Kapitel 1

Der letzte Tanz

 

1.

In den tiefsten Frequenzen pumpte der Bass durch die Halle der Essigfabrik. Tausendfünfhundert nachtaktive Menschen folgten intuitiv den rhythmischen, sich ständig wiederholenden Bewegungen des DJ´s, der neben der Musik, die in seinem Laptop erzeugt wurde, unter dem Einsatz seines muskulösen und nackten Oberkörpers, auf verschieden große Trommeln einschlug. Die Menge, aufgepeitscht durch wellenartige Klangkaskaden, dankte es ihm mit euphorischem Jubel und zur Hallendecke hin  ausgestreckten Armen. Nach einer Weile der Betrachtung konnte man nicht mehr unterscheiden, ob die Musik das tanzende Partyvolk stimulierte, oder ob es genau anders herum geschah. Immer, wenn die Musik bei jedem einzelnen den Anschein erweckt hatte, sich ausruhen zu können, drehte sie noch kräftiger an der Intensitätsschraube und riss einen durchschwitzten, völlig entkräfteten aber temporär glücklichen Mob mit sich und schleuderte ihn auf bisher unentdeckte Spielplätze für Erwachsene. Obgleich sie noch stundenlang hätte weitermachen können, bekam sie von ihrem, durch etliche Nächte dieser Art, ausgemergeltem Körper, ein überdeutliches Zeichen, sich möglichst schnell aus der tanzenden Menge zu entfernen. Katja griff sich mit der Hand an ihre Stirn und spürte, dass sie klatschnass und überhitzt war. Der Schweiß lief ihr in dicken Tropfen über die Augen, die Wangen und den Mund. Sie hob ihr T-Shirt hoch, um sich die Feuchtigkeit aus dem Gesicht zu wischen. Ein junger Mann, wenige Meter vor ihr, starrte im Rausch der Musik auf ihren nun freiliegenden Bauch und erkannte, dass sich an ihrem Oberkörper jede einzelne ihrer Rippen abzeichnete. Was er auch gesehen haben mag, seine Reaktion bestand aus einem blitzschnellen Richtungswechsel und der darauf folgenden Flucht in die Mitte der Tanzfläche. Ein paar Mal drehte er sich noch um und vergewisserte sich, nicht verfolgt zu werden. Katja war dies nicht entgangen, woraufhin sie ihr Oberteil wieder nach unten streifte.

"Pappenopfer", dachte sie und setzte ihren Weg an die Theke fort. Dies war der Ort, den sie sich jetzt am sehnlichsten herbeiwünschte. Zum Glück hatte sie in ihrem normalen Leben außerhalb des Clubs einen Job und es daher nicht mehr nötig, wie früher, das muffige Wasser aus den Waschbecken neben den dreckigen und speedverseuchten Toiletten der Locations zu trinken, um nicht völlig zu dehydrieren. Diese Zeiten waren vorbei, doch oft erinnerte sie sich daran, wie es in den Anfängen ihrer Partykarriere zugegangen war.

 

"Ein großes Wasser und einen Wodka-O", brüllte sie in die Richtung des Barmannes, um die laute Musik zu übertönen. Mehr als ein Nicken bekam sie nicht zurück, da eine normale Konversation schlichtweg nicht möglich war, von ihrer momentanen körperlichen und psychischen Verfassung einmal abgesehen. Wenige Sekunden später standen zwei Gläser auf Bierdeckeln vor ihr auf der Theke und sie reichte eine kleine blaue Plastikkarte als Gegenleistung hinüber, die sie nach der elektronischen Bezahlung wieder einsteckte. Lange konnte sie sich nicht mehr in diesem Bereich aufhalten, da ein Platz an der Bar nicht zum Ausruhen gedacht war. Dafür gab es andere Zonen weit von der Tanzfläche entfernt. Mit den Gläsern in ihren Händen zwängte sie sich durch Trauben von wartenden Menschen, die genau wie sie, nach etwas Abkühlung verlangten und ihr im Vorbeigehen allein mit ihren Blicken die Getränke fortnahmen. Tellergroße Pupillen, durch farbige Scheinwerfer, Neon- oder Schwarzlicht zu unwirklichen Sinnesorganen entfremdet, durchdrangen Katja, zogen sie aus, starrten sie an und musterten sie vom Kopf bis zu den Füßen. Sie wusste, dass sie untergewichtig war, es machte ihr nichts aus. Sie konnte so viel essen, wie sie wollte, doch ihr Körper verlor an jedem Wochenende mehrere Kilogramm Flüssigkeit und daher blieb eine Gewichtszunahme aus. Das Wasser trank sie auf dem Weg zur Chillout Ebene ohne abzusetzen aus und ließ das leere Glas auf einem Tisch stehen, an dem sie vorbeiging. Ohne Zweifel würde sich der nächste Freak mit eingeschränkten Barmitteln darauf stürzen, um sich das Pfand an der Theke auszahlen zu lassen. Für zehn Pfandgläser gab es immerhin einen Trip. Katja erreichte einen aus schwarzen Planen, die auf Metallgestellen hingen, geebneten Gang und folgte einem Strom aus verschwitzten Menschen, völlig überdosierten Anfängern und einigen, es war deutlich zu erkennen, sensationsgierigen BWL Studenten, die mal was anderes sehen wollten, als ihre Bücher. Ihre versteinerten Gesichter waren der Beweis, dass sie sogar ganz sicher etwas anderes gesehen hatten und daher suchten sie nach einem Fluchtpunkt, um die Eindrücke zu verarbeiten. Die Wände waren mit selbstleuchtender Farbe bemalt und so kam es Katja vor, als ob sie durch einen bunten Wald voller Fabelwesen spazierte, die sich in leichten Schüben durch ihr Revier bewegten.

