Stille Post – die Geschlechterforschung als Paradebeispiel

Es ist begrüßenswert, wenn wissenschaftliche Erkenntnisse über Fachkreise hinaus bekannt werden. Im Fall der Geschlechterforschung scheint allerdings ein großes Kommunikationsproblem zwischen Forschern dieser Disziplin und dem Rest der Bevölkerung zu herrschen; viel zu häufig verlassen nicht fundierte Studienergebnisse das akademische Umfeld, sondern stark verkürzte und aus dem Kontext gerissene Aussagen. Im Nachhinein wiederum werden Zusammenhänge hergestellt, die es ursprünglich nicht gab. Die Folge: Siehe oben.
Aus diesem Grund zunächst einmal vier grundsätzliche Fragen und Missverständnisse, die häufig aufkommen:

Verneint die Geschlechterforschung eine Existenz der Geschlechter?

Nein.
Ihre Ergebnisse zeigen jedoch, dass ein starres Zweigeschlechtermodell nicht ausreicht, um die Wirklichkeit zu beschreiben – weder die soziale noch die biologische. Die Geschlechter sowie ihre Grenzverläufe sind vielfältiger.

Ignoriert die Geschlechterforschung naturwissenschaftliche Erkenntnisse?

Nein.
Im Gegenteil, wissenschaftliche Erkenntnisse anderer Disziplinen werden in die eigene Forschung mit einbezogen. Was beispielsweise charakterisiert Männlichkeit in der Endokrinologie? Wo verläuft die Grenze zwischen weiblich und männlich aus Sicht von Sportmedizinern? Wie werden biologische Zusammenhänge in verschiedenen Kulturen interpretiert?

Fordert die Geschlechterforschung die Abschaffung klassischer Geschlechterrollen?

Nein – Wissenschaft fordert nicht, sie forscht.
Die Untersuchung von Geschlechterrollen in verschiedenen Zeiten und Kulturen ist eines der Themenfelder der Geschlechterforschung. Geschichtliche und interkulturelle Vergleiche zeigen, dass Geschlechterrollen weder weltweit einheitlich noch starr sind. Das heißt konkret: Die klassischen Geschlechterrollen im Deutschland des 21. Jahrhunderts zählten nicht immer zur Klassik – weder hier noch international.

Ist die Geschlechterforschung politisch motiviert?

Nein.
Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre sind laut Grundgesetz frei – dies gilt auch für die Geschlechterforschung, wie sie an Universitäten betrieben wird.
Im Gegensatz dazu waren die Anfänge der systematischen Beschäftigung mit Geschlechterfragen – also noch vor Beginn der universitären Geschlechterforschung – hochgradig politisch motiviert. (Mehr dazu: siehe nächste Frage)

Nachdem nun geklärt ist, was die Geschlechterforschung alles nicht macht, bleibt die Frage, womit sich diese Disziplin tatsächlich beschäftigt.

Warum wird sich wissenschaftlich mit den Geschlechtern befasst? Wie kam man überhaupt auf die Idee?

Lange bevor sich die Geschlechterforschung in den 1990ern als wissenschaftliche Disziplin etablierte, bekundete die politisch motivierte Frauenbewegung in den 1960ern ein großes Interesse an Geschlechterfragen. Ihre Mitglieder aus den westlichen Industriestaaten, zunächst vorwiegend in den USA, träumten von einem gemeinsamen Kampf aller Frauen gegen die männliche Unterdrückung. Angetrieben von der "These der universalen Dominanz des männlichen Geschlechts" wurden zahlreiche Studien zu Rolle und Status der Frau in verschiedenen Gesellschaften durchgeführt. Hierbei wurde sich besonders auf den ökonomischen Sektor konzentriert, denn es wurde angenommen, dass die Geschlechterungleichheit das Resultat geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung sei. Aus der ökonomischen Dominanz des Mannes, die unhinterfragt als Fakt betrachtet wurde, wurde also seine Dominanz auch in anderen Bereichen des sozialen Lebens gefolgert.
In den 1970ern entwickelte sich parallel dazu die Männerforschung, die im Gegensatz zur "Frauenforschung" von der Öffentlichkeit jedoch kaum wahr genommen wurde und wird. Sie befasst sich mit der Konstruktion von Männlichkeit(en).

Ende der 1970er zeichnete sich ein Wandel ab: Die These der universalen Dominanz des Mannes traf zunehmend auf Kritik, es wurden Forderungen nach weniger Vereinheitlichung und mehr Differenzierung laut. Dies führte zur Reflexion und Modifikation früherer Prämissen und Thesen. Statt simpler Ursache-Wirkung-Schemata und einer positivistisch-empirischen Vorgehensweise wurden nun zunehmend sowohl beide Geschlechter als auch kulturelle Unterschiede berücksichtigt.
Die theoretische und methodische Neuorientierung ermöglichte eine Loslösung von den politischen Wurzeln und ebnete den Weg für eine wissenschaftliche, universitäre Geschlechterforschung. In Deutschland wurden 1997 die ersten Studiengänge für Gender Studies in Berlin und Oldenburg eingerichtet.

