Was bisher geschah:

Geschichte und Geschichten in "Sturz der Titanen"
Dass ausgerechnet zwei Mittelalter-Romane ("Die Säulen der Erde" und "Die Tore der Welt") zu den erfolgreichsten Werken Ken Folletts wurden, ist sicherlich kein Zufall. Immerhin bringen viele Menschen diesem Zeitraum bereits ein gewisses Interesse entgegen.
Insofern ging der Autor bei diesem Werk ein kleines Wagnis ein, denn "Sturz der Titanen" spielt zwar wiederum vor dem Hintergrund einer historisch bedeutenden Epoche. Doch jene ist dem heutigen Leser zeitlich und emotional wesentlich näher. Die Gefahr politisch kontroverser Ansichten ist daher nicht von der Hand zu weisen. Immerhin geht es um nicht weniger, als um die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, den Ersten Weltkrieg. Das Buch beginnt im Jahr 1911. Trotz unverkennbarer Differenzen zwischen den Regierungen sowie zwischen Adel, Bürgertum und Proletariat entsteht zunächst ein beinahe heiteres Gesellschaftsbild. Umso gewaltiger wirkt der nur scheinbar plötzliche Kriegsausbruch. Begeisterte Kampfesstimmung schlägt schnell in Angst, Unzufriedenheit und Elend um.

Revolution, Krieg und eine Liebesgeschichte
Der Roman umfasst vier nationale Handlungsstränge, welche sich beständig kreuzen und schließlich vielfältig miteinander verknüpft sind:
*Die deutsche Diplomatenfamilie von Ulrich bewegt sich stilsicher auf dem internationalen Parkett. Während der kaisertreue Vater Otto militärische Stärke propagiert, setzt sein Sohn Walter auf Vernunft und internationale Verständigung.
*Die russischen Brüder Grigori und Lew Peschkow verlieren ihre Eltern während der blutigen Zarenherrschaft und erleben die fortschreitende Verelendung der kleinen Leute. Lew gelingt nach vielen Hindernissen die Ausreise nach Amerika, wo er das halblegale Leben eines Kleinganoven führt. Grigori hingegen entwickelt sich zum glühenden Klassenkämpfer und macht während der bolschewistischen Revolution 1917 Karriere. Am Rand des inneren Machtzirkels angekommen, erkennt er, dass Lenin im Prinzip lediglich eine neue, diesmal rote, Zarenherrschaft errichtet hat.
*Im britischen Empire sieht sich das stolze, jedoch überholte Standesbewusstsein der Oberschicht durch Gewerkschaften und Frauenrechtlerinnen bedroht. Im Ringen um die politische Identität Großbritanniens gehen die Bergmannsfamilie Williams und das Adelsgeschlecht Fitzherbert ihren schicksalhaft miteinander verknüpften Weg.
*Der US-Amerikaner Gus Dewar wiederum hat seine berufliche Zukunft eng mit dem politischen Erfolg von Präsident Woodrow Wilson verbunden. Trotz diplomatischer Ränke und herber Enttäuschungen bewahrt er sich jedoch seinen Idealismus.
Für durchgehende Spannung sorgt allerdings noch eine weitere Zutat. Es ist die Liebesgeschichte der Lady Maud Fitzherbert, die kurz vor Kriegsbeginn heimlich den deutschen Diplomaten Walter von Ulrich heiratet. Wird diese versteckte Ehe trotz jahrelanger Trennung und gegen das Unverständnis der Angehörigen Bestand haben?

