Folgt Putin einer neo-imperialen Agenda?

Bei der Analyse der Ursachen des Ukrainekriegs dominiert auf Seiten des "Westens", also der NATO-Staaten, eine einseitige Schuldzuweisung an die Adresse des russischen Präsidenten Putin. Putin, so wird hier argumentiert, habe den Zusammenbruch der Sowjetunion nach dem Ende des Kalten Krieges nie verwunden - er hatte sie nämlich als die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet - und habe deshalb bereits versucht, den weiteren Zerfall des eigenen Landes gewaltsam zu stoppen oder aber Länder, die sich bereits selbständig gemacht hatten, wieder unter russischen Einfluss zu bringen. Dafür stünden exemplarisch die beiden Tschtschenien-Kriege (1994 bis 1996 und 1999 bis 2009) und jetzt der Überfall auf die Ukraine. Wenn Putin auch im Ukraine-Krieg siegen würde, würde er folglich noch in weitere Länder einmarschieren.

Bei seinen Bestrebungen folge Putin einer neo-imperialen Agenda, die als Putinismus beschrieben wird. Ideologische Grundlage dieser Agenda seien die Gedankensysteme zweier russischer Philosophen, nämlich von Iwan Iljin und Alexander Dugin. So hat Iwan Iljin einen "christliche Faschismus" entwickelt, in dem er die Eigenständigkeit einer ukrainischen Nation bestritten und - nach dem Vorbild der Nationalsozialisten – für Russland einen starken Führer gefordert hat. Gleichzeitig war er ein großer Gegner der Bolschewiki. Von Alexander Dugin, einem ausgewiesenen Rechtsextremisten, stammt die Theorie eines im Gegensatz zum "atlantischen" Kulturraum stehen "eurasischen" Kulturraums, dessen Ausdehnung das einzige Mittel sei, um die Menschheit noch zu retten.

Ist Putins Russland ein faschistisches Land? Die Ukraine auch?

Wenn man diese philosophischen Grundlagen des Putinismus betrachtet, könnte man fragen, ob Russland unter der Herrschaft Putins zu einem faschistischen Land geworden ist. Unter Experten gibt es durchaus Stimmen, die Putin als einen "lupenreinen Faschisten" bezeichnen. Andere halten dem entgegen, dass der Putinismus zwar faschistische Elemente beinhalte, dass das Putin-Regime aber im Gegensatz zum Faschismus eher reaktionär und nicht revolutionär ausgerichtet sei. Putins Russland könne deshalb eher mit imperialistischen und ultranationalistischen Autokratien verglichen werden wie beispielsweise dem Zarenreich unter Nikolaus I. Insgesamt könne man deshalb Wladimir Putins Staat als ein rückwärtsgewandtes Gebilde beschreiben, das durchtränkt sei mit historischen Narrativen, die sich auch an faschistische Modelle anlehnen.

Wenn man aber in dieser Weise dem Putin-Regime zumindest faschistoide Züge bescheinigt, wie ist damit die Behauptung Putins in Einklang zu bringen, der Großangriff auf die Ukraine sei eine Operation zur "Entnazifizierung" des Nachbarlandes, zur Entmachtung des ukrainischen "Nazi-Regimes". Nach Expertenmeinung hat die "Nazi"- und "Faschisten"-Rhetorik der russischen Propaganda nichts mit unseren üblichen Begrifflichkeiten des Nationalsozialismus und Faschismus zu tun. Das heißt: In der Diktion des Stalinismus, auf den man sich im heutigen Russland wieder beruft, war jeder politische Gegner, jeder Kritiker ein "Faschist", ein "Nazi".

Ist Putin der Alleinschuldige?

Zunächst ist hier festzuhalten, dass Putins durch seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine Verträge gebrochen hat, in denen Russland die ukrainischen Grenzen und damit die staatliche Souveränität der Ukraine anerkannt hatte. Dass er selbst damit nicht einverstanden war, zeigt ein Aufsatz über die Geschichte der Ukraine und die ukrainisch-russischen Beziehungen, den Putin im Juli 2021 auf der Website des Kreml veröffentlichen ließ und in dem er den Ukrainern die Fähigkeit zur Staatsbildung und die Subjekthaftigkeit als Kultur und Nation abgesprochen hat. Die ukrainische Staatlichkeit wird mit anderen Worten von ihm als "künstlich" und von feindlichen Mächten zum Zwecke der Schwächung Russlands "erfunden" verworfen.

