2. Kapitel

 

Der silberne BMW hielt unmittelbar vor der großen Eingangstür der Essigfabrik. Ein eisiger Wind rauschte um das überdimensionale Industriegebäude und schlug den beiden Insassen des Dienstwagens beim öffnen der Türen in ihre Gesichter. Der Beifahrer knüpfte seinen Mantel zu und zog den Kragen nach oben, während sein Begleiter einen dicken braunen Wollschal um seinen Hals gewickelt hatte, der den Eindruck vermittelte, sein Träger hätte seinen Kopf durch einen zu groß geratenen Donut gesteckt. Direkt darunter schützte eine abgetragene Wildlederjacke seinen Körper gegen die Kälte.

"Irgendwann schmeiß ich mein Bereitschaftshandy in den Rhein, das können sie mir glauben. Warum sterben die Leute immer mitten in der Nacht?", sagte Baumann und warf den Stummel seiner Zigarette auf den Boden vor sich. Er wollte ihn mit dem Fuß ausquetschen, doch eine Böe trug den glühenden Zentimeter zügig davon.

"Die meisten Menschen suchen sich nicht aus, wann sie sterben. Es passiert zu den eigenartigsten Gelegenheiten, wie man an diesem Ort erkennen kann", antwortete Mayburg.

Baumann drehte sich zu ihm hin.

"Und wir sind die Leidtragenden. Schauen sie mal auf die Uhr. Ach was soll´s, lassen sie uns reingehen."

Die beiden Beamten betraten den Eingangsbereich, wo ihnen sofort eine Mixtur aus Haschisch, Schweiß und Gerüchen undefinierbarer Herkunft um die Nase schlug. Die Türsteher, Mitglieder einer ortsansässigen Motorradgang, ließen ihre verachtenden Blicke auf Baumann und Mayburg los, die jedoch, völlig unbeeindruckt, mit einem gemeinsamen "Schönen guten Morgen", vorbeischlenderten. In der Clubszene war es schon immer so gewesen, dass die Clubbesitzer sich externe und auf die Besucher einschüchternd wirkende Gruppierungen suchten, die als Türsteher, Aufräumer und Sicherheitsmannschaft arbeiteten. Sie hatten darauf zu achten, dass niemand unter achtzehn Einlass bekam. Ebenso wenig schafften es Nachtschwärmer mit unangemessener Kleidung oder einer, nach Meinung des Clubbesitzers, unpassenden Herkunft in die heiligen Hallen, in denen exzessiv und meist unter Ausschluss der Öffentlichkeit gefeiert wurde. Sämtliche Dinge, die über die Forderungen des Inhabers hinausgingen, lagen in der Hand der Gangs. Sie kontrollierten nicht nur wer in den Club hineinkam, sondern auch was. Nur ausgewählte Dealer bekamen Zugang, um ihre Ware unter den Gästen zu verkaufen. Meist waren es Bekannte oder ebenfalls Mitglieder derselben Vereinigung, die sich unter der schützenden Hand des sogenannten Sicherheitspersonals, geschäftlich frei entfalten konnten. Diese Geste war nicht selten an eine prozentuale Umsatzbeteiligung geknüpft, die ein nettes Zubrot bedeutete. Verkäufer, die es geschafft hatten, ihre Ware an den Zugangskontrollen vorbei zu schmuggeln und diese Verkauften, wurde sofort erkannt, gemeldet und aus dem Club entfernt. Nachdem man ihnen handfeste Argumente nähergebracht und ihrer persönlichen Besitztümer wie Personalausweis, Führerschein und aller Bankkarten beraubt hatte, gab es vom Bandenführer eine abschließende Ansprache, die verschiedene Dinge beinhalten konnte. Die Aufforderung, sich nie wieder in diesem Etablissement sehen zu lassen, mit den Hinweis auf ein, im Falle des Ungehorsams, blitzartiges Ableben, zog in hundert Prozent der Fälle, einen sofortigen Rückzug aus dem Drogengeschäft nach sich. Die Gangs hatten ihr Ziel erreicht und ihre Umsatzzahlen blieben stabil.