Für Deutsche ein politisch inkorrekter Roman?
Wer "Sturz der Titanen" aufmerksam liest, versteht, warum dieser überwiegend europäische Krieg dennoch ein Weltkrieg war. Obwohl die Hauptpersonen fiktiver Natur sind, wird ihr Schicksal doch von Politikern und Herrschern der damaligen Zeit bestimmt. Ken Follett führt dazu im Anhang des Buches aus, dass die enthaltenen Aussagen und Handlungen historischer Persönlichkeiten seines Romans aus Biografien, Parlamentsprotokollen oder anderen Quellen stammen. Insofern zeichnet der Autor ein weitgehend realistisches Bild der sozialen und politischen Weltlage in den Jahren 1911 bis 1924. Verständlich wird so unter anderem auch der ideologische Erfolg des Kommunismus bei benachteiligten Bevölkerungsschichten.
Dem deutschen Leser erschließt sich zudem eine erstaunlich unverkrampfte Sicht der Dinge, die hierzulande oft als politisch inkorrekt gilt: Die alleinige deutsche Kriegsschuld wurde zwar im Versailler Friedensvertrag festgeschrieben, der Realität entsprach sie aber nicht. Nahezu alle großen Mächte Europas kalkulierten den bewaffneten Konflikt bewusst ein, begründet durch das Standardargument: "Wir fühlen uns bedroht".
Ken Follett geht auf dieses Problem in seinem Roman ein. Er schildert die Gemütslage von Verlierern und Siegern gleichermaßen. Am Ende des Krieges scheinen die Regierungen der einflussreichen Nationen immer noch nichts gelernt zu haben. Die Verfechter einer neuen, gerechten und friedvollen Welt geraten ins Hintertreffen. Die Ergebnisse des einen Weltkrieges werden so zum Konfliktpotenzial des nächsten, als die Handlung des Buches im Jahr 1924 endet.

Winter der Welt: Der Handlungsrahmen
Die Fortsetzung "Winter der Welt" erschien im Herbst 2012 und beleuchtet die 1930er und 1940er Jahre: Hitlers Machtergreifung, der Spanienkrieg, Stalins Großer Terror, die Entwicklung der Atombombe sowie natürlich als Schwerpunkt der Zweite Weltkrieg.
Peinlich für den Verlag: Im Klappentext wird ein grober Fehler aus "Sturz der Titanen" wiederholt. Angeblich handelt das Buch von den Beziehungen dreier Familien in drei verschiedenen Ländern zueinander. Tatsächlich basiert die Saga jedoch bereits seit dem ersten Teil auf vier Familienverbänden in den Staaten USA, Deutschland, Großbritannien und Russland.
Ihre großen und kleinen Tragödien oder Vorhaben werden vom weltpolitischen Geschehen ebenso wie von ganz persönlichen Entscheidungen beeinflusst. So manches im Vorgänger-Roman sorgsam gehütete Geheimnis tritt dabei unweigerlich ans Tageslicht. Was den Protagonisten widerfährt und wie sie die Situationen meistern, soll an dieser Stelle natürlich nicht verraten werden.
Die Beziehungsgeflechte der Familien untereinander werden aber naturgemäß verworrener. Es erfordert einige Konzentration, die Figuren ihrem jeweils umfangreicher gewordenen Kontext zuzuordnen. Dem entgegen wirkt allerdings ein typisches Merkmal der Saga: Die Hauptfiguren des vorherigen Romans verblassen deutlich, erscheinen nur noch am Rande oder sterben sogar, beispielsweise Walter von Ulrich, die große Lichtgestalt aus "Sturz der Titanen". Für den Schriftsteller bedeutet dies jedoch eine Herausforderung, denn der Leser muss für neue Charaktere begeistert werden, welche eine spannende Fortsetzung der Saga garantieren. Hat Ken Follett dieses ehrgeizige Ziel erreicht?


Winter der Welt: Ein würdiger Nachfolger für "Sturz der Titanen"
Mit der ihm eigenen Detailtreue führt der vielfache Bestseller-Autor seine Leser zu einem tieferen Geschichtsverständnis. Es gibt keine Schwarz-Weiß-Muster. So manchen Nazi oder grimmigen Kommunisten ereilen im Verlauf des Romans Einsicht, Reue und Umkehr. Obwohl die Hauptpersonen oft gegensätzliche Ziele verfolgen, kann sich der Leser gut in die jeweils handelnde Figur hineinversetzen. Einige Details erscheinen (ohne den Leser zu verschrecken) allerdings wesentlich krasser und gewaltsamer als der Vorgänger-Roman: Vergewaltigungen, Folter, Massenvernichtung, Kriegserlebnisse.
Doch dies ist nur konsequent, denn der beschriebene Zeitraum wies ja tatsächlich eine gesteigerte Unmenschlichkeit auf. Zudem wird auf diese Weise Geschichte lebendig. So sitzt der Leser während des Angriffs auf Pearl Harbor quasi mitten im Geschehen: Er befindet sich auf einem kleinen Boot im Hafen, anfänglich in beinahe idyllischer Beschaulichkeit, später umgeben von sinkenden Schlachtschiffen, japanischen Kampffliegern und furchterregenden Bombeneinschlägen. Ken Follett hat hier sozusagen eine literarische 3D-Brille erschaffen!
Für Spannung sorgt der Meister jedoch auch auf altbewährte Weise. Beispielsweise versieht er das Ende zahlreicher Kapitel oder Unterabschnitte mit kurzen Sätzen. Deren Aussagen ändern den Handlungsverlauf bisweilen abrupt. Vorhersehbarkeit (also Langeweile) gibt es auf den über 1000 Seiten des Werkes daher nicht. "Winter der Welt" ist ein großartiger, vielschichtiger Roman geworden. Er ist so ganz anders als "Sturz der Titanen" und seinem Vorgänger dennoch ebenbürtig.

