Kann ein Gescheiterter auch ein Gescheiter sein?
Die landläufige Meinung kann sich das nicht vorstellen. Es stellt sich halt nicht jeder die Frage: "Woran ist er denn gescheitert?" Sowas kennt man ja schließlich.(Bild: WorldpressPictures / Pixabay)
Das Vorurteil
Unter einem Vorurteil versteht man zunächst die starrköpfige und unreflektierte Aburteilung des Nächsten. Vorurteile will keiner haben. "Ich und Vorurteile?", empört man sich. Vielleicht ist das bereits ein Vorurteil. Eines über sich selbst.
Wir müssen hier einen kleinen Gedankensprung machen. Den Sprung von "Vorurteil" zu "Erfahrungsschatz". Da dürfte es doch gewisse Zusammenhänge geben: Die Erfahrungen, die wir im Leben gemacht haben, führten zu der Art, wie wir heute denken – folglich auch urteilen.
In neuen Situationen haben wir nur unseren Erfahrungschatz zur Verfügung, um sie einzuschätzen. Dies sollte aber so gut wie möglich gelingen. Ein Gespür dafür, wie die Kollegen am neuen Arbeitsplatz "ticken", kann ungeheuer wichtig sein. Mancher Neueinstieg ging schon gründlich daneben, manche Panne stellte unreparierbar die Weichen. Man muss die neue Situation sofort beurteilen, das Ergebnis kann aber nur vorläufig sein. Vom Ausdruck her sind wir schon sehr nahe dran am Vorurteil.
Es ist wie bei einer Vorverhandlung. Die eigentliche Verhandlung kommt erst noch, das Ergebnis kann ganz anders ausfallen. Dieses Prinzip sollte auf das Vorurteil übertragen werden, so ist dieser Ausdruck ursprünglich gemeint.
Das hartnäckige Vorurteil aber liefert neuen Erfahrungen geradezu eine Abwehrschlacht. Wer über einen Mitmenschen schlecht denkt und redet, wird jede Information bekämpfen, die sein Denken widerlegt. "Das kann nicht sein, dass dieser Trottel das Abitur geschafft hat!", "Mein Kumpel hält diesen Kerl auch noch für intelligent!", "Die Mathearbeit hat er sicher abgeschrieben!" – so oder ähnlich klingen die Kampfparolen des Vorurteils. Leider bleibt es auch noch meistens Sieger.
Der Maßstab und der Zollstock
Diese beiden Begriffe sind nur bedingt vergleichbar.
Ein kleiner Exkurs über das Messen ist hier vielleicht hilfreich. Wir wachsen mit dem Messen auf. "Mensch, was bist du groß geworden", sagt die Oma, wenn sie ihren Enkel nach einem Jahr wiedersieht. Vielleicht wird dem Buben auch mal das Maßband angelegt. Wer ausgewachsen ist, hat die "Messerei" noch lange nicht hinter sich. Der Blick auf die Waage bringt auch Messergebnisse, manchem nicht unbedingt die erfreulichsten. Auch wenn man hier von "Wiegen" statt von "Messen" spricht, es werden Zahlen geliefert, mit denen wir etwas bewerten: "Schon wieder drei Kilo zugenommen!" Das Messen begleitet uns ein Leben lang.
Ein unsichtbares Maßband hat auch die Lehrerin zur Hand, wenn sie die Klassenarbeit korrigiert. Der Deutschaufsatz lässt sich allerdings nicht nach Zentimetern bemessen. Und schon stehen wir vor einem Problem. Wieso bekommt mein Aufsatz nur eine vier?
Jetzt haben wir uns aus dem Bereich des exakt Messbaren ein wenig herausbewegt. Ich habe hier aus der schulischen Leistungsbemessung bewusst erst einmal den Deutschaufsatz herausgegriffen. Bei der Mathearbeit ist es einfacher. Von sieben Aufgaben nur drei richtig! Vier! Der Maßstab ähnelt hier noch eher dem Zollstock.
Konkreter Zahlenwert: Errechnet oder erdichtet?
Welchen Zahlenwert setzt man aber beim Deutschaufsatz ein? Gewiss, die Zahl der Rechtschreibfehler fließt mit ein. Auch die lebendigste Schilderung verliert an Wert, wenn sie mit vielen Fehlern behaftet ist. Bewertet wird jedoch die Darstellung. Wie unterschiedlich diese bewertet werden kann, zeigt schon eine Untersuchung aus dem Jahre 1970. Bei dieser sollten Lehrer unabhängig voneinander Deutschaufsätze benoten. In einem Fall bekam derselbe Aufsatz Noten von eins bis sechs.
Hier möchte ich den Bogen ziehen zum Vorurteil – möglichst, ohne mich mit allen Deutschlehrern anzulegen. Das Vorurteil hat viele Maßstäbe zur Verfügung. Zur Beurteilung zieht es stets einen Maßstab hervor, der es stärkt. Wenn beispielsweise der Hausmeister des Instituts über den Dozenten lästert: "Der soll von höherer Bildung sein? Der kann nicht einmal einen Nagel in die Wand schlagen!" Der versierte Handwerker beurteilt den Akademiker nach seinen Maßstäben. Natürlich vernichtend.
