Keine Gnade für Gretchen - Goethes dunkle Seite (1)
Goethes Mitschuld am Tod der 24jährigen Johanna Catharina HöhnGoethe, die Frauen und ein blutjunger Herzog
Frauen und Frauenschicksale spielen immer wieder eine inspirierende Rolle bei der Entstehung hervorragender Werke Johann Wolfgang v. Goethes (1749 – 1832). Mit der "Gretchentragödie" in seinem Hauptwerk "Faust I" setzt er der 1772 wegen Kindstötung enthaupteten Dienstmagd Susanna Margaretha (Gretchen) Brandt ein ewiges Denkmal.
"Die Leiden des jungen Werther" sind das Produkt der unglücklichen Liebe Goethes zu Charlotte Buff. Zugleich ist der Roman aber auch Anlass der Bewunderung des blutjungen Herzogs Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach (1757 – 1828) für den nur wenig älteren Dichter und Juristen Goethe und führt schließlich zu dessen Berufung an den Weimarer Hof.
Ein anderer Grund für den politisch zukunftsweisenden Schritt des Landesherrn dürfte darin zu suchen sein, dass sich Goethe im "Werther" für das Schuldstrafrecht (Täterstrafrecht) ausspricht.
Mit anderen Worten: Er plädiert dafür, dass bei der Verurteilung von Straftätern alle inneren und äußeren Umstände der Tat gründlich erforscht und berücksichtigt werden und dass nicht, wie damals üblich, die Tat losgelöst von der Person, für sich allein gesehen und bestraft wird (Vergeltungsstrafrecht, Tatstrafrecht).
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts sieht es so aus, als ob sich das kleine Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach unter der Herrschaft von Carl August zu einem modernen, humanen Staatsgebilde entwickeln könnte. So denkt der Herzog u.a. darüber nach, die Folter abzuschaffen. Bereits Voltaire (1694 – 1778) hatte in der Folter eine unzulässige Bestrafung gesehen, die schon VOR einem rechtsgültigen Urteil vollstreckt wird, zu einem Zeitpunkt also, zu dem der/die Angeklagte noch als unschuldig zu gelten hat.
Ebenso will Carl August die Todesstrafe bei Kindstötung während oder kurz nach der Geburt (Neonatizid) abschaffen - ein Thema, dass angesichts des gegenwärtigen Medieninteresses an derlei Tragödien und den damit einhergehenden gleichermaßen öffentlichen wie undifferenzierten Vorverurteilungen der Angeklagten durchaus aktuell ist.
Hintergrund der herzoglichen Überlegungen ist die soziale, moralische und wirtschaftliche Notlage, in der sich insbesondere unehelich schwangere Frauen befinden, ebenso wie die Erkenntnis des Herzogs, dass diese Frauen meist aus purer Verzweiflung und in großer Angst handeln. Carl August kennt die oft extreme wirtschaftlich-soziale Not der Schwangeren, die Schande der unehelichen Geburt, die Schwierigkeiten, ein Kind aufzuziehen und gleichzeitig hart zu arbeiten sowie die extremen körperlichen Belastungen und Schmerzen der Gebärenden während der Entbindung unter widrigsten und primitivsten Bedingungen.
Der Mann mit den zwei Gesichtern
1783 ist Johann Wolfgang von Goethe (inzwischen geadelt) Geheimer Rat am Hofe Carl Augusts und Mitglied des "Geheimen Consiliums", das den Herzog bei hochkarätigen Problemen und Entscheidungen berät. In dieser Eigenschaft eröffnet sich dem Politiker, Juristen und Dichter Goethe plötzlich die geradezu einzigartige Chance, der 24jährigen Dienstmagd Johanna Catharina Höhn aus Tannroda bei Weimar das Leben zu retten - einer jungen Frau, die unter ähnlichen Umständen wie sein "Gretchen" Susanna Margaretha Brandt ihr Kind kurz nach der Geburt getötet hat.
Es sind genau DIE Probleme, die Carl August erkannt hat, welche Johanna Catharina Höhn an ihrer ausweglosen Situation haben verzweifeln lassen: Mittellosigkeit, Angst vor Schande und Verachtung, die fehlende Unterstützung seitens der Familie sowie des Kindesvaters, die furchtbare Angst vor der strengen Dienstherrin und dem Verlust der Arbeit. Die junge Magd entbindet heimlich und ohne jede Hilfe in ihrer dunklen Kammer, gerät in Panik und tötet das Kind mit einem Messer. Danach bleibt sie völlig erschöpft liegen und fügt sich in ihr Schicksal.
