Hatte Karl Marx doch recht?
Für Marx ist der Widerspruch zwischen der Grenzenlosigkeit der Produktivkräfte und deren Instrumentalisierung für den begrenzten Zweck der Profitsteigerung die Ursache für die Krisen im Kapitalismus.Die Ware als Elementarform des gesellschaftlichen Reichtums
Altvater beginnt seine Analyse mit einer Einführung in die Grundlagen der Marxschen Theorie. Von grundlegender Bedeutung ist hier die Definition der "Ware" als "Elementarform" des gesellschaftlichen Reichtums. Das heißt: Ziel der kapitalistischen Produktionsweise ist die Warenproduktion für den Markt, auf dem die Waren gegen Geld getauscht werden. Und in der Besonderheit der einzelnen Ware sind die gesellschaftlichen Klassenverhältnisse im Keim enthalten. Das heißt: Die einzelne Ware ist so etwas wie die "Stammzelle" der modernen kapitalistischen Gesellschaft.
Gebrauchswert und Tauschwert – konkrete und abstrakte Arbeit
Dass Waren auf dem Markt getauscht werden, bedeutet, dass sie nicht nur einen Gebrauchswert haben, sondern auch einen Tauschwert. Waren haben aber nur deshalb einen Tauschwert, weil sie eine gemeinsame Eigenschaft haben, die ihren Tausch erst ermöglicht. Und zwar ist es die Arbeit, die die Ware produziert und dabei ihren Wert hervorbringt. Das heißt: Arbeit ist einerseits konkret, indem sie sich in einem konkreten Gebrauchswert vergegenständlicht, und Arbeit bildet andererseits als abstrakte Arbeit den Warenwert. Arbeit produziert allerdings nur dann Wert, wenn für die Ware ein gesellschaftliches Bedürfnis, also kaufkräftige Nachfrage, vorhanden ist. Die Zirkulation ist also für das Wertverhältnis ebenso wichtig wie die Produktion. Das heißt: "Die kapitalistische Gesellschaft ist … Arbeits- und Geldgesellschaft. Das Wertverhältnis wird durch Arbeit produziert und reproduziert. Die Produktion erfährt ihren gesellschaftlichen Charakter dadurch, dass sie für den Austausch erfolgt und dass dieser Austausch der Ware (letztlich) gegen Geld tatsächlich gelingen muss. Die Analyse der Wertform der Ware muss also zur Analyse der Arbeit und des Geldes fortschreiten."
Die Verwandlung von Geld in Kapital
Von besonderer Bedeutung ist die Verwandlung von Geld in Kapital, und zwar durch die Selbstverwertung seines Werts. Das heißt: Eine vorgeschossene Summe Geldes G bezieht einen Zuwachs g, so dass eine größere Geldsumme G´ das Resultat ist: G plus g=G´. Und zwar resultiert der Geldzuwachs G´ daraus, dass die Arbeitenden im realen Produktionsprozess einen größeren Wert schaffen, als ihnen in der Form des Lohns ausbezahlt wird. Die Arbeitskräfte leisten also Mehrarbeit, sie werden ausgebeutet. Der Zuwachs G´ des Geldes wird als Mehrwert zum bewegenden Prinzip der sich herausbildenden kapitalistischen Produktionsweise.
Finanzkrisen
Zunächst ist festzustellen, dass - da im Kapitalismus die Zirkulation des Geldes als Kapital zum Selbstzweck wird – hier der Schein einer Loslösung der monetären Sphäre von der realen Welt der Produktion und des Warentausches entstehen kann. Das heißt: Über Monate und Jahre scheint es so, als ob Aktienumsätze, Wertpapierkurse, Renditen unabhängig von irgendwelchen Restriktionen wachsen können. Doch die Renditen, die auf den globalen Finanzmärkten gefordert werden, können real gar nicht produziert werden. Die Entkopplung von monetärer und realer Akkumulation findet mit anderen Worten immer wieder ihre Grenzen in dem von den Lohnarbeitern produzierten Mehrwert. G´ muss faktisch produziert werden, um im Austausch angeeignet werden zu können. Das heißt: "Der Überschuss in der Form des Mehrwerts stammt aus dem Verwertungsprozess, aus der Produktion. Er ist Resultat der Ausbeutung der Lohnarbeit. An diesem unumstößlichen Sachverhalt in der kapitalistischen Gesellschaft bricht sich immer wieder die Verselbständigung der monetären Sphäre. Aktienkurse und Renditen tendieren zwar dazu, abzuheben und jede Bodenhaftung zu verlieren. Das sind die manischen Zeiten, denen immer wieder die Depression folgt, weil in der Zirkulation des Geldes nicht mehr die Produktionsbedingungen des Mehrwerts berücksichtigt worden sind. Es kommt zum Crash." Auf den Finanzmärkten bilden sich also Liquiditätsblasen, die wie Seifenblasen platzen, weil ihnen die Substanz fehlt.