Was sind die zentralen Fragen der Geschlechterforschung?

Zentrales Thema der Geschlechterforschung ist die Bedeutung von Geschlecht.
Welches Verständnis von Geschlecht – sowohl das biologische als auch das sozio-kulturelle – gibt es in verschiedenen Disziplinen, Kulturen und Zeiten? Wie beeinflusst das Geschlecht die Gesellschaft und wie die Gesellschaft das Geschlecht? Welchen Einfluss hat das Geschlecht auf die Stellung des jeweiligen Menschen in Gesellschaft und Wissenschaft?
Welche Geschlechterbilder und –rollen gibt es, wie und warum entstehen sie und wie werden sie reproduziert? In welchem Zusammenhang stehen sie mit anderen Kategorien wie Klasse, race oder Religion?
Neben den Geschlechterverhältnissen befasst sich die Geschlechterforschung auch mit den Themen Männlichkeit und Weiblichkeit. Was bedeutet es, männlich, weiblich, beides oder keines zu sein? Welche Stereotypen und Vorurteile gibt es? Mit welchen sozialen, historischen und ökonomischen Bedingungen sind die jeweiligen Vorstellungen verknüpft?

Auf welchen Grunderkenntnissen basiert die Geschlechterforschung?

Auch wenn sich die Geschlechterforschung mit den Geschlechtern befasst: weder Männer noch Frauen bilden eine homogene Kategorie.
Die Identitäten eines Individuums sind komplex, situationsbedingt und temporär. Ein Mensch kann beispielsweise gleichzeitig Liebhaber, Vater, Buddhist und Angestellter im Supermarkt sein.
Auch bei der Betrachtung von Geschlechterverhältnissen ist eine differenzierte Sicht wichtig. Zum Beispiel spielt die zeitliche Dimension eine Rolle, denn Geschlechterverhältnisse wandeln sich in verschiedenen Lebensabschnitten.
Während das biologische Geschlecht auf körperlichen Merkmalen basiert, ist das Gender sozial und kulturell konstruiert. Das heißt: Die Bedeutung eines Geschlechts und die Art der Beziehung zwischen den Geschlechtern ist das Ergebnis sozialer und kultureller Prozesse. Demnach sind auch Geschlechterrollen nicht angeboren.

Nach dem soeben durchgeführten Faktencheck ist es an der Zeit, sich unseren Ängsten zu stellen.

Der Angst ins Auge blicken: Was lehrt uns die Geschlechterforschung?

Sie lehrt uns, dass wir okay sind, so wie wir sind. Es ist nicht vom Geschlecht abhängig, ob die Nägel in der Wand gerade werden oder das Fensterputzen streifenfrei gelingt.
Ihr findet es schön, wenn der eine Partner Vollzeit arbeitet während der andere den Haushalt schmeißt? Wunderbar! Ihr findet es schön, wenn beide arbeiten und sich den Haushalt teilen? Wunderbar! Ihr seid unzufrieden mit der Aufteilung? Redet darüber und ändert es, denn eure Rollen sind nicht angeboren!
Genau das ist der Kern der Geschlechterforschung: Wir werden mit körperlichen Merkmalen geboren, die jedoch nicht zwingend unsere Wünsche, Emotionen und Verhaltensweisen bestimmen. Klassische Rollenbilder und Stereotype können den eigenen Geschmack treffen, müssen aber nicht.
Warum sich also das Leben unnötig schwer machen? Fallen geschlechtsspezifische Erwartungshaltungen weg, verlieren wir nichts, sondern gewinnen freiere und glücklichere Menschen.

Klingt gut. Aber wovor haben wir dann Angst? Davor, darüber nachzudenken, was man mit seinem Leben anfangen möchte? Davor, Verantwortung für das eigene Verhalten zu übernehmen, ohne sich hinter Geschlechterrollen verstecken zu können? Angst davor, seine zwischenmenschlichen Beziehungen selbst zu gestalten?
Bricht wirklich die Welt zusammen, wenn Zuhause beim Arbeitskollegen – anders als bei einem selbst – die Frau grillt und der Mann das Gemüse schneidet? Oder ganz schlimm: sich beide dabei abwechseln?
Kann es nicht sein, dass die Angst vor der Geschlechterforschung nur ein Schreckgespenst ist, das in einem selbst lauert?!

Autor seit 10 Jahren
9 Seiten
Laden ...
Fehler!