Der Schöppenstuhl zu Jena verurteilt Johanna Catharina Höhn zum Tode durch Enthauptung. Das letzte Wort aber hat der Herzog!
Der verlangt von seinen Ratgebern persönliche Stellungnahmen zur Frage, ob Johanna Catharina Höhn hingerichtet oder zu lebenslanger Zuchthausstrafe begnadigt werden soll.
Das "Geheime Consilium" der herzoglichen Ratgeber besteht aus drei Personen: Christian Friedrich Schnauss, Jakob Friedrich v. Fritsch und Johann Wolfgang v. Goethe. Es geht um Leben oder Tod.
Schnauss votiert gnadenlos für die Hinrichtung.
Jakob Friedrich v. Fritsch verhält sich neutral, trifft keine eindeutige Entscheidung und rät stattdessen, die Verurteilte wählen zu lassen zwischen Enthauptung und lebenslanger Zuchthausstrafe. Ferner schlägt er vor, die Entscheidung dem Landesherrn zu überlassen, was hier zweifelsohne auf eine Begnadigung hinausgelaufen wäre.
Der Wortspieler
Dritter im Bunde und somit das sprichwörtliche "Zünglein an der Waage" ist Johann Wolfgang von Goethe.
Wird er seine historische Chance nutzen?
DIESMAL, 11 Jahre nach "Gretchens" Hinrichtung, könnte die Geschichte einen anderen Verlauf nehmen! Doch was dann passiert, entzieht sich jeder verstandesmäßigen Erklärung:
Er finde es "räthlicher", an der Todesstrafe festzuhalten, schreibt Goethe am 4. November 1783. Grammatisch geschickt verschiebt er die Verantwortung für diese tödliche Entscheidung auf Schnauss und v. Fritsch, indem er selbst (v. Goethe) nur von der Todesstrafe im Allgemeinen spricht und außerdem behauptet, er stimme mit den Voten der beiden anderen Berater "völlig überein".
Da Schnauss und v. Fritsch aber unterschiedlich votieren, KANN sich Goethe gar nicht beiden gleichzeitig anschließen!
Fakt ist, dass er die Todesstrafe letztlich befürwortet, ohne sich persönlich für den Tod der jungen Frau verantwortlich fühlen zu müssen. Indem Goethe seinen eigenen Wertvorstellungen und Grundsätzen untreu wird, fällt er zugleich seinem Landesherren in den Rücken, der zweifelsohne eine andere Entscheidung von ihm erwartet hat, und trägt - außer zum Tode von Johanna Catharina Höhn - auch noch dazu bei, dass Sachsen-Weimar-Eisenach in Rückständigkeit und Inhumanismus verharrt.
Goethes Entscheidung schockiert Carl August zutiefst. Für Johanna Catharina Höhn bedeutet das bizarre "Votum" den sicheren Tod.
Fast scheint es, als habe der Politiker und Machtmensch Goethe den Dichter und Humanisten Goethe nie gekannt – zwei Seelen in einer Brust.
Ob Goethe einen Vorteil aus diesem geradezu schizophrenen Schachzug gezogen hat, bleibt unklar. Vielleicht wollte er sich ein "Hintertürchen" für den Fall offenhalten, dass der jugendliche Herzog mit seinen weitreichenden Reformplänen scheitern würde?
Ein Aufsatz, in welchem Goethe sein Handeln erklärt, ist bezeichnenderweise aus dem Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar verschwunden und auch im persönlichen Nachlass Goethes nicht auffindbar. Letztendlich ist dieses Dokument aber ohnehin unerheblich, denn was auch immer Goethe nachträglich zu deuten versucht haben mag: seine höchsteigenen Worte vom 4. November 1783 entkräften jeden Rechtfertigungsversuch.
Opportunismus - weil nicht sein kann, was nicht sein darf!
Die meist auf Kommerz gerichteten aktuellen Schriften und offiziellen Verlautbarungen über Goethe klammern den Fall Höhn (wie auch andere) weitgehend aus. Man muss Goethe weder gelesen haben, noch muss man seine Biografie kennen, um Geld mit ihm zu verdienen. Dunkle Flecke auf seiner weißen Weste stören dabei nur.