Baumann wusste von dieser Art Geschäfte, doch es war ihm niemals möglich gewesen, einen Beweis dafür in die Finger zu bekommen. Keiner seiner Kollegen, der rein optisch in das Klischee des Bikers gepasst hätte, war je zu einem verdeckten Einsatz bereit gewesen und andererseits gab es nur selten Mitglieder, die eine radikale Bikergang lebend verließen oder danach von den ehemaligen Mitstreitern in Ruhe gelassen wurde. Eine brauchbare Aussage hatte die Kripo bis jetzt von niemandem erhalten, denn auch nach dem Austritt galt das Gebot der Verschwiegenheit. Wer etwas Internes verriet, fand sich wenige Tage später in einer Metallwanne mit einer Kugel in seinem Hirn wieder und wünschte sich, er wäre niemals beigetreten. Gänzlich betrachtet war es sowieso immens schwer jemanden einzuschleusen, da man nicht einfach ein Mitglied in so einem Haufen von Motorradfreaks ohne Hemmschwelle zur Illegalität wurde. Man klingelte nicht einfach bei einem Vorstandsmitglied der Hells Angels und brauchte nichts weiter zu tun, als eine Mitgliedsbescheinigung auszufüllen, sondern man bettelte um eine Aufnahme. Die ersten zwei Jahre dienten dazu, zu beweisen, dass man auch bei der ständigen Vergabe von niederen Aufgaben, bei der Stange blieb. Man hatte zu schuften und die Anführer und höher gestellten Biker zu bedienen, bevor man überhaupt anerkannt wurde. Letztendlich diente eine Mutprobe in Form einer Straftat als abschließender Beweis, dass man es ernst meinte und erst dann, durfte man sich als vollwertiges Mitglied bezeichnen.

Mayburg sah in jedes einzelne Gesicht, der in einer Reihe stehenden Security Mitarbeiter. Er spürte, dass sie ihn am liebsten zerkaut und wieder ausgespuckt hätten, also wandte er seinen Blick ab und konzentrierte sich auf seinen Job. Baumann war schon einige Meter voraus gegangen, also legte er einen Zahn zu.

"Sehen sie sich das an, Mayburg. Die veranstalten hier einen Sitzstreik."

Die Kommissare blickten auf ein Meer aus Köpfen. Die gesamte Partybevölkerung hatte sich auf Anweisung der sich bereits vor Ort befindlichen Streifenpolizisten auf den Boden gesetzt und wartete nun sehnlichst darauf, diesen schrecklichen Ort wieder verlassen zu dürfen. Man konnte von einigen Gesichtern deutlich ablesen, dass sie unter dem Einfluss der Drogen nicht so recht wussten, ob dies alles um sie herum denn nun Realität oder doch nur eine Rauscherfahrung war. Bei anderen wiederrum erkannte man die beklemmende Angst und die angewiderte Reaktion auf den sich immer noch in der Mitte der Tanzfläche befindlichen toten Körper. Sie wünschten sich nichts mehr, als dass ihn endlich jemand zudeckte oder davontrug, damit sie diese Halle verlassen konnten.

"Das Licht hätten sie besser ausgelassen", sagte Baumann und deutete mit der Hand auf einige kreidebleiche Jugendliche, die mit flatterndem Kiefer oder unnatürlich wirkenden Zuckungen der Gesichtsmuskulatur auf dem Boden saßen. Weiter hinten gab es tatsächlich jemanden, der unter der Abgabe von tierartigen Geräuschen weitertanzte. Eigentlich stand er nur auf der Stelle und stampfte in ungleichmäßigen Abständen mit dem linken Fuß auf. Zeitgleich wirbelten seine Arme ohne erkenntliches Muster kreisförmig um seine Schultergelenke.

"Hier gibt es mehr Chemikalien, als im Lager von Bayer", antwortete Mayburg und sofort fiel sein Blick auf eine junge Frau, die von zwei Polizistinnen betreut wurde. Er steuerte auf sie zu und wickelte seinen Schal vom Hals herunter, die Hitze wurde unerträglich, also knöpfte er zusätzlich seine Jacke auf. Baumann amüsierte sich noch eine Weile über die verzerrten Fratzen, die ihm auf seinem Weg durch die Menge begegneten, stieß dann aber zügig in ein Gespräch zwischen zwei Polizisten.

"Guten Morgen. Könnten sie mich bitte aufklären, was hier los ist? Die Funkdurchsage, war wie immer die Kurzversion."

Einer der Beamten schaute ihn an und gab seinem Gegenüber eine knappe Anweisung, was als nächstes zu tun war, woraufhin dieser schlagartig im hinteren Teil der Halle verschwand und damit begann, sämtliche Namen und Adressen der Anwesenden aufzunehmen. Vier weitere Kollegen halfen ihm dabei.

"Wir wurden angerufen, dass jemand auf der Tanzfläche tot umgekippt sei. So wie es hier jetzt aussieht, haben wir alles vorgefunden", sagte der Polizist.

