackvoll sein muss? Dass man sich auch ruhig darüber ärgern und dem anderen schlechten Geschmack vorwerfen darf? Oder dass es auf den kleinsten Nenner gebracht um das dürfen geht? Also nicht um das "sollte man das machen" oder "muss das sein?", sondern um das "muss man nicht, sollte man aber dürfen"?

Wir halten fest: Kunst- und Meinungsfreiheit ist gut, darf aber nicht missbraucht werden. Über diesen Missbrauch wachen weise Tugendwächter, die jeden Verstoß gnadenlos ins Visier nehmen und gegebenenfalls shitstormen und sich empören. Freiheit ist ein zu kostbares Gut, um sie einfach so jedem zu gewähren.

Im Übrigen finde ich den ganzen Fasching und die Menschheit an sich scheiße.

Empörend!

Meine einzige Chance auf weiblichen Körperkontakt (Bild: https://pixabay.com)

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Autor seit 13 Jahren
815 Seiten
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