Will man Goethes Verhalten im Fall Höhn als klassisch opportunistisch charakterisieren, so trifft man damit wahrscheinlich "des Pudels Kern", muss dann aber zugleich die Frage stellen, ob nicht diejenigen, die sich HEUTE einen wie auch immer gearteten Nutzen aus Goethes Erbe versprechen, ebenfalls opportunistisch handeln, wenn sie das Edle, Hilfreiche und Gute in einem besonders hellen Licht erscheinen lassen und die Schizophrenie zwischen dem Politiker, dem Juristen und dem Dichter Goethe nur schamvoll am Rande oder gar nicht erwähnen.
Die Folgen – damals und heute
Johanna Catharina Höhn wird öffentlich enthauptet. Ihre Leiche bringt man nach Jena, wo ihr Körper anatomischen Studien dient. Selbst nach ihrem Tod wird diese Frau erbarmungslos ausgenutzt, benutzt und dann weggeworfen. Der Verbleib ihrer Leiche ist unbekannt.
Goethe arbeitet fast bis zu seinem Tode weiter am "Faust" und verändert dabei auch die "Gretchenszene" im Vergleich zum "Urfaust" deutlich.
Der Dichterfürst gilt heute als DAS humanistische Ideal schlechthin. Seine Rolle im Prozess um Johanna Catharina Höhn will nicht so recht ins Bild passen. Wirklicher Ruhm jedoch muss auch unangenehme Wahrheiten aushalten können, sonst ist er nur Fassade. Eine dieser unangenehmen Wahrheiten, das Votum Goethes im Falle der Johanna Catharina Höhn, wird heute im Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar aufbewahrt.
Wortlaut des Votums vom 4. November 1783
"Da das Resultat meines unterthänigst einge-
reichten Aufsatzes mit beyden vorliegenden
gründlichen Votis völlig übereinstimmt; so
kann ich um so weniger zweifeln selbigen
in allen Stücken beyzutreten, und zu
erklären daß auch nach meiner Meinung
räthlicher seyn mögte die Todesstrafe
beyzubehalten. d. 4. Nov. 1783.
JWGoethe"
(Zeichensetzung und Zeilen wie im Original.)
Was die "psychologische Einfühlung in die Gründe für die Tat" betrifft, so sind wir heute im Bezug auf die strafrechtliche Bewertung des sog. Neonatizid (Kindstötung während oder unmittelbar nach der Geburt) von einem wirklichen Verstehen noch immer WEIT entfernt. Die Tabuisierung des Themas und die emotionsgeladene, meist sehr oberflächlich geführte öffentliche Diskussion tragen ein Übriges dazu bei.
Um die Tötung eines Kindes unter den besonderen Umständen einer allein durchgestandenen Geburt und unter für Außenstehende kaum vorstellbaren psychischen, sozialen und psychogynäkologischen Umständen zu begreifen und angemessen zu bewerten, bedarf es aber vor allem des geduldigen Zuhörens und des tiefen inneren Wollens, zu verstehen. Genau daran aber mangelt es nicht nur in den aktuellen Fällen von Kindstötung, sondern generell, wenn es darum geht, menschliche Notlagen zu erkennen und ihnen rechtzeitig und menschenwürdig zu begegnen, ohne dabei erneut Druck und Zwang auszuüben (Beispiel: Angst vor dem Jugendamt, vor Strafverfolgung oder vor Verachtung der Herkunftsmutter bei Adoptionsfreigabe – im Übrigen ausnahmslos durch die Praxis BEGRÜNDETE Ängste).
Susanna Margaretha Brandt, "Gretchen", deren Schuld nie bewiesen werden konnte, wurde Ende 1998 anlässlich des 249. Goethegeburtstages in einem Schauprozess rehabilitiert, zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt und erhielt die Auflage, eine Schule zu besuchen. Mit Toten geht man offenbar humaner um als mit Lebenden…
© Mario Lichtenheldt
Quellen
Scholz, Rüdiger, Das kurze Leben der Johanna Catharina Höhn, Königshausen & Neumann, 1. Auflage, Würzburg 2004, ISBN-10: 3826029895, ISBN-13: 978-3826029899.
Rüdiger Scholz ist Professor für neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Freiburg. In der genannten Quelle sind sämtliche für den Fall relevanten Archivtexte wortgetreu enthalten. Goethes Votum ist sowohl als Faksimile (siehe auch Buchcover) als auch übersetzt in genanntem Buch enthalten. Das Original befindet sich unter der Signatur B 2754 Blatt 20r im Thür. Hauptstaatsarchiv Weimar.
Hannelore Schröder, Patrokraten-Justiz: Todesstrafe für ein weibliches Opfer, in:
http://www.hannelore-schroeder.nl/texte/patrokraten-justiz-todesstrafe-frau.html
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