Der Platz Russlands in Europa

Wie Platzeck betont, haben Deutsche und Russen eine gemeinsame geographische und eine gemeinsame kulturelle Heimat in Europa. Sie seien verbunden durch über Jahrhunderte gewachsene Beziehungen und eine wechselvolle Geschichte in Krieg und Frieden in Europa. Deutsche und Europäer, Deutsche und Russen hätten mit anderen Worten viele gemeinsame geschichtliche und kulturelle Wurzeln. Der europäische Kulturkreis habe sich im intensiven Austausch mit Russland entwickelt. Platzeck tritt damit der heute in der Diskussion um Russland immer wieder einmal zu hörenden These gegenüber, dass Russland nicht zu Europa gehöre. Dabei werde heute vom Westen das uralte Stereotyp von russischer Despotie und Barbarei, der die zivilisierte Welt des Westens gegenüberstehe, bemüht, um Russland weit von Europa wegzuschieben.

Dabei räumt er ein, dass Vieles von der Kritik an Russland, die in Deutschland in der Politik und in den Medien geübt wird, seine Berechtigung habe. So sehe auch er beträchtliche Defizite bei den demokratischen Standards in Russland, etwa bei Wahlen oder dem Zwang für Nichtregierungsorganisationen, sich als "Agenten" registrieren zu lassen. Doch trotz aller gebotenen Kritik solle in Deutschland versucht werden, die Beweggründe der Russen zu begreifen, also die andere Seite zu verstehen oder zumindest zu erahnen, warum sie so handelt, wie sie handelt. Für ihn ist das eine Mindestanforderung im Umgang miteinander - vor allem, wenn es ein friedlicher sein soll.

Neue politische Eiszeit

Neue politische Eiszeit (Bild: AliceKeyStudio/pixabay.com)

Versäumnisse nach dem Zusammenbruch des Ostblocks

Der Schlüssel zum Verständnis der derzeitigen Probleme im Verhältnis zwischen Russland und dem Westen, insbesondere zwischen Russland und Deutschland, aber liegt für Platzeck in den Fehlentwicklungen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks.

Zunächst erinnert er hier daran, dass Deutschland von 1941 bis 1945 einen Vernichtungskrieg nie dagewesenen Ausmaßes gegen die sowjetischen Völker geführt hatte, der viele Millionen Tote gefordert hat. Dennoch hätten uns die Russen danach Versöhnung, Vergebung und Freundschaft angeboten. Zudem hätte es ohne das Nachgeben des damaligen sowjetischen Staatschefs Gorbatschow bis zur Selbstverleugnung die deutsche Einheit nie gegeben.

Insgesamt schien – so Platzeck - nach dem Fall der Berliner Mauer in Europa eine neue Zeitrechnung zu beginnen. So haben die USA, die UdSSR und mehr als 30 europäische Staaten 1990 die Charta von Paris unterzeichnet, in deren Präambel festgehalten wurde, dass das "Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas zu Ende gegangen ist", dass sich die Beziehungen der Teilnehmerstaaten "künftig auf Achtung und Zusammenarbeit gründen werden", dass in "Europa ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit" anbricht. Die sowjetischen Streitkräfte zogen aus Deutschland ab - hier allein waren es mehr als 500.000 Soldaten - und auch aus Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei. Der Kampf der Ideologien schien ein für alle Mal beendet.

Leider sei aber Russland nach der Unterzeichnung der Charta von Paris eigentlich nie zu einem gleichberechtigten Gesprächspartner für die westliche Welt und auch nicht für Deutschland geworden. Das zeigte sich für Platzeck in der zügigen Erweiterung der Nato, bei der Russland vor vollendete Tatsachen gestellt wurde - die mündlich gegebene Zusage des Westens, die NATO nicht weiter nach Osten auszudehnen, war also gebrochen worden - wie auch darin, dass Russland in internationalen Fragen, zum Beispiel bei den Interventionen im Kosovo oder in Libyen, übergangen wurde.

So konnte Platzeck zufolge Russland nicht zu einem Vertrauens- und Sicherheitspartner werden. Das heißt: Es ist nie zum Aufbau einer gesamteuropäischen Sicherheitsordnung unter Einbeziehung Russlands gekommen. Und solange die Frage nach der Rolle Russlands in einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur nicht geklärt ist, reicht – wie Platzeck betont - die Erklärung, die Ausdehnung des Nato-Verteidigungsbündnisses sei nicht gegen Russland gerichtet, nicht aus, die russischen Bedenken zu zerstreuen.

Plädoyer für eine Rückkehr zur "Neuen Ostpolitik"

Was eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen betrifft, so muss der Westen Platzeck zufolge zur Kenntnis nehmen, dass auch Russland politische Interessen hat und dass diese Interessen legitim sind. Das heißt: Der Zusammenbruch der Supermacht Sowjetunion hatte in Russland ein Trauma verursacht, das bis heute nachwirkt, und um dieses Trauma endlich zu überwinden, kehrt Russland heute - so Platzeck – als starker Nationalstaat auf die Weltbühne zurück.