Wenn man dem Vorurteil Einhalt gebieten will, ist der exakte Maßstab die stärkere Waffe. Ein eindeutiger Zahlenwert ist unbestechlich. Hat der Gewichtheber vor Zeugen zwei Zentner zur Hochstrecke gebracht, hat er damit möglicherweise auch dieses oder jenes Vorurteil zum Schweigen gebracht. Zu viel Optimismus beim Kampf gegen Vorurteile würde ich aber aus dieser Betrachtung nicht beziehen.
(Bilder: Eukalyptus / OpenClipart/Vektors / pixabay)
Subjektiv – objektiv
Im zuvor Gesagten habe ich auf die Schlagkraft von Zahlenwerten hingewiesen. Diese Schlagkraft liegt auch in Schulnoten. Das merkt man spätestens, wenn man sich damit bewirbt. Aber unser Schulsystem beinhaltet nun einmal die Benotung. Es wäre unfair, dem Deutschlehrer Vorurteile bei seiner Notengebung zu unterstellen. Ein Blick auf die Begriffe "subjektiv" und "objektiv" ist hier jedoch angebracht.
Lasst uns doch mal den Blick auf eine schöne Landschaft richten. Das Matterhorn zum Beispiel bietet dem Naturfreund einen atemberaubenden Ausblick. Sagen wir doch einmal schlicht: "Das Matterhorn ist schön." Nun richte ich aber gerade in diesem Moment meinen Blick auf diesen schönen Berg. Ist das Matterhorn denn noch schön, wenn ich schon lange wieder im Flachland bin?
Wieso denn nicht? Es verändert sich doch nicht durch meine Abreise. Aber: "Schönheit liegt im Auge des Betrachters", sagte einst Thukydides. Wenn wir ihm glauben, dann haben wir die Schönheit des Matterhorns mitgenommen. In den Schweizer Bergen liegt nur noch dieser riesige Felsen. Der ist objektiv messbar. Die Höhe wurde von Geologen vermessen und liegt als Zahlenwert vor.
Das Objektive ist demnach das, was übrig bleibt, wenn kein urteilender Mensch mehr da ist. Das Subjektive fügen wir gewissermaßen hinzu wie ein Projektor das Bild. In der psychologischen Diagnostik wird mit dieser Annahme gearbeitet, wenn projektive Tests eingesetzt werden. Beim Rorschachtest zeigt der Diagnostiker dem Probanden (der zu prüfenden Person) Karten, auf denen sinnlose Tintenklekse zu sehen sind. Was der Proband dabei erkennt, kann nichts anderes sein, als Projektion – die Klekse sind absolut zufällig entstanden. Die Inhalte waren in der Person vorhanden. Dies lässt den Diagnostiker Rückschlüsse auf die Persönlichkeit ziehen.
Ich will an dieser Stelle den "Loser" nicht aus den Augen verlieren. Auch er dient manchem Zeitgenossen, der gerne Außenseiter oder "gescheiterte Existenzen" aufs Korn nimmt, als "Projektionsleinwand".
(Bild: Maximilian / Pixabay)
Ich kann mich einfach nicht verkaufen!
Wer solche Klagen von sich gibt, der sieht diesen Wesenszug als Mangel an. Zu Recht?
Machen Sie einmal einem Bekannten ein Kompliment. Sagen Sie ihm: "Sie können sich gut verkaufen. Sie passen wirklich in die Welt." Vielleicht ist er bescheiden. Ihr Kompliment bringt ihn in Verlegenheit. Er versucht vielleicht, seinen Verkaufserfolg weniger sensationell darzustellen: "Nun, der Eskimo hat nicht ganz oben im Norden gewohnt, als ich ihm den Eisschrank verkauft habe."
Etwas überraschend wird es für Sie sein, wenn er Ihre Aussage nicht als Kompliment auffasst. "Ich soll in diese Welt passen? Ja, schauen Sie sich doch nur einmal um! Lug und Trug, Hinterhältigkeit und Intrige. In diese Welt will ich nicht passen!" Vielleicht hatten Sie die Sache noch nie so betrachtet, kommen nun in Zweifel: "Ist es wirklich so eine Auszeichnung, in diese Welt zu passen?"
Vielleicht schieben Sie diesen Gedanken auch wieder beiseite. Vernünftigerweise. Sie leben – so wie alle anderen auch – nun einmal in dieser Welt. Ich komme hier wieder auf unseren "Loser" zu sprechen. Gut möglich, dass er sein mangelndes Verkaufstalent als Anzeichen dafür wertet, nicht in die Welt zu passen.
Leitbild: Verkaufskanone
Der erfolgreiche Geschäftsmann gehört zu den Idealvorstellungen unserer Gesellschaft. Ihm fällt Verkaufen leicht. Dabei sind persönliche Qualitäten sicherlich mitentscheidend. Ein sympathisches Äußeres öffnet manche Tür. Wortgewandtheit tut ein Übriges dazu. Auch das Fachliche will beherrscht sein. Doch zählen nur derart mustergültige Qualitäten?
