Die Herrschaftsverhältnisse im Kapitalismus

Für diejenigen, die den Kapitalismus sozusagen vor sich selber schützen wollen, sind die Herrschaftsverhältnisse, die mit der Herausbildung des kapitalistischen Systems einhergehen, von ausschlaggebender Bedeutung. Und zwar sind die Herrschaftsverhältnisse im Kapitalismus – ich folge hier der Argumentation zweier großer deutscher Denker, nämlich Karl Marx und Walther Rathenau – das Resultat eines spezifischen historischen Prozesses. Das heißt: Die bisherige Geschichte der Menschheit hat dazu geführt, dass sich in jedem Volk jeweils zwei Klassen herausgebildet haben, von denen die eine Klasse die andere beherrscht und ihre Macht durch die Vererbung von Bildung und Besitz absichert. In der Neuzeit kommen unternehmerische und politische Tätigkeit als Machtbasis hinzu. Hier vermischen sich die alte feudale und die neue kapitalistische Schichtung. Dabei schottet sich die herrschende Klasse gegen "Eindringlinge von unten" ab und reproduziert sich selbst. - Nun könnte man einwenden, dass wir nicht mehr im 19. Jahrhundert leben und dass heute jedem Menschen der Weg nach oben offensteht. Der gesellschaftliche Wandel im 20. Jahrhundert hat auch in der Tat zu einer starken Auflockerung der sozialen Schichtung geführt. Am Beginn des 21. Jahrhunderts stellt sich die Situation jedoch wieder ganz anders dar. Das heißt: Nach Expertenmeinung gibt es derzeit ökonomische, politische und soziale Trends, die als Prozess einer Refeudalisierung gedeutet werden können.

Nur Geld im Kopf (Bild: geralt/Pixabay.com)

Geld ist alles (Bild: Nemo/Pixabay.com)

Die Refeudalisierung der modernen Gesellschaft

Es geht hier um eine Refeudalisierung der Sozialstruktur, der Wertvorstellungen und der Wirtschaftsorganisation. Charakteristisch für die Refeudalisierung der Sozialstruktur ist die Entwicklung eines "Prekariats", d.h., einer sozialen Schicht, die durch "prekäre" Arbeitsmarktverhältnisse und damit einhergehender Verarmung gekennzeichnet ist. Hinzu kommt das Auseinanderklaffen zwischen Löhnen und Gehältern auf der einen Seite und dem Einkommen aus Vermögen, unternehmerischer Tätigkeit sowie aufgrund von Erbschaften auf der anderen Seite. Ferner ist – vor allem in Deutschland - der Bildungsgrad stark von der sozialen Herkunft abhängig. Das heißt: In Deutschland werden nicht nur Vermögen vererbt, sondern auch der Bildungsgrad. In anderen europäischen Ländern hat die hohe Arbeitslosigkeit vor allem unter jungen Menschen dazu geführt, dass praktisch eine ganze Generation ihrer Lebenschancen beraubt worden ist. Die Refeudalisierung der Werte kommt in einer Abkehr vom Leistungsprinzip zum Ausdruck. Das heißt: Hohe Gehälter und Boni können nicht mehr mit Leistung begründet werden. Als Folgewirkung hat sich – und hier zeigt sich die Refeudalisierung der Wirtschaftsorganisation – eine ständisch privilegierte Managerklasse herausgebildet. Diese bildet gemeinsam mit den Besitzern großer Vermögen die neue herrschende Klasse. Als Resultat der Refeudalisierung ist also wiederum ein System entstanden, in dem es "ewige Gewinner" und "ewige Verlierer" gibt, das mit anderen Worten gekennzeichnet ist durch eine Dauerhaftigkeit von Machtkonzentration und damit das Fehlen der Dynamik eines fortwährenden Auf- und Abbaus von Machtpositionen. Das Erreichen einer dynamischen Machtbalance in der Wirtschafts- und Finanzwelt wäre demzufolge der Dreh- und Angelpunkt bei einer grundlegenden Reform des Kapitalismus.