 

"Das Acid ist der Hammer", schoss es ihr durch den Kopf und sie war sich vollkommen bewusst, dass ihr Verstand durch das LSD ordentlich umgekrempelt worden war. Es war für sie selbstverständlich, dass sämtliche Abbildungen vielleicht von angehenden Kunststudenten oder Hobbymalern, die eine ähnliche Affinität zur Technoszene hatten wie sie, auf den schwarzen Untergrund gepinselt worden waren, und doch erstaunte es sie immer wieder, wie schnell sich eine unbewegliche und knallbunte Landschaft, in einen Comicstrip für Technofreaks verwandeln konnte. Für einen Moment blieb sie stehen und verlor sich frei von jeglichen Gedanken in der Illusion, bis sie jemand anrempelte und sie in die reale Welt zurückholte.

"Tschuldigung, hab dich nicht gesehen", sagte ein junger Mann mit kurzen Haaren und nervös zitterndem Unterkiefer, als er unmittelbar vor Katja stand. Er versuchte ihr in die Augen zu schauen, doch scheinbar willkürlich wanderten seine Pupillen in die jeweils entgegengesetzte Richtung, die er sich vorgenommen hatte zu betrachten.

 

"Macht nichts. Ist alles noch dran", sagte sie und schmunzelte. Es ging ihrem Gegenüber gut und daher wollte sie ihm nicht mit einer Szene seinen Film versauen. Sie nannte alle ihre Partyerfahrungen einen Film. Es kam ihr meist so vor, als ob sie die Schauspielerin aber gleichzeitig auch die Betrachterin sei. Für sie ein höchst interessantes Gefühl, welches es im Wochenrhythmus zu wiederholen galt. Langsam bewegte sie sich von ihm weg und ließ in mit sich allein. Dort war er am besten aufgehoben. Eine schmale Treppe führte nach oben. Dann folgte der Weg einem etwas breiteren Durchgang. Kühle Luft strömte herein und umwehte ihre Füße. Die Veranstalter hatten versucht, den Übergang vom ersten Gebäude in das zweite mit einem künstlich angelegten Tunnel aus Folien zu überbrücken, um die, sich auf einem Trip befindlichen Menschen nicht zu verunsichern oder sie aus diesem herauszureißen, doch an einem eiskalten Dezembertag merkte jeder, der noch ein kleines Stück Leben in sich trug, dass er für einen kleinen Augenblick durch die kühle Nacht getrieben wurde. Katja drückte eine weitere Metalltür auf und befand sich schlagartig in einer anderen Welt. Akustisch und räumlich komplett von der großen Tanzfläche abgenabelt, stand sie inmitten eines stark beheizten Raumes, der durch indirekte Beleuchtung, einer entspannenden und weitaus angenehmeren Klangkulisse und der bereitgestellten Sitzmöglichkeiten, in Form von Couchen, Matratzen, Hockern und Sesseln, zu einem längeren Aufenthalt einlud. Die Luft roch undefinierbar und so strömte Katja ein Gemisch aus Cannabis, Zigarettenrauch, Patschuli und ätherischen Ölen in die Nase. Sie liebte diesen Moment, der sie förmlich in eine Decke wickelte und auf den Boden der Tatsachen zurückholte. Die meisten Anwesenden unterhielten sich, während sie sich abwechselnd Joints reichten. Es war mehr ein Ritual, als der Wunsch nach der Wirkung des Gerauchten. Viele von ihnen hatten genügend chemische Drogen in ihrer Blutbahn, um auf drei Partys gleichzeitig zu feiern und daher verpuffte die Wirkung des Grases irgendwo zwischen einem kurzen Husten und der nächsten XTC Welle, die sich bereit machte, durch den Körper zu fließen. Katja musterte die Gesichter und sah sich nach Jonas um. Er war ihr Bruder und mit ihr hierher gefahren. In einer Nische am hinteren Ende des Raumes fand sie ihn schließlich, wie er mit zurückgelehntem Kopf auf einem Sessel verweilte. Vorsichtig bahnte sie sich einen Weg durch die Menge und versuchte niemanden anzustoßen. Dies allein konnte bei jemandem einen schlechten Trip hervorrufen, wenn er sich im falschen Augenblick erschrak. Kurze Zeit später hatte sie ihren Bruder erreicht.