"Todeszeitpunkt?", fragte Baumann kurz und knapp.

"Vor ungefähr einer Stunde. Der Notarzt ist gerade weg. Hier ist der Totenschein."

Baumann nahm den Zettel in die Hand und flog eilig über die Zeilen.

"Eine natürliche Todesursache wird angezweifelt", las er laut vor. "Haben wir eine Mordwaffe?"

"Nein, Dr. Gerber hat auf den ersten Blick keine Einwirkung von außen feststellen können. Die Beule am Kopf, rührt von einem Sturz her, nachdem er das Bewusstsein verlor. Der Hausarzt des Jungen bestätigte uns telefonisch, dass Jonas Bade keinerlei Krankheitsbilder aufwies und einen sehr gesunden und sportlichen Körperbau hatte. Dr. Gerber war allerdings überrascht, dass der Tote in dieser seltsamen Position liegen geblieben ist. Seine Arme sind verkrampft, wie bei einem Stromschlag. Dies sei nicht normal, sagte er kurz bevor er ging. Außerdem gibt es noch einen weiteren Hinweis auf eine Fremdeinwirkung."

Baumann zog die Augenbrauen nach oben und wurde hellhörig. Endlich kam sein Kollege auf den Punkt. Es musste schließlich einen Grund gegeben haben, weshalb man ihn und Mayburg zu dieser Uhrzeit, einen Tag vor Weihnachten aus dem Bett geklingelt hatte.

"Und der wäre?"

Der Polizist dreht sich um und hob seinen Arm. Mit dem Finger zeigte er auf Katja Bade, die zwischen zwei psychologischen Betreuerinnen saß und von Mayburg verhört wurde.

"Sie ist die Schwester des Toten. Es dauerte recht lange, bis wir sie beruhigen konnten, doch dann hat sie uns erklärt, dass man ihren Bruder getötet haben muss. Sie hätte da so ein Gefühl, welche sie nicht erklären könnte."

Baumann hatte schon von vielen plötzlichen Todesfällen in dieser Szene gehört. Menschen übernahmen sich, tranken zu wenig, tanzten mehrere Stunden am Stück, nahmen Drogen und dies manchmal mehrere Tage hintereinander. Das der Körper irgendwann einen Haken setzt und sich verabschiedet, war nicht verwunderlich, dafür brauchte man kein Mediziner zu sein. Wenn sein Auto im ersten Gang bei Vollgas von Hamburg nach München fuhr, war es äußerst wahrscheinlich, dass man es danach auf den Schrottplatz bringen konnte. Nichts anderes geschah Nacht für Nacht in drogendurchtränkten Technoclubs.

"Danke, soweit. Ich würde mir gerne selbst ein Bild ihrer Aussagen machen. Wir sprechen uns später wieder."

Baumann ging los und bahnte sich seinen Weg durch auf dem Boden liegende Jugendliche. Dann stand er neben Mayburg und vor Katja Bade.

"Mein Name ist Baumann. Kripo Köln. Es tut mir leid, was mit ihrem Bruder geschehen ist."

Er log. Es war ihm egal, doch jetzt und hier konnte und durfte er dies nicht zeigen. Sie war, soweit er es ihrer versteinerten Mimik entnehmen konnte, nervlich am Rande des Zumutbaren. Sie nickte und sah den Kommissar kurz an.

"Wie kommen sie darauf, dass es Mord war?"

Mayburg schaute Baumann ungläubig an, doch dann erkannte er, dass sein Kollege ihm wieder einmal ein Wissensschritt voraus war.

"Es kann nicht sein, dass er einfach so stirbt. Warum?", sagte Katja und wischte sich Tränen aus den Augen.

"Das kommt häufiger vor. Wir alle wissen doch, was hier vor sich geht, wenn die Polizei nicht anwesend ist. Wundert sie das?"

"Er war kein Anfänger. Die hier müssen Schuld sein."

Katja war Baumann eine kleine durchsichtige Tüte vor die Füße. Eine kleine weiße Tablette befand sich in ihrem Inneren. Baumann hob sie auf.

"Was ist das?", fragte er.

"Wonach sieht es denn aus?", sagte Katja und breitete ihre Hände vor ihrem Körper aus, als wolle sie einen Ball fangen.

"Kopfschmerztabletten sind es bestimmt nicht."

