Die zwei Komponenten des neuen Paradigmas

"Kriegstüchtigkeit" oder auch "grössere Wehrhaftigkeit" erfordert – so Pistorius" – einen Mentalitätswandel in der Bevölkerung, da diese auf die Kriegsgefahr, die in Europa durch einen Aggressor drohe, mental nicht eingestellt sei. Er hält es mit anderen Worten für notwendig, die Bevölkerung in die Lage zu versetzen, einen Krieg mittragen zu können.

Und dabei scheint er nicht nur einen Abwehrkrieg, einen Verteidigungskrieg, im Auge zu haben, sondern er spricht auch davon, dass Deutschland, weil die sogenannte regelbasierte internationale Ordnung weltweit immer stärker in Frage gestellt werde, international Führung übernehmen müsse, beispielsweise durch Beteiligung an einem Krieg im Nahen Osten.

Zweitens hat Pistorius Kritik an EU oder NATO zur Gefährdung der nationalen "Sicherheit" erklärt. Das heisst: Für Pistorius lässt die Bedeutung dieser Bündnisse für Deutschland Kritik an EU oder NATO nicht mehr zu. - Damit aber hat Pistorius meiner Meinung nach die Meinungsfreiheit in einer Weise eingeschränkt, wie man es sonst nur aus autoritär regierten Staaten kennt.

Parallelen zu 1914

Wenn man sich mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigt, der ja 1914 begann und 1918 endete, so zeigen sich meines Erachtens erschreckende Parallelen zur gegenwärtigen Situation in Europa mit ihrer durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine ausgelösten neuen Konfrontation zwischen Russland und dem Westen. Besonders augenfällig ist hier, dass dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, von kleineren kriegerischen Scharmützeln abgesehen, eine längere Phase des Friedens vorausgegangen war, in der man sich angewöhnt hatte, Konflikte durch Verhandlungen, also auf friedlichem Wege, zu lösen. Das war ja auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, zumindest in Europa, der Fall.

Aber dann hatten sich die europäischen Länder 1914 durch Bündnisverpflichtungen und Interessengegensätze dermassen ineinander verhakt, dass die Verantwortlichen der Diplomatie keine Chance mehr geben wollten und darauf setzten, dass ein heftiger, aber kurzer Krieg, wie man damals annahm, den Ausweg aus der verfahrenen Situation bringen könnte. Man steigerte sich deshalb in eine regelrechte Kriegseuphorie hinein. Aber man hatte sich verrechnet: Der Krieg, der 1914 begann, war nicht mehr so wie die Kriege, die man kannte. Infolge des rasanten technischen Fortschritts wurden immer schrecklichere Kriegswaffen entwickelt, so dass dieser Krieg schon etliche der Schrecken, die später der Zweite Weltkrieg bringen würde, vorwegnahm.

In der gegenwärtigen Situation wird ebenfalls Diplomatie, also das Bemühen, den Ukrainekrieg durch eine Verhandlungslösung zu beenden, von den verantwortlichen Politikern im Westen abgelehnt, sie wird als "Appeasement", also als Beschwichtigung, die den Aggressor belohnt und zu weiteren Aggressionen ermutigt, diffamiert. Hier ist auch die Rede davon, dass Russlands Präsident Putin nur dann ernsthaft verhandeln würde, wenn ihm eine Niederlage droht. Und das bedeutet de facto, dass Verhandlungen auf den "Sankt-Nimmerleinstag" verschoben werden, weil Putin auf einen andauernden Waffenzufluss aus China oder anderen autoritären Staaten vertrauen kann und deshalb keine Niederlage befürchten muss.

Ein Krieg im 21. Jahrhundert

Aber jeder verantwortliche Politiker, der am Beginn des 21. Jahrhunderts von Krieg redet und der Bevölkerung weismachen will, Krieg müsste eben manchmal sein, sollte sich klarmachen, dass ein solcher Krieg ebenfalls nicht mehr so verlaufen würde wie die vorhergehenden Kriege, dass er noch schrecklichere Folgen haben würde als der Zweite Weltkrieg. Der Krieg in der Ukraine – so furchtbar er ist – erzeugt ein falsches Bild. Denn die Ukraine ist von der Fläche her ein grosses Land, so dass es hier immer noch Landesteile gibt, die kaum oder gar nicht vom Krieg betroffen sind, so dass hier die Bevölkerung ein halbwegs normales Leben führen kann. Ferner gibt es hier bei den Waffen, die verwendet werden, immer noch Restriktionen.

