4.

 

Auf dem Tisch stand ein kleiner Weihnachtsbaum aus Kunststoff, der gerade mal an die Größe eines dreißiger Lineals heranreichte. Kunstschnee bedeckte die Astspitzen und wurde von einer kitschigen, aber effektiven Lichterkette in verschiedenen Farben angestrahlt. Kam man ihm zu nahe, begann er fröhlich zu piepsen und bei genauerem Hinhören, erkannte der Weihnachtserfahrene die Melodie von Jingle Bells in einer leicht verswingten Doris Day Version. Hätte man das Made in Taiwan Schild zwischen die Nadeln, anstatt unter den Baum geklebt, wäre wenigstens klar gewesen, warum er nach anderthalb und nicht nach zwei Durchgängen von vorne begann, sein Programm erneut abzuspielen. Speicherchips waren teuer und so wurde an der Musik gespart. Neben dem zweifelhaften Gimmick, welches dieser aus Abfallprodukten der taiwanesischen Kunststoffindustrie erschaffene Krachschläger darstellte, standen zwei, in grünem Weihnachtspapier eingewickelte Pakete und warteten darauf, ausgepackt zu werden. Eines klein und quadratisch und das andere sehr groß und rechteckig.

 

"Ho ho ho", sagte Thomas Baumann, als er das Wohnzimmer seiner neuen Wohnung betrat. Lange hatte er sich seinen Umzug geplant, doch letztendlich bekam er von seinem Kollegen Philipp Mayburg diesen Tipp. Altbauwohnung, hundertfünf Quadratmeter, Balkon nach Osten, komplett saniert mit allem was dazugehörte inklusive Dachterrasse mit Westblick. Baumann genoss sein neues Leben und hatte endgültig mit seiner Vergangenheit abgeschlossen. Nicht zuletzt sein jüngster Fall hatte einen entscheidenden Anteil an diesem Sinneswandel. Heute war Heiligabend und der Kommissar saß nun mit gespielter Aufregung vor seinen Geschenken. Einige Male führte er mit seiner Hand eine Bewegung aus, die den kleinen Schlagerbaum zum singen brachte, doch auch das schönste Lied geht einem irgendwann auf die Nerven, wenn es nach einem Komplettdurchgang und der Hälfte des Zweiten von vorne begann.

 

"Auf die Geschenke", sagte Baumann und schnappte sich als erstes das kleine quadratische. Er schüttelte es und besah es von allen Seiten, doch nichts ließ ihn erkennen, was sich darin befand. Er konnte es nicht länger abwarten und so riss er mit zwei gekonnten Manövern das komplette Geschenkpapier in viele einzelne herumschwirrende Fetzen. Nun lag das Geheimnis offen vor ihm.

 

"Verdammt, Mayburg. Sie haben Ideen."

 

Auf dem Karton erkannte Baumann ein Navigationsgerät, unter dem ein kleiner Zettel klebte.

"Fröhliche Weihnachten. Die Route zu Manni ist schon einprogrammiert. Mayburg."

 

"Der Junge hat sich was einfallen lassen", dachte Baumann und betrachtete den Karton noch eine Weile. Es war schon länger her, dass ihm jemand etwas geschenkt hatte. Vorsichtig stellte er das TomTom auf ein Regal direkt neben ihm und hielt in seinem Kopf die Notiz fest, es noch heute ausprobieren zu wollen. Das zweite Paket ragte nun unweigerlich in sein Blickfeld und zog seine Aufmerksamkeit auf sich.

 

"Wollen wir doch mal sehen", sagte Baumann, während er den über ein Meter langen Karton zu sich heranzog. Das Geschenkpapier fühlte sich wie eine Folie an und ließ sich nur mit großer Anstrengung zerreißen, weshalb der Kommissar zuerst die auf der Seite klebende Weihnachtskarte öffnete. Unter dem dezenten, aber nicht übersehbaren Amazon.de Logo stand in Maschinenschrift gedruckt: "Fröhliche Weihnachten wünschst du dir selbst." Baumann schmunzelte über den Scherz, den er sich mit seiner eigenen Überraschung erlaubt hatte und riss, sich des Inhaltes des Paketes bewusst, das Papier herunter. Ein Flachbildfernseher mit einer Bildschirmdiagonale von über einem Meter stand nun thronend über einem Berg aus Altpapier und Schleifenresten. Baumann war überwältigt, wie groß sein neues Spielzeug in Wirklichkeit ausfiel. Natürlich wusste er um die längenmäßige Beschaffenheit eines oder mehrerer Meter, doch der Karton war wirklich mächtig. Nachdem er ihn geöffnet und erkannt hatte dass der Inhalt aus dreißig Prozent Styropor bestand, trat eine prompte Ernüchterung bei ihm ein.