"Na? Gibst du schon auf?", sagte sie und setzte sich direkt neben ihn auf eine Couch.

"Niemals", sagte er. "Aber mein Trip hat nachgelassen. Wenn du nicht gekommen wärst, wäre ich eingeschlafen."

"Ganz bestimmt. Willst du einen Schluck?"

Katja hielt Jonas das Glas mit dem Wodka hin, doch er schüttelte den Kopf.

"Lass mal. Das versaut mir nur die Party. Kein Bock auf Kotzen. Das hätte ich auch zu Hause haben können."

Katja und er hatten viele Gemeinsamkeiten. Eine davon war die Sucht nach Partys und Drogen. Sie fühlten sich zu keinem Zeitpunkt körperlich abhängig und in ganz seltenen Fällen war es schon vorgekommen, dass drei Wochen zwischen zwei Events lagen, doch ihre Köpfe, ihre Geister und ihre Seelen brauchten die Freiheit, die Sprengung aller Grenzen. Dies war gleichzeitig auch die zweite Übereinstimmung. Obwohl an diesem Tag der dreiundzwanzigste Dezember war, zogen sie es wie viele andere vor, aus ihren bürgerlichen Gefängnissen auszubrechen und überließen ihren Eltern das zelebrieren christlicher Gebräuche. Sie beide feierten auf ihre eigene Art und Weise.

"Hast du irgendwo was gekriegt?", fragte Katja und erinnerte Jonas an sein Vorhaben, sich um zwei XTC-Pillen zu kümmern.

"Klar. Zwei wunderschöne Supermänner. Hier, einer ist für dich."

"Danke", antwortete sie.

"Keine Ursache. Fröhliche Weihnachten", sagte Jonas und schmiss sich die Tablette in seinen Rachen. Dann griff er zu seiner Cola und kippte sie runter. Während er auf seine Schwester gewartet hatte, hatte er die Zeit zum drehen eines Joints genutzt, den er sich jetzt genüsslich in den Mund steckte und anzündete. Er zeigte Katja seine Armbanduhr, auf der sie ablesen konnte, dass es später als null Uhr war. Heiligabend.

"Ist irgendwas?", fragte er Katja mit vor Kohlensäure tränenden Augen und einer braungrauen Wolke um seinen Kopf schwebend.

"Nein, mir ist nur gerade etwas schwindelig geworden beim tanzen. Den Trip hebe ich mir noch ein bisschen auf. Schließlich wollen wir bis nach Weihnachten durchhalten."

Jonas nickte und stand auf um an der Bar auf der rechten Seite zwei weitere Gläser Cola für sich und Katja zu besorgen. Sicher war es der Flüssigkeitsverlust, der seiner Schwester zu schaffen machte. Kurze Zeit später stellte er ihr ein Glas hin.

"Hier. Du brauchst bestimmt was zu trinken. Ich bin wieder auf der Tanzfläche. Kannst ja auf dem Balkon die Füße hochlegen", sagte Jonas und gab ihr den Joint, nachdem er noch einmal inhaliert hatte. Dann verschwand er wortlos durch die große Eingangstür. Katja zog ebenfalls kräftig und atmete tief ein.