Anlässe für Krisen und ihre wahren Ursachen
Aufgrund der nur scheinbaren Autonomie der monetären Sphäre gegenüber der realen Welt der Produktion und des Warentausches muss unterschieden werden zwischen den konkreten Anlässen von Krisen und ihren wahren Ursachen. Das heißt: Krisen können zum einen dadurch ausgelöst werden – hier geht es um die Funktion des Geldes als Mittel der Zirkulation von Waren - dass Kauf und Verkauf der Waren auseinanderfallen, dass also "die Metamorphose der Waren in gesellschaftlich anerkannte Werte" misslingt, weil beispielsweise Geldeinnahmen nicht für Warenkäufe verwendet, sondern spekulativ angelegt werden. Zum anderen ist Geld auch Zahlungsmittel und daher die Grundlage für den Kredit, ja für das globale Finanzsystem. Hier kann es zur Krise kommen, wenn Zahlungsketten reißen, Kreditnehmer den Kredit nicht vereinbarungsgemäß zurückzahlen können, und zwar, weil geplante Einnahmen ausfallen, oder wenn Kreditnehmer Schwierigkeiten bekommen, die Zinsen zu zahlen, weil die Profite zurückgehen. Konkrete Anlässe für Krisen sind also das Auseinanderfallen von Kauf und Verkauf und die Unterbrechung von Zahlungsketten in der Zirkulation. Krisen spielen sich folglich ab im Zirkulationsprozess und in der scheinbar abgehobenen Geldsphäre. Die wirklichen Krisenursachen müssen jedoch im Produktions- und Reproduktionsprozess des Kapitals gesucht werden.
Der Konflikt zwischen Produktivkraft und Konsumtionskraft
Den wirklichen Krisenursachen kommt man auf die Spur, wenn man die bereits angesprochene Rentabilität bzw. Profitrate auf das vorgeschossene Kapital näher betrachtet. Denn diese ist in der kapitalistischen Produktionsweise die zentrale Steuerungsgröße. Das heißt: Die Akkumulation des Kapitals gerät vor allem dann ins Stocken, wenn die Profitrate fällt, insbesondere wenn sie geringer wird als die Zinsen für Kredite und die Renditen auf Finanzanlagen. Von großer Bedeutung ist hier die Konsumtionskraft der Gesellschaft. Denn diese wird beschränkt durch die antagonistischen Distributions- also Verteilungsverhältnisse - so befinden sich die Produktionsmittel ganz im Eigentum der Kapitalistenklasse - und durch den Drang nach Erhöhung der Profitrate. "Auf der einen Seite also übt das Kapital Druck auf die Masseneinkommen aus, um die Profite auf Kosten von Löhnen und Gehältern zu steigern; auf der anderen Seite brauchen die gleichen Kapitalisten die Arbeiter als Konsumenten der Waren, denn sonst können sie sie nicht verkaufen…Unter den Bedingungen der Profitproduktion geraten also Produktivkraft und Konsumtionskraft in Widerspruch zueinander." Es kommt zu einer Absatzkrise.
Unterkonsumtionstheorie und Überproduktionstheorie
Als Reaktion auf die Zuspitzung des Widerspruchs zwischen Produktivkraft und Konsumtionskraft sind zwei krisentheoretische Ansätze formuliert worden, nämlich die Unterkonsumtions- und die Überproduktionstheorie. Von Seiten der Unterkonsumtionstheorie, die vor allem von reformistischer Arbeiterbewegung und Gewerkschaften propagiert wird, wird als Mittel zur Schließung der Kluft zwischen Produktivkraft und Konsumtionskraft für eine Politik der Nachfragesteigerung plädiert. In der gegenwärtigen Finanzkrise wird von dieser Seite ähnlich argumentiert und deshalb auch harsche Kritik an der derzeit praktizierten Austerity-Politik geübt, durch die ja die Kaufkraft der Massen weiter reduziert und damit die Krise prozyklisch verstärkt wird. Für die Überproduktionstheorie ist das Übel die Produktion eines Überangebots an Waren. Sie fordert deshalb eine Lenkung der Investitionen.
Der Widerspruch zwischen Produktivkraft und Kapitalverwertung
Altvater zufolge greifen beide theoretischen Ansätze zu kurz, da sie jeweils nur eine Seite eines Widerspruchs hervorheben und dabei seine Bewegung im Zuge der Akkumulation von Kapital verkennen. Und zwar handelt es sich bei diesem Widerspruch - der im Konflikt zwischen Produktivkraft und Konsumtionskraft in Erscheinung tritt - um den Widerspruch zwischen dem Drang der gesellschaftlichen Produktivkräfte nach immer höherer Weiterentwicklung und ihrer Unterwerfung unter den beschränkten Zweck der Kapitalverwertung bzw. Profitsteigerung. Das Kapital setzt sich mit anderen Worten selbst Schranken, die immer wieder erneut überwunden werden müssen. Deshalb kommt es zu einer periodischen Entwertung des vorhandenen Kapitals und damit zu einer regelmäßig wiederkehrenden Störung seines Zirkulations- und Reproduktionsprozesses. Das heißt: Durch solche krisenhaften Zuspitzungen werden die Bedingungen eines neuen Aufschwungs der Akkumulation von Kapital und damit die Voraussetzungen für den erneuten Anstieg der Profitrate geschaffen. "Ohne die zerstörerischen Krisen gäbe es also keine Erneuerung des Kapitalismus, keine Reproduktion des Kapitalverhältnisses." Das bedeutet gleichzeitig, dass in der Krise die eskalierenden Widersprüche des kapitalistischen Produktionsprozesses so reguliert werden, dass das grundlegende Herrschaftsverhältnis des Kapitals über die Lohnarbeit erhalten bleibt.
Fazit
Die im kapitalistischen Wirtschaftssystem immer wieder auftretenden Krisen sind Zuspitzungen der immanenten Widersprüche der kapitalistischen Produktion, deren zeitweise Bereinigung und die Vorbereitung eines neuen Aufschwungs des Kapitalverwertungsprozesses. Insofern sind sie eine Art "Jungbrunnen" für den Kapitalismus.
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