 

"So klein hätte ich ihn mir nun auch wieder nicht vorgestellt. Na ja. Immer noch besser als mein jetziger."

 

Baumanns Blick fiel auf einen schweren, sich in einem Holzgehäuse befindenden Apparat, der das Gewicht eines Kleinwagens zu haben schien. Mehr war ihm nach dem Auszug von Jennifer nicht geblieben und da er sowieso wegen seiner Arbeit kaum Fernsehen konnte, hatte er sich eine Zeit lang mit dem alten Kasten abgefunden. Doch jetzt war er bereit für den Einzug der Technik im Hause Baumann, also holte er jegliches Zubehör aus dem Karton und legte es fein säuberlich sortiert nebeneinander auf den Fußboden. Dann stopfte er alle Folien, Schnipsel, Drahtklipse, Klebestreifen und seine an sich selbst adressierte Karte in die Verpackung des Fernsehers und stellte den Karton in den Flur. Heute würde niemand rauf oder runter gehen wollen, dachte er und wenn doch sollte er drüber klettern. Mit erheblichen Anstrengungen wuchtete er sein altes Gerät von seiner Anrichte und gab somit den Weg für sein persönliches Heimkino frei. Bis auf einen freibleibenden Zentimeter zu jeder Seite hin, füllte der pompöse Bildschirm den Platz im dafür vorgesehenen Regal gänzlich aus und verschmolz mit seiner Umgebung. Da Baumann vergessen hatte, ihn zu verkabeln, musste er ihn noch einmal von seinem neuen Standplatz herunterholen. Nachdem er seiner Meinung nach alles angeschlossen hatte, drehte er das Monstrum aus schwarzem Kunststoff wieder in seine Endposition. Mit der Fernbedienung schaltete er ihn ein, doch es erschien kein Bild.

 

"Das haben wir gleich", sagte Baumann und griff nach der Bedienungsanleitung, die in etwa der Dicke, des Kölner Telefonbuches nahe kam. Die nächste viertel Stunde verbrachte er damit, sich durch den Quick Start Guide zu blättern, die vorprogrammierten Sender aus dem Speicher des Gerätes unwiderruflich zu löschen und zu bemerken, dass Seite hundertdreiundvierzig, also seine Seite hundertdreiundvierzig, schlichtweg nicht existierte. Ein zunehmend nervöses und zum wiederholten Male durchgeführtes Hin- und Herblättern schaffte in diesem Fall auch keine Abhilfe. Enttäuscht flogen Fernbedienung und das Beiheft mit der Aufschrift "Ten Steps to watch TV" in die Ecke der Couch. Baumann stand auf und ging auf den Balkon. Schon immer hatte er das Gefühl gehabt, dass sein Gehirn zwar äußerst sensibel auf die Gegebenheiten einer Straftat und somit auch auf deren Aufklärung reagierte, doch für diese Technikspielereien hatte er anscheinend nicht die nötigen Verknüpfungen zwischen seinen grauen Zellen. Schon jetzt bereute er den Kauf des tausendvierhundert Euro teuren Gerätes und dachte an eine Rücksendung. Dann fiel ihm jemand ein, der ihm vielleicht irgendwann einmal bei der Installation unter die Arme greifen konnte. Als er den Esstisch passierte, begann der kleine Weihnachtsbaum Jingle Bells zu pfeifen. Hätte er sein klägliches Ende, kopfüber in der Mülltonne erahnen können, wäre er Stumm geblieben. Der Kommissar stand an der frischen Luft und zündete sich eine Zigarette an. Nach einem kräftigen Zug vergaß er kurz, dass er einem Plastikkasten unterlegen war und genoss die Aussicht. Allein. Sein Telefon klingelte, woraufhin Baumann durch die geöffnete Glastür, auf dem Schränkchen dahinter nach dem Mobilteil tastete. Schließlich bekam er es zu fassen.

 

"Ja?"

"Schöne Weihnachten. Vielen Dank für das aufmerksame Geschenk", sagte Philipp Mayburg.

 

Baumann hatte ihm ein Was ist Was Buch mit dem Thema: Kriminalistik von Dr. Rainer Köthe gekauft und es in buntes Kinderpapier eingepackt. Weiterhin befand sich noch ein Gutschein für zehnmal Currywurst bei Manni in dem liebevoll geschnürten Päckchen.