Fünfzehn Minuten später erreichte sie, ein wenig erholt, den Mainfloor, wo die wütende Menge darauf wartete, den Live Act an diesem Abend in Empfang zu nehmen. Es war immer dasselbe Ritual. Warmtanzen, was trinken, wieder tanzen, chillen, Drogen nachwerfen, Speed, XTC und dann war er da, der magische Moment, wo restlos jeder mit stampfenden Füßen, den Blick zur Bühne gerichtet, auf der Tanzfläche stand und seinem emotionalen Höhepunkt sowie einem ganz besonderen DJ entgegenfieberte. Katja hatte unzählige solcher Situationen erlebt und konnte sich beherrschen, in ihrem Zustand dort unten, am Fuß des Balkons, mitzufeiern. Sie würde die erste Welle abwarten und sich später wieder unter die Leute mischen. Jonas hatte sich wie immer seines Hemdes entledigt und so konnte sie ihn in Verbindung mit seiner blonden Igelfrisur relativ schnell ausfindig machen. Für einen kleinen Moment hatte sie das Gefühl, er suche das Geländer nach ihr ab, doch sie wusste genau, dass ihm gerade jetzt andere Dinge durch seinen Kopf schossen. Das Licht erlosch und ein blubberndes Geräusch fegte von einer Box zur nächsten. Es wanderte im Kreis, von oben nach unten, von hinten nach vorne. Ein ausgeklügeltes Soundsystem machte diese Spielereien möglich. Die Menschen liebten es und jubelten.

 

"Ihr seid doch alles Freaks", dachte Katja laut und nippte an ihrer Cola.

 

Eine Lasershow begann und formte wunderschöne Gebilde in den Kunstnebel, während sich ein für dieses Event kurzfristig gebildetes DJ Team, bestehend aus Shiva Chandra und Astrix, hinter ihren technischen Gerätschaften für den Auftritt bereitmachten. Dann wurde es erneut dunkel und nach einem nur schwer verständlichen, der Funkdurchsage eines Raumfahrers ähnelnden Intros setzte der Bass in deutlich erhöhter Lautstärke als zuvor ein. Die Menge rastete aus und ein Gewitter aus tiefen Tönen und atmosphärisch klingenden Synthesizern brach über jeden herein, der sich in den Schlund der Hölle gewagt hatte. Katja bekam wie immer eine Gänsehaut und beobachtete ihren Bruder, wie er sich, seinem Zustand entsprechend, wirsch durch die tanzenden Menschen bewegte. Eine Weile schaute sie ihm zu, doch gerade, als sie sich ihren zweiten Trip einwerfen wollte, brach Jonas zusammen. Eben hatte sie ihn noch gesehen, jetzt war er verschwunden. Einfach zusammengeklappt. Katja warf ihr Glas auf den Boden und steckte im Lauf die Pille wieder in ihre Tasche. Innerhalb weniger Sekunden stand sie an der Stelle, wo sie Jonas zuletzt gesehen hatte. Er lag zwei Meter davon entfernt. Unachtsame Tänzer mussten ihn mit Fußtritten zur Seite gestoßen haben. Seine Augen waren nach hinten gerollt und zeigten nur weiß. Aus seinem Mund lief Blut. Sein rechter Arm zuckte mehrere Male kurz hinterher. Dann stoppte seine Atmung.

 

"Hilfe", schrie Katja, doch niemand hörte sie. Sie zog Jonas an seinen Beinen ein Stück zum Rand hin, doch ihr schwacher Körper war nicht in der Lage, ihn den ganzen Weg zu schleppen. Da Menschen öfter auf der Tanzfläche zusammenklappten, nahm niemand ernsthaft Notiz von ihrer Notlage. Katja rannte so schnell es die schwitzende Menge zuließ auf die Bühne zu und versuchte mit einem der DJ´s Kontakt aufzunehmen. Es gelang ihr schließlich und nachdem sie mit kreischender Stimme mitgeteilt hatte, was geschehen war, verstummte innerhalb weniger Augenblicke die Musik und kaltes Neonlicht erhellte den ganzen Saal bis in den letzten Winkel. Unzählige weit aufgerissene Augenpärchen suchten die Umgebung nach einer möglichen Ursache für das plötzliche Ende der Party ab, doch mehr als ein Raunen, war nicht zu vernehmen. Die meisten Anwesenden waren von der Situation völlig überfordert, hatten sie doch gerade noch die sphärischen Weiten ihres eigenen Kosmos durchlebt. Katja wühlte sich erneut an den staunenden Feiernden vorbei und gelangte wieder zu Jonas. Dieser lag inzwischen regungslos auf dem Boden und weder Atmung noch Puls waren zu spüren. Katja gab ihm mehrere Klapse auf die Wangen, doch er zeigte keinerlei Regung. Sie kannte ihren Bruder genau und liebte an ihm ganz besonders seine lebendigen Augen, doch die blickten nun starr zur Decke.

 

"Er ist tot", flüsterte sie und brach ohnmächtig zusammen. Ihr dünner, nach Ruhe dürstender Körper sackte zusammen während ihr Kopf auf Jonas´ Brust liegen blieb.

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