"Regime-Change-Gedanken", also den Versuch, durch Druck von außen die politischen Verhältnisse zu ändern, hält er für sinnlos. Und er hält auch die gegen Russland wegen des Konflikts in der Ostukraine und wegen der Annexion der Krim verhängten Sanktionen für falsch, weil man damit nur das Gegenteil dessen erreicht habe, was man eigentlich wollte. Man müsse die schon aus dem Zweiten Weltkrieg bekannte Mentalität der Russen ernst nehmen, sich nicht in die Knie zwingen zu lassen, auch wenn es ihnen schlecht gehe.

Es muss vielmehr Platzeck zufolge einen Neustart in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen geben, und er fordert in diesem Zusammenhang eine Rückbesinnung auf die von Willi Brandt und Egon Bahr in den sechziger Jahren, also in der Zeit, als der Kalte Krieg am kältesten war, praktizierte "Neue Ostpolitik", d.h., auf eine Politik der Verständigung, die auf Wandel durch Annäherung setzte, nicht umgekehrt. Die Gespräche mit Russland wurden also seinerzeit nicht – wie Platzeck betont - mit Vorbedingungen verknüpft, wie es heute oft der Fall sei. Hintergrund war die Überlegung – und das gelte noch heute – dass es dauerhafte Sicherheit in Europa nur gemeinsam mit Russland geben werde, nicht ohne und schon gar nicht gegen Russland. Platzeck erinnert hier an die Aussage Willi Brandts, dass man manchmal am Anfang "sein Herz über die Hürde werfen muss".

Deutsch-Russische Freundschaft

Deutsch-Russische Freundschaft (Bild: alex80/pixabay.com)

Schlusswort

Mit seinen Überlegungen zum neuerlich wieder stark angespannten Verhältnis zwischen dem Westen und Russland, speziell zwischen Deutschland und Russland, hat Matthias Platzeck meines Erachtens in dankenswerter Weise deutlich gemacht, was in den Beziehungen zwischen dem Westen und Russland direkt nach dem Zusammenbruch des Ostblocks schiefgelaufen ist und wie diese Fehlentwicklungen noch heute die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland belasten.

Der größte Fehler, den der Westen begangen hat, besteht wohl darin, dass er sich wirklich als der "Sieger im Kalten Krieg" betrachtet und deshalb versäumt hat, als Reaktion auf den Zusammenbruch des "Warschauer Pakts" seinerseits das westliche Militärbündnis, den "Nord-Atlantik-Pakt", aufzulösen, um an die Stelle der Blockkonfrontation etwas wirklich Neues, nämlich eine gesamteuropäische Friedensordnung unter Einbeziehung der USA und Russland zu setzen.

Da dies ausgeblieben ist und stattdessen Russland wirklich als "Verlierer im Kalten Krieg" betrachtet und auch so behandelt wurde, indem ohne Rücksicht auf die Interessen Russlands die Grenzen der erhalten gebliebenen NATO immer weiter nach Osten verschoben worden sind, muss man sich eigentlich nicht wundern, dass Russland seinerseits darauf mit einer aggressiven und besitzergreifenden Außenpolitik reagiert und sich neue Partner und Verbündete gesucht hat, darunter so dubiose wie der syrische Machthaber Assad.

Was ebenfalls speziell auf deutscher Seite bis heute fehlt, ist eine offizielle Entschuldigung für den Vernichtungsfeldzug Nazi-Deutschlands gegen die Zivilbevölkerung der Sowjetrepubliken im Zweiten Weltkrieg. Das wiedervereinigte Deutschland ließ – so Platzeck - den gebührenden Respekt gegenüber den Opfern in Russland vermissen. Und das, so spüre er es in Russland deutlich, wiege schwer. Vielleicht sollten sich die Deutschen einmal bewusst machen – das möchte ich noch hinzufügen - dass diese Barbarei durchaus mit dem Holocaust, also dem Massenmord an den Juden, vergleichbar ist, da hier ebenfalls Millionen von Menschen wegen ihrer Rassezugehörigkeit ermordet wurden. Juden und Slawen galten ja bei den Nazis gleichermaßen als minderwertig, als "Untermenschen".

Platzeck zufolge müsste es gerade angesichts der schweren Spannungen das Gebot der Stunde sein, die Erinnerung zu bewahren und die Versöhnungsleistung der früheren Sowjetrepubliken und Russlands, die für die Deutschen mit dem Geschenk der Deutschen Einheit endete, endlich angemessen zu würdigen. Deshalb versucht das Deutsch-Russische-Forum, den Dialog und die Kooperation zwischen Deutschen und Russen zu fördern und damit Brücken zwischen beiden Gesellschaften zu bauen. Ein Beispiel sind deutsch-russische Städtepartnerschaften.

Zum Nachlesen: Brauchen Europa und Russland einander wirklich? Die am 19. Februar 2017 gehaltene Dresdner Rede von Matthias Platzeck im Wortlaut, unter

http://www.sz-online.de/nachrichten/brauchen-europa-und-russland-einander-wirklich-3617266.html

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Beide Bilder: pixabay.com

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