Ein Krieg in einem kleinen und dicht besiedelten Land wie Deutschland würde demgegenüber mit grossflächigen Zerstörungen einhergehen. Man sollte deshalb den Verantwortlichen die Frage stellen, wie deutsche Ballungszentren, z.B. das Ruhrgebiet, Großstädte wie Berlin, Hamburg oder München militärisch verteidigt werden sollen. Ferner müsste gefragt werden, wie realistische Evakuierungspläne für Millionen Menschen aussehen sollen, wie viele Millionen flüchtende Menschen einkalkuliert werden, ob eine medizinische Versorgung von Hunderttausenden verletzter Soldatinnen und Soldaten und Zivilistinnen und Zivilisten überhaupt realisierbar ist.

Es würde ausserdem schon völlig ausreichen, die sogenannte kritische Infrastruktur eines hochentwickelten Landes wie Deutschland, also die Anlagen, die der Versorgung der Bevölkerung mit Wasser, Energie und Nahrungsmitteln dienen, z.B. mit Hilfe von Drohnen zu zerstören, um den ökonomischen und ökologischen Kollaps des Landes herbeizuführen. Ferner könnte es auch ohne den Einsatz von Atomwaffen bereits zu einer atomaren Katastrophe kommen, wenn nur ein kleiner Teil der in Europa noch im Betrieb befindlichen Atomkraftwerke durch kriegerische Handlungen zerstört würde. Daraus muss gefolgert werden, dass moderne Industriestaaten aufgrund ihrer zivilen Verwundbarkeit militärisch nicht verteidigt werden können, weil durch militärische Verteidigung das zerstört wird, was verteidigt werden soll.

Das Risiko eines Atomkriegs

Auch die Gefahr, dass im Kriegsfall letztlich Atomwaffen eingesetzt werden, hat sich enorm vergrößert und wird in den nächsten Jahren vermutlich noch zunehmen. Verantwortlich dafür ist nicht nur die starke Zunahme internationaler Spannungen, sondern auch der technische Fortschritt bei der Entwicklung der Raketentechnik. Dabei darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass ein Atomkrieg auch deshalb wahrscheinlicher geworden ist, weil die zwei wichtigsten Verträge zur Kontrolle bzw. Begrenzung der Rüstung bei Atomwaffen, nämlich der ABM-Vertrag und der INF-Vertrag von den USA aufgekündigt worden sind, und zwar der ABM-Vertrag 2002 von US-Präsident George W. Bush und der INF-Vertrag 2019 von US-Präsident Donald Trump. Der Ausstieg aus dem INF-Vertrag durch den russischen Präsidenten Putin folgte prompt.

Bei dem ABM-Vertrag ging es um die Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehrsystemen, die zur Folge hatte, dass ein groß angelegter Angriff mit Atomraketen nicht hätte abgewehrt werden können, so dass eine gegenseitige Verwundbarkeit festgeschrieben wurde, die in den Folgejahren auch mit dem Satz "Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter" beschrieben wurde. Dem INF-Vertrag war – als Reaktion auf die Aufstellung von SS-20-Mittelstreckenraketen in Osteuropa - die Stationierung von amerikanischen Pershing II-Raketen und Marschflugkörpern (Cruise Missiles) in Europa vorausgegangen, die so schnell Moskau hätten erreichen können, dass es für die damalige Sowjetunion kaum noch Zeit für einen Gegenschlag gegeben hätte, was das sogenannte Gleichgewicht des Schreckens zerstört hatte und die Sowjetunion zu einem Präventivschlag hätte veranlassen können. Dann setzte sich die Vernunft durch, und der amerikanische Präsidenten Reagan und der Staatschef der Sowjetunion Gorbatschow vereinbarten mit dem INF-Vertrag die Abrüstung der atomaren Mittelstreckenraketen.

Hochriskante Denkspiele

Die Aufkündigung des ABM-Vertrages und die damit verbundene Aufkündigung des Prinzips "Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter", ist auch deshalb so brisant, weil diese Aufkündigung auch so verstanden werden könnte, das es in den USA die Vorstellung gab und vermutlich noch gibt, dass ein Atomkrieg vielleicht doch nicht das Ende der Menschheit bedeuten würde, sondern dass bei einer "intelligenten Kriegsführung" die Opferzahlen vielleicht doch nicht so hoch wären und der Krieg sogar gewonnen werden könnte.