Kinder der Freiheit: Ken Folletts Abschluss der Jahrhundert-Saga

Der 2014 erschienene Schlussteil der Trilogie kommt in bewährter Manier daher. Persönliche Schicksale werden verwoben mit weltpolitischen Geschehen. Der Roman umfasst im Wesentlichen den Zeitraum von 1961 bis 1989. Der Leser ist mit den Hauptfiguren überall dort dabei, wo Geschichte geschrieben wurde: Bau und Fall der Berliner Mauer, die Rassenunruhen in den USA, die Ermordung der Kennedy-Brüder und Martin Luther Kings, Watergate, Aufstieg und Niedergang der Hippie-Kultur, Vietnamkrieg, Kubakrise und die Ära Gorbatschow.
Der Schwerpunkt liegt aber fraglos auf den 1960er Jahren. Danach werden die Zeitsprünge rasch größer. Dennoch umfasst das Buch kurzweilige 1200 Seiten. Für den Leser, der den Verlauf der Trilogie von Beginn an verfolgt hat, wird es erneut schwieriger, das Geflecht der handelnden Personen zu durchdringen. Die Stränge der vier Familien aus dem ersten Teil sind mittlerweile so stark verflochten, dass die jeweilige Zuordnung eine echte Denksportaufgabe darstellt. Erschwerend wirkt sich zudem das Erscheinen völlig neuer Personenkreise aus. Natürlich meistert Ken Follett diese Schwierigkeit so gut, wie es nur möglich ist. Trotzdem ist es dem Verlag hoch anzurechnen, dass im Innenteil des Einbandes die jeweiligen Stammbäume abgebildet sind.
Der Roman liest sich trotz dieser verwirrenden Vielschichtigkeit leicht, was auch an der Gewichtung der Handlung auf den neuen Familienmitgliedern liegt. Dennoch trifft der Leser auf genügend alte Bekannte aus den beiden Vorgängerromanen, deren Auftreten zwar nebensächlicher und seltener ist, aber den Roten Faden der Romanreihe doch verstärkt. Zum realistischen Erscheinungsbild der fiktiven Figuren (es treten auch einige historische Personen auf) trägt bei, dass Ken Follett (wie bereits im zweiten Teil) keine Klischees pflegt und Schwarz-Weiß-Muster vermeidet. Alle machen Fehler, aber niemand ist der absolute Bösewicht. Geschickt lässt der Autor den Leser die jeweilige Perspektive der gerade handelnden Person einnehmen. Die Argumente der vielen politischen und gesellschaftlichen Interessengruppen werden so verständlich und entfalten sogar eine gewisse Logik – solange man eben die Sichtweise ihrer Verfechter einnimmt.
"Kinder der Freiheit" (der deutsche Titel erscheint wesentlich passender als das englische Original) steht seinen beiden Vorgängerromanen in nichts nach. Ken Follett hat gezeigt, dass er auch eine literarisch, historisch und politisch extreme Herausforderung brillant zu meistern versteht. Er hat aus einem schwierigen Stoff leicht verständliches Lesevergnügen gemacht. Dieser Umstand scheint die Trilogie als Gesamtwerk unschlagbar zu machen. Es sei denn, der Meister übertrifft sich noch einmal selbst. Wir dürfen gespannt sein!

Donky, am 12.01.2015
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Bildquelle:
Karin Scherbart (Asterix bei den Pikten – Rezension)

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