Ein bisschen verstellen muss man sich wohl meistens, wenn man etwas verkaufen will. Die Sympathie für den Käufer ist vorgetäuscht, der Kerl ist mir eigentlich "wurscht". Die angepriesenen Brocken würde ich im Leben nicht kaufen. - Ich will auf keinen Fall jedes Verkaufsgespräch als Täuschungsmanöver hinstellen. Nicht, dass ich nach den Deutschlehrern nun die Verkäufer auf dem Hals habe. Aber ich erzähle sicher niemandem etwas Neues, wenn ich sage: "Im Geschäftsleben wird man ganz schön über den Tisch gezogen!"
Es geht mir mit dieser Darstellung auch vor allem um die Auswirkungen. Dem Betrachter wird vorgehalten: "So muss man sein! So liegt man richtig!" Was das für unser Zusammenleben bedeutet, kann jeder selbst betrachten.
Hierzu noch ein kleines Wortspiel. Es ist ja eingangs die Rede davon, sich zu verkaufen. Man selbst ist also die Ware. Will heißen: Man setzt sich selbst in das günstigste Licht. Nun kennt aber jeder die Redewendung "verraten und verkauft". Hat man das vielleicht sich selbst angetan, wenn man sich bei der Selbstdarstellung sehr verbogen hat?
(Bild: ClkerFreeVektorImages / Pixabay)
(Bild: skeeze / Pixabay)
Die Welt will nun einmal den Sieger sehen!
Die näheren Umstände werden ausgeblendet. Hauptsache gewonnen.
Der Sieger ist die Identifikationsfigur. Auf den ersten Blick durchaus verständlich. In vielen Filmen wird der Sieger verherrlicht. Auf dem Fußballplatz wird der Meister gefeiert. Der neu gewählte Präsident wird umjubelt. Wer den Kürzeren gezogen hat, zieht sich in die Ecke zurück, wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Alles Bilder, die jedem von uns zeigen, was erstrebenswert ist. Gewinnen ist schöner als Verlieren.
Ich werde es sicher nicht leicht haben, wenn ich dem Leser das Verlieren schmackhaft machen will. "Die Niederlage gehört dazu, an ihr kann man reifen." Ähnliche Kommentare kann man manchmal nach sportlichen Wettkämpfen hören. Ganz wird dem Unterlegenen aber wohl nicht abgenommen, dass er die Niederlage "so einfach wegsteckt".
Sicher ist hier auch unser genetisches Erbe wirksam. In der Natur ist es mit dem Verlierer meistens aus, er dient nur noch als Futter. Bei sportlichen Wettkämpfen – zumindest im Amateurbereich - ist es nicht ganz so dramatisch. Der Verlierer darf morgen wieder ran. Vielleicht gewinnt er dann ja.
Schluss mit lustig - im Beruf wird's ernst
Im Berufsleben gehen Sieg oder Niederlage schon mehr an die Existenz. Sie können den weiteren Berufsweg in völlig verschiedene Richtungen lenken. Zwei Mitarbeiter bewerben sich in der Firma um die gehobene Position. Der erfolgreiche Kandidat bekleidet fortan eine einflussreichere Stellung. Hat neue Hebel zur Hand, mit denen er etwas in Gang setzen kann. Und der unterlegene Bewerber? Er bleibt in der Position, für die er überqualifiziert ist. Nach oben lässt man ihn nicht. Wenn er da nicht bleiben kann, muss er nach unten. Danach eventuell noch eine Etage tiefer. Nicht selten wird jemand so "nach unten durchgereicht".
Dass der Prokurist in seiner Firma plötzlich im Pförtnerhäuschen sitzt, ist natürlich schwer denkbar. Wenn wir uns vorstellen, wie seine Berufslaufbahn weitergeht, sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Manchmal verbessert man sich ja auch bei einem Stellenwechsel. Vielleicht stürzt man völlig ab. Jeder kann sich hier sein Szenario selbst ausmalen.
Ich will hier nur noch einmal auf den Erfolgreichen im Vergleich zum Gescheiterten kommen. Nur mit fiktiven Personen, es soll eine allgemeine Betrachtung bleiben. Konkrete Beispiele wird jeder finden, der danach sucht. Vielleicht war der Kandidat, gegen den man sich entschieden hat, der eigentlich besser Qualifizierte. Vielleicht fürchteten einige, ihm nicht gewachsen zu sein. Vielleicht war der Erfolgreiche auch eher bereit, sich zu "verbiegen". Und es sage bitte niemand,
so etwas käme nicht vor!
"So einfach werden wir die Welt nicht ändern", mag manch einer sagen. Fürchte ich auch. Ich weiß auch nicht, ob wir mit solchen Betrachtungen die Häme und die Schadenfreude von unserem Gescheiterten fernhalten. Einen Versuch ist es mir wert.
Bildquelle:
Droemer-Verlag
("Wunder muss man selber machen" von Sina Trinkwalder - mehr als ein...)