 

"Kein Ursache. Ich hoffe sie konnten noch was lernen", antwortete Baumann und atmete einen großen Schwall blauen Qualms ein. Seine Lungen entspannten sich.

 

"Auf jeden Fall. Solche Sachen erfährt man während der Ausbildung nicht. Ich hoffe, sie konnten mein Geschenk ebenso gut gebrauchen."

Baumann dachte an das Navi und bemerkte, dass Mayburg ziemlich viel Geld dafür ausgegeben haben musste, während er das Buch für zehn Euro und den Essensgutschein kostenlos erstanden hatte.

"Ja, tolles Gerät. Ich probiere es gleich heute noch aus. Vielen Dank schon mal."

 

"Keine Ursache. Wenn sie möchten, um halb acht bei Manni? Ich gebe eine Runde Currywurst aus. Sie erwarten doch keinen Besuch?"

"Nein, gerade heute nicht. Also abgemacht. Wir sehen uns später."

Baumann legte auf und blickte von oben herab auf die Menschen, die in letzter Sekunde ein Weihnachtsgeschenk für ihre Lieben zu ergattern versuchten. Er war frei, besonders hier oben über den Dächern seiner Stadt, doch diese Freiheit hatte er sich teuer erkauft. Frei und einsam lagen für ihn sehr dicht beieinander. Dann konzentrierte er sich wider auf Katja Bade. Sie würde dieses Jahr für niemanden Geschenke kaufen, soviel stand für ihn fest.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

5.

 

Baumann lehnte bereits an der provisorisch eingerichteten Theke an Manni's Verkaufswagen, als ein Smart, nur wenige Meter entfernt zum Stillstand kam. Mayburg stieg aus und zog sich eine dicke Winterjacke aus blauem, filzartigen Stoff über, auf dessen Rücken eine große weiße "30" aufgestickt worden war. Er winkte und schloss den Wagen ab.

"N´abend Manni", sagte er und zog einen großen Gutschein aus der Tasche.

"Hallo Herr Kommissar. Darf ich doch sagen, oder?"

"Du musst sogar. Oder?", sagte Mayburg und schaute fragend in Baumanns Richtung.

"Auf jeden Fall. Sonst gibt´s direkt eine Strafe nach unserem Gutdünken."

"Da muss ich vorsichtig sein", sagte Manni. "Wer weiß was euch alles einfällt. So, was darf es denn heute Abend sein? Fettschlauch mit Füllung und Currysauce, so wie immer?"

Mayburg schüttelte sich. Er hatte in seinem Leben schon so manche Bezeichnung für eine Bratwurst mit Currysauce gehört, doch Manni übertraf sich immer wieder mit regelmäßigen Updates.

"Ja", zögerte Mayburg. "Zweimal Fettschlauch bitte."

"Kommt sofort. Ho ho ho. Ho ho ho”, gab Manni von sich und erinnerte die Beamten daran, dass Heiligabend war. Die drei Männer waren heute die einzigen Menschen, die sich zu dieser Uhrzeit auf der Straße aufhielten und keiner von ihnen hatte eine Familie, bei der er jetzt lieber gewesen wäre.

Baumann konnte sich einen Kommentar über Mayburgs Auto trotz der weihnachtlichen Stimmung nicht verkneifen.

"Sie hatten aber großes Glück bei ihrem letzten Überraschungs-Ei."

"Wieso wusste ich schon vorher, dass sie es nicht lassen können?"

"Weil ich eben ich bin. Sie kennen mich doch inzwischen."

"Das glaube ich nicht. Aber zur Information. Der Wagen ist äußerst sparsam und günstig in der Unterhaltung."

"War mir klar, dass sie ihn aus diesem Grund gekauft haben. Der Mensch ändert sich eben nicht", sagte Baumann und öffnete eine Dose Bier mit einem lauten Zischen.

"Sie wissen, dass wir Bereitschaftsdienst haben?", fragte Mayburg und nippte an einer Dreh- und Trink Flasche mit der Geschmacksrichtung Himbeere. Im Nachhinein dachte er, dass die Bezeichnung Farbstoff mit Schuhsohle es besser getroffen hätte.

"Na klar. Und da an Heiligabend zu neunundneunzig Prozent nur Streitfälle in den Familien auftreten, lassen wir doch einfach unsere Freunde von der Streife ausrücken."

Mayburg zog die Augenbrauen hoch und schüttelte seinen Kopf, doch er hatte sich vorgenommen, nicht mehr gegen den Dickschädel seines Kollegen anzukämpfen.