Baumann betrachtete die kleine unscheinbare Pille vor seinen Augen und erkannte das eingeprägte S. Nie hatte er derartige Erfahrungen gemacht und war sein ganzes Leben lang clean geblieben. Lediglich dem Alkohol konnte er keine gänzliche Abfuhr erteilen und so trank er sich gerne mal einen über den Durst, aber nur, wenn Manni gut drauf war und eigentlich erst, seit er allein lebte.

"Wissen sie noch von wem sie den Stoff gekauft haben?", fragte Baumann und ließ den kleinen Beutel flattern.

"Nein. Jonas hat die Teile besorgt und seine sofort genommen. Ich war kurz davor, als ich sah, wie er auf der Tanzfläche zusammenbrach. Irgendein Schwein hat ihn getötet. War bestimmt eine Überdosis drin."

"Dies würde bedeuten, dass ihr Bruder an zu reinem Wirkstoff gestorben wäre. Das bedeutet noch lange nicht, dass es sich hier um Mord handelt", sagte Mayburg und kam einen Schritt näher, um ebenfalls einen Blick auf die Droge zu werfen.

"Ich denke, wir lassen die Tablette im Labor untersuchen und dann werden wir ja sehen, mit was wir es hier zu tun haben. Ihnen ist klar, dass wir Ihnen eine Verwarnung wegen illegalen Drogenbesitzes ausschreiben müssen?"

Einer der jungen Männer, die unweit des Gespräches saßen, hatte jedes einzelne Wort gehört. Sofort tippte er eine Kurznachricht in sein Handy und versendete sie an alle Teilnehmer seines Telefonbuches, von denen er ausging, dass sie einer Warnung bedurften. Dann steckte er sein Telefon wieder in die Hosentasche und folgte dem Geschehen.

Katja reagierte nicht. Es interessierte sie in diesem Moment kein bisschen, Baumann hätte auch die Todesstrafe über sie verhängen können. Entkräftet und mit leerem Blick folgte sie den beiden Kommissaren auf deren Anweisung zum Ausgang. Baumann begegnete dem Polizisten, den er zu Beginn der Untersuchung gesprochen hatte erneut und sprach ihn ein weiteres Mal an.

"Bringen sie dies hier bitte ins Labor. Ich will so schnell wie möglich eine Aufstellung sämtlicher Inhaltsstoffe und den Reinheitsgrad auf meinem Schreibtisch liegen sehen. Keine Verzögerungen bitte."

"Wird sofort erledigt. Ein Kollege fährt sowieso gerade los und kann das Beweisstück direkt mitnehmen."

"Danke", sagte Baumann und ging weiter. Mayburg und Katja Bade folgten ihm, während sie den Blicken der Partygäste ausgesetzt waren. Sie alle schienen zu denken, dass man den Täter gefasst hatte und dass Katja irgendetwas mit dem Fall in Verbindung brachte. Sie spürte die Blicke auf ihrem ganzen Körper und wäre am liebsten losgegangen und hätte jedem Einzelnen ihre innere Wut zu verstehen gegeben. Während sie mit gebückter Haltung und vor dem Bauch verschränkten Armen vorwärtstrottete, sah sie ihren Bruder ein letztes Mal, wie er mit verdrehten Gliedmaßen auf dem Boden lag. Sein Gesicht war ihr zugewandt und starrte sie kalt und leblos an. Katja verabschiedete sich innerlich von ihm und verließ den Club für das letzte Mal in ihrem Leben. Sie hatte sich geschworen nie wieder einen Fuß auf eine Technoparty zu setzen und es würde nie wieder einen Grund geben, weshalb sie Drogen zu sich nahm. Jeder LSD Trip würde darin enden, dass sie ihren toten Bruder vor sich sah und sie sich unter panischen Angstattacken in der nächstbesten Ecke versteckte.

"Wir bringen sie zuerst mal aufs Präsidium. Dann sehen wir weiter", sagte Baumann und öffnete Katja die hintere Tür des Dienstwagens. Sie stieg ein und kauerte sich auf der Rückbank zusammen. Sie war allein. Die Kommissare setzten sich vorne in den BMW. Mayburg startete den Wagen und fuhr los. Gerade als sie die Essigfabrik verließen, öffnete der Mitarbeiter des Bestattungsunternehmens, welches den großen Kastenwagen mit der Firmenaufschrift "Letzte Ruhe" vor der Eingangstür geparkt hatte, die beiden Laderaumklappen und zog mit seinem Kollegen eine silberne Wanne heraus. Katja zerrte es die Eingeweide zusammen, bei dem Gedanken, dass ihr Bruder nur wenige Minuten später darin aus dem Club getragen wurde. Sie schloss die Augen und dachte an ihre Kindheit.

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