Entsprechende Überlegungen gab es jedenfalls bereits 1990 in dem Artikel der Pentagon-Berater Colin S. Gray und Keith Payne "Victory is possible" in der außenpolitischen US-Fachzeitschrift "Foreign Policy" (Heft 39/1980). Und zwar wurde hier davon ausgegangen, dass man die US-Verluste mit 20 Millionen Toten "in erträglichen Grenzen halten könnte." Das wäre zwar, wie vermutlich auch solche "Vordenker des Grauens" einräumen würden, eine hohe Opferzahl, aber dafür hätte man mit dem erhofften Sieg im Atomkrieg gegen Russland den Ärger mit dem "russischen Problembären" ein für allemal aus der Welt geschafft.

Nicht auf dem Schirm haben "Militärstrategen", die immer noch so denken, dass den USA inzwischen mit China ein zweiter gewichtiger Kontrahent gegenübersteht und dass Russland – und China – die Aufkündigung des ABM-Vertrags nicht tatenlos hingenommen, sondern gemäß der Logik der Abschreckung mit neuen Waffensystemen ihrerseits die gesicherte Zweitschlagskapazität zur Vernichtung der USA sicherzustellen suchen, und zwar nicht durch eine Erhöhung der Zahl von Interkontinentalraketen, sondern durch den Bau von mit Atomsprengköpfen bestückten Hyperschallraketen, gegen die nach derzeitigem Stand der Technik die Raketenabwehrsysteme kaum etwas ausrichten können.

Die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Deutschland

An dieser Stelle ist auch auf die Gefahr hinzuweisen, die von der geplanten Stationierung von Mittelstreckenraketen in Deutschland ausgehen könnte. Dabei handelt es sich um vor allem um Marschflugkörper und Hyperschallwaffen, die zwar "nur" über konventionelle Sprengköpfe verfügen, aber die tief in russisches Staatsgebiet eindringen und nukleare Infrastruktur oder Teile des russischen Atomwaffenarsenals angreifen könnten. Und bei den kurzen Vorwarnzeiten müssten Entscheidungen innerhalb von Minuten getroffen werden, was zu der "Kurzschlussreaktion führen könnte, das eigene nukleare Arsenal abzufeuern, bevor es von der gegnerischen Seite zerstört würde.

Auch ein nur mit konventionellen Waffen angefangener Krieg kann also schnell atomar eskalieren. Man hat hier im Grunde genommen die gleiche Gefahrenlage, wie sie in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts durch die Stationierung von Marschflugkörpern und Pershing II-Raketen in Europa entstanden war. Vielleicht gibt es bezüglich der beschränkten Reichweite von Mittelstreckenraketen auf amerikanischer Seite auch die Vorstellung, dass ein Krieg gegen Russland auf Europa beschränkt bleiben und die USA unbehelligt davonkommen könnten.

Insgesamt gesehen befinden wir uns wieder in einem Rüstungswettlauf, der an die schlimmsten Zeiten des sogenannten Kalten Krieges erinnert. Und auch die Argumente, mit denen jeweils die eigene Aufrüstung legitimiert wird, erinnern daran. Das heißt: immer ist es der Andere, der gegen einen Abrüstungsvertrag verstoßen hat, so dass eine "Lücke in der Abschreckung" entstanden ist, die unbedingt geschlossen werden muss - usw. usw. usw.

Schlusswort

Während bei Clausewitz "Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln" war, wird nach Expertenmeinung Krieg nun zur Verteidigung unserer Werte mit anderen Mitteln, und das sei ein verhängnisvoller Irrweg. Mehr noch sei Krieg das ultimative Versagen von Politik. Notwendig sei eine stärkere Rückbesinnung auf die hohe Kunst der Diplomatie, die darin besteht, unvereinbare Positionen zu einer gemeinsamen Position zu schmieden, mit dem Ziel, eine für alle Seiten gesichtswahrende Lösung zu finden.

 

Quellennachweis:

https://www.pressenza.com/de/2023/11/deutschland-kriegstauglich-machen/

https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/neugier-genuegt/redezeit-johannes-varwick-102.html

Friedensforum, Zeitschrift der Friedensbewegung, Januar/Februar 2022, 35. Jahrgang

Friedensforum, Zeitschrift der Friedensbewegung, Juli/August 2024, 37. Jahrgang

 

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