Oben und unten (Bild: geralt/Pixabay.com)

Wer das Sagen hat (Bild: geralt/Pixabay.com)

Die Einführung einer globalen sozialökologischen Marktwirtschaft

Heiner Geißler, in Personalunion CDU-Politiker und Mitglied der globalisierungskritischen Bewegung "Attac", zeigt detailliert auf, wie die Neujustierung der Machtverhältnisse in der Wirtschafts- und Finanzwelt gelingen könnte. Und zwar sind diese für Geißler aus dem Ruder gelaufen, nachdem sich der Kapitalismus infolge der Globalisierung von den Regeln der sozialen Marktwirtschaft, die ihn nach 1945 gebändigt hatten, befreit hatte. Das Hauptübel des modernen Kapitalismus ist demnach für Geißler, dass es keinen geordneten Wettbewerb mehr gibt. Geißler wörtlich: "Die internationale Politik muss Regeln formulieren, sie muss der global agierenden Wirtschaft ein juristisches Koordinatensystem geben und es dann Stück für Stück durchzusetzen versuchen. Der politische Kampf gegen die Anarchie der Märkte muss aufgenommen werden". In diesem Zusammenhang schlägt Geißler ein Bündel von Maßnahmen vor, nämlich die Einführung einer internationalen Bankenaufsicht, eines Weltkartellamts, die Schließung von Off-Shore-Centers, so dass es keine Inseln mehr gibt, von denen aus der Radikal-Kapitalismus global agieren kann, sowie die Demokratisierung der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds und der Welthandelsorganisation. Hinzukommen müsste ein globaler Marshall-Plan, mit dessen Hilfe die Schäden repariert werden könnten, die der Turbo-Kapitalismus angerichtet hat. Finanziert werden könnte dieser über eine Spekulationssteuer, die riesige Summen einbrächte. Das Ziel all dieser Maßnahmen ist für Geißler die Re-Regulierung des Kapitalismus in einer internationalen sozialökologischen Marktwirtschaft. Bleibt die Frage, ob ein solcher, nicht nur sozialen, sondern auch ökologischen Erfordernissen genügender Kapitalismus überhaupt möglich ist.

Kann der Kapitalismus "resozialisiert" werden?

Was die soziale Komponente betrifft, so hat die Bändigung des Kapitalismus durch die Regeln der sozialen Marktwirtschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Tat gezeigt - insofern muss man Heiner Geißler recht geben - dass die "kapitalistischen Raubtiere" zu zähmen sind, wenn der politische Wille dazu vorhanden ist. Und warum sollte das, was seinerzeit im Rahmen der Nationalstaaten gelungen ist, im 21. Jahrhundert nicht auch auf internationaler Ebene gelingen, wobei man auch bedenken muss, dass anders die globale Wirtschafts- und Finanzkrise nicht zu bewältigen sein wird. Das heißt: Wenn, um es drastisch auszudrücken, die Politik "weiter nach der Pfeife der Finanzmärkte tanzt", statt diesen zu zeigen, dass sie "der Herr im Haus ist", wird die Krise zum Dauerzustand. Ferner muss daran erinnert werden, dass es auf der Welt ja nicht den Kapitalismus gibt, sondern verschiedene Spielarten, darunter einige, bei denen die Politik immer schon regulierend eingegriffen hat. Diese könnten zum Vorbild genommen werden. Inzwischen gibt es auch einflussreiche und mächtige supranationale Institutionen. Diese müssten, wie von Geißler gefordert, weiter gestärkt und dann für die Krisenbewältigung eingesetzt werden. Erforderlich wäre hier allerdings eine ideologische Neu-Ausrichtung, nämlich weg von der neoliberalen Ideologie.

Grüne Zukunft (Bild: geralt/Pixabay.com)

Weltweiter Wandel (Bild: geralt/Pixabay.com)

Ist ein "grüner Kapitalismus" möglich?

Während die, die den Kapitalismus für alternativlos halten, die globale Wirtschafts- und Finanzkrise zum Anlass nehmen wollen, um den Kapitalismus grundlegend zu reformieren, ist für die Gegner des Kapitalismus die Wirtschafts- und Finanzkrise ein starkes Indiz dafür, dass der Kapitalismus vor dem Aus steht. Noch schwerer wiegt jedoch für sie die Ökologiekrise, die seit langem schwelt und von der Wirtschafts- und Finanzkrise nur überlagert worden ist. Das heißt: Das kapitalistische System beruht auf dem Dogma immerwährenden Wachstums, und dieses Wachstum resultiert aus dem immer höheren Verbrauch fossiler Brennstoffe. Aber die Vorräte an fossilen Energien gehen zur Neige, und die Umweltverschmutzung infolge der Verbrennung der fossilen Energieträger hat ebenfalls bereits ein kritisches Ausmaß erreicht. Auch ein sogenanntes "nachhaltiges Wachstum" auf der Basis der Nutzung erneuerbarer Energien und damit ein "grüner Kapitalismus" ist nach Expertenmeinung nicht möglich. Das heißt: Die Nutzung erneuerbarer Energien würde einen Paradigmenwechsel erforderlich machen, nämlich weg vom Paradigma stetigen Wachstums hin zu einem Grenzen-des-Wachstums-Paradigma, und dem würde eine Wirtschaftspolitik entsprechen, die eine "Gesundschrumpfung" der Weltwirtschaft einleitet. Ein solcher Paradigmenwechsel würde aber von den Kapitalisten nicht akzeptiert, könnte vielleicht von ihnen auch gar nicht akzeptiert werden. Der Kapitalismus mit seinem Wachstumswahn und das Prinzip der Nachhaltigkeit sind mit anderen Worten nicht miteinander zu vereinbaren. Mithin ist ein "grüner Kapitalismus" eine Illusion. Das heißt: Der Kapitalismus kann vielleicht "resozialisiert " werden, aber er kann nicht "ergrünen".