"Was ist denn?", fragte Baumann. "Keine Angst. Nach dem fünften ist gut für heute. Wer weiß, ob nicht doch irgendwer im schönen Köln ein Christmas Massaker anrichtet. Ich sehe die Schlagzeile schon vor mir: "Nachbar mit Lichterkette erdrosselt."

Manni lachte laut schallend los, als er die, wegen der Feiertage, üppigen Portionen auf dem Glastresen absetzte.

"Der arme Express Reporter, der bei diesem Wetter dann raus müsste. Hier, Currywurst á la Manni. Guten Hunger."

Mayburg arbeitete immer noch an seinem Verständnis des Galgenhumors, der ihn seit seinem ersten Fall mit Baumann umgab, doch nach und nach überkam ihn die Gewissheit, dass dafür ein spezielles Zentrum in einem Gehirn vorhanden sein musste und er dieses einfach nicht besaß, oder es nicht zur Genüge ausgebildet worden war.

"Ja dann, fröhliche Weihnachten nochmal", sagte Baumann und begann zu essen.

"Wünsche ich Ihnen auch", erwiderte Mayburg und tat es ihm gleich, während sich in den Häusern um den Marktplatz herum die Menschen beschenkten und bei Dämmerlicht einen gemeinsamen Abend verbrachten. Im Hintergrund läuteten die Glocken des Kölner Wahrzeichens und verliehen dem wenig reichhaltigen Abendessen der Kommissare eine stimmungsvolle Note. Etwas später, Baumann hatte den halben Teller seines Kollegen wegen dessen Aufgabe zu sich herangezogen, wurde es still. Manni schaltete deshalb einen alten Kassettenrecorder ein und gab damit traditionelle Weihnachtslieder zum Besten.

"Sehen sie Mayburg. Das ist die Message. Ruhe und Frieden.", sagte Baumann als Kommentar auf die von Kinderchören gesungenen Texte.

Mayburg staunte, zum einen über das Fassungsvermögen seines Kollegen, wenn es um Currywurst ging und zum anderen über die eben erfolgte Aussage.

"Ich verstehe nicht ganz, worauf sie hinauswollen."

Baumann wischte sich mit einer Serviette den Mund ab und zog damit erneut Mayburgs fragende Blicke auf sich. Dann trank er einen großen Schluck aus seiner dritten Dose Bier.

"Die Menschen rasen nur so durch ihr Leben. Wer nicht mitmacht, bleibt auf der Strecke, aber an Weihnachten sind alle gleich. Es geht um Ruhe und Frieden. Die meisten schaffen es das ganze Jahr über nicht, sich zusammen zu setzen. Heute ist es anders."

"Sie haben recht, ich denke unsere Gesellschaft ist viel zu Konsumbetont. Der Sinn ist verloren gegangen."

"Genau was ich sage. Ich habe da plötzlich so ein Gefühl, dass wir dieses Jahr nicht mehr in den Einsatz müssen. Es ist so eine Art Vorahnung, Mayburg. Nennen sie es von mir aus auch Vision, aber ich bin felsenfest davon überzeugt, dass wir heute den Frieden haben werden, den wir so vermissen."

"Machen sie neuerdings Yoga oder so was in der Art? Sie sind so seltsam entspannt. Oder liegt es am Bier?"

Mayburg schmunzelte und wartete auf eine Antwort, doch der Kommissar fixierte einen Punkt am Himmel hinter ihm und hielt ihn mit seinen Augen fest.

"Machen sie sich nur lustig. Sie werden ja sehen, dass ich Recht habe", sagte Baumann. In diesem Moment klingelte sein Telefon und riss ihn aus seinen Träumereien.

"Ja? Baumann. Fröhliche Weihnachten ihnen auch. Was? Ist das ihr Ernst? Ist gut, wir sind gleich da."

Das knappe Gespräch verstummte und Mayburg wartete auf eine Berichterstattung. Baumann trank in Ruhe aus und schlug mit der Faust auf den Stehtisch.

"Verdammt, ein Glück dass wir nicht gewettet haben. Wir brechen auf, Mayburg. Der Junge wurde tatsächlich vergiftet. Wir müssen sofort in die Gerichtsmedizin. Die Arbeit ruft uns sogar an diesem Tag. Fahren sie uns schnell zum Präsidium, dort wartet man bereits auf uns."

"Was ist jetzt mit ihrer Vision?"

Baumann verabschiedete sich von Manni und wünschte ihm schöne Feiertage, bevor er sich wieder Mayburg zuwandte.

"Meine Vision kann mich mal."

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