Der Ausstieg aus dem Kapitalismus

Grundsätzlich betrachtet, müsste ein Wirtschaftssystem, das an die Stelle des kapitalistischen Systems treten soll, auch ohne Wachstum stabil sein. Und es müsste möglich sein, dass der Systemwechsel "in geordneten Bahnen" verläuft, also ohne dass der Kapitalismus vorher in spektakulärer Weise zusammenbricht, wie es im Jahr 2008 gerade noch verhindert werden konnte. Die von Heiner Geißler vorgeschlagenen Maßnahmen könnten meiner Meinung nach eine Grundlage dafür sein, um den Kapitalismus "ordnungsgemäß abzuwickeln". Das heißt: Die von ihm anvisierte sozialökologische Marktwirtschaft könnte letztlich einmünden in ein nicht-kapitalistisches Wirtschaftssystem, das man – folgt man dem Marx-Experten Elmar Altvater – als einen "grünen Sozialismus" beschreiben kann.

(Bild: geralt/Pixabay.com)

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Ein "grüner Sozialismus"

Altvater zufolge wird sich der grüne Sozialismus des 21. Jahrhunderts grundlegend unterscheiden vom Sozialismus des 20. Jahrhunderts. Das heißt: Während der Sozialismus des 20. Jahrhunderts ebenso wie der Kapitalismus auf der Nutzung fossiler Energien beruhte, wird der Sozialismus des 21. Jahrhunderts ausschließlich erneuerbare Energien nutzen. Während ferner im Sozialismus des 20. Jahrhunderts die kollektive Verfügung über die Produktionsmittel vor allem durch staatliches Eigentum gewährleistet werden sollte, wird im grünen Sozialismus des 21. Jahrhunderts eine größere Vielfalt von Eigentumsformen erforderlich sein, nämlich genossenschaftliches Eigentum, kommunales und Staatseigentum, Gemeineigentum, aber auch privates Eigentum. Es wird also eine plurale Ordnung des Eigentums geben. Entsprechend der Drosselung des Wachstums wird auch die Kapitalakkumulation "entschleunigt" werden. Es werden weniger Güter für Investitionen und mehr Güter für den Ge- und Verbrauch produziert werden. Auch die Verteilung wird sich ändern, und zwar zu Gunsten der Arbeit und zu Lasten des Kapitals. Insgesamt geht es um die Herstellung einer Einheit aus genossenschaftlicher Produktion, staatlicher Verteilung und Umverteilung, an der verschiedene Akteure partizipieren, nämlich Staaten, gesellschaftliche Initiativen, Bewegungen, Organisationen im öffentlichen Raum, aber auch in der Produktionssphäre, sowie globale Institutionen und Kommunikationsplattformen. Als Vorformen eines solchen grünen Sozialismus können die weltweite Genossenschaftsbewegung, die vor allem in Südamerika stark ist, sowie neue solidarische Wirtschaftsformen, lokale und internetbasierte Tauschringe in Europa gewertet werden.

Fazit

Wie jede Krise, stellt auch die derzeitige globale Wirtschafts- und Finanzkrise, die de facto von einer tiefgreifenden Ökologiekrise begleitet wird, nicht nur eine Katastrophe dar, sondern bietet auch eine Chance, nämlich die Chance, aus dem "Weiter-so" auszubrechen und einen wirklichen Neuanfang zu wagen – nicht nur in Europa, sondern global. Dabei gilt, dass die Alternative zum "real existierenden Kapitalismus" nicht als eine Art "Masterplan" erdacht und dann allen übergestülpt wird, sondern von allen Beteiligten in kritischer Auseinandersetzung mit der kapitalistischen Realität entwickelt, praktisch erprobt und aktiv und kreativ verbessert wird.

Bildnachweis

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Bücher zum Thema

Autor seit 10 Jahren
161 Seiten
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