Hier ist meiner Meinung nach zu fragen, ob Putins verdrehte Sicht auf die Ukraine, die ihn zum Aggressor werden ließ, nicht doch einen wahren Kern hat. Und diesem kommt man auf die Spur, wenn man bedenkt, dass die eine Seite des Ost-West-Konflikts, nämlich der Westen dessen Ende nicht nur unbeschadet, sondern gestärkt überstanden hatte, während die andere Seite – der Realsozialismus – zusammengebrochen war, weil die Sowjetunion buchstäblich totgerüstet wurde. Folge war ein enormes Ungleichgewicht in den Machtverhältnissen, das die politischen Entscheidungsträger im Westen unter Führung der USA dazu verleitete, die Neugestaltung der Weltordnung als ein hegemoniales Projekt voranzutreiben. Man könnte deshalb Putins neo-imperiale Agenda und das hegemoniale Projekt des Westens als die zwei Seiten einer Medaille betrachten, was darauf hindeutet, dass der "Kalte Krieg" nie wirklich beendet worden ist.

Die hegemoniale Politik der NATO

Grundlage der hegemonialen Politik der NATO nach dem angeblichen Ende des Ost-West-Konflikts war ein neues Strategisches Konzept, das Kriegseinsätze auch außerhalb ihres Bündnisgebiets ermöglichen sollte. So führte die NATO ohne UN-Mandate Kriege gegen Serben in Bosnien 1995, gegen Jugoslawien 1999, in Afghanistan seit 2001 und gegen Gaddafi in Libyen 2011. 2003 griffen die USA und Großbritannien völkerrechtswidrig den Irak an. Parallel erfolgte schrittweise die Osterweiterung der NATO. Inzwischen sind – nachdem auch jüngst Finnland der NATO beigetreten ist – 31 Staaten Mitglieder der NATO.

Auch die Ausgaben für die Rüstung dokumentieren das Übergewicht der NATO gegenüber Russland. So betragen die NATO-Ausgaben fast das 19fache der russischen Ausgaben. Russland ist insgesamt ökonomisch und im konventionellen Militärbereich wesentlich schwächer als die NATO und kann dies nur durch die Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen ausgleichen. Hier gibt es ein strategisches Gleichgewicht. Bleibt die Frage, warum Putin jetzt den Krieg gegen die Ukraine vom Zaun gebrochen hat, weil er sich doch darüber im Klaren sein musste, dass er damit zumindest im Westen zum geächteten Paria würde und die russische Volkswirtschaft durch die umfangreichen Sanktionen enorme Schäden davontragen würde.

Putins konkrete Ängste

Auf Seiten der Friedensbewegung gibt es die Vermutung, dass bei der russischen Elite das Gefühl vorherrscht, durch die NATO in ihrer Existenz bedroht zu sein, ein Gefühl, das sich in den letzten Jahren immer mehr verstärkt und durch die Aussicht, dass auch die Ukraine Mitglied der NATO werden könnte, zu einer regelrechten Panik gesteigert habe. Konkreter Hintergrund dieser massiven Ängste sei, dass die USA 2019 den INF-Vertrag aufgekündigt hätten, so dass nun wieder Raketen mit Reichweiten zwischen 500 und 5.500 km in Europa aufgestellt werden. Hier gehe es vor allem um die neu entwickelte Hyperschallrakete "Dark Eagle", die mit 12-facher Schallgeschwindigkeit fliegt. Abgefeuert würde diese höchstwahrscheinlich im bayrischen Grafenwöhr, wo auch die Pershing 2-Raketen stationiert waren.

Moskau liegt 2.000 km von Grafenwöhr entfernt, die Flugzeit der "Dark Eagle" von dort beträgt 10 Minuten, von der Nord-Ukraine nur 5 Minuten. Dabei ist die "Dark Eagle lenkbar, so dass ein Abfangen unmöglich ist. Hinzu kommt ihre Fähigkeit, unter Verwendung konventionellen Sprengstoffs mit höchster Präzision Ziele zu treffen, die ihren Standort ändern. Dabei ist von hochwertigen Zielen die Rede, die durch Raketenabwehr verteidigt werden, womit politische oder militärische Führungspersonen gemeint sind. Moskau sei also durch die "Dark Eagle" wieder der Gefahr eines Enthauptungsschlages ausgesetzt. Um diese Gefahr, die in absehbarer Zukunft von ukrainischem Boden ausgeht, abzuwenden, habe Russland, so die Schlussfolgerung, den Krieg gegen die Ukraine begonnen.

Wie ist die Lage wirklich?

Nun könnte man die Lagebeschreibung der Friedensbewegung für überzogen und unangemessen halten, zumal ja von Seiten der NATO immer wieder beteuert wird, dass sie niemanden bedrohe.

Fakt ist jedoch, dass Russland mit der Ukraine eine 2.300 Kilometer lange, gemeinsame Grenze hat, so dass die NATO, wenn die Ukraine ihr beitreten würde, ante portas stünde. Das könnte am vergleichen mit russischen Truppen und Raketen an der mexikanischen Grenze zu den USA. So etwas würden die USA sicherlich nicht hinnehmen. In diesem Zusammenhang könnte man auch noch mal an die Kuba-Krise erinnern, in der das Vorhaben der Sowjetunion, Raketen auf Kuba zu stationieren, fast zum Dritten Weltkrieg geführt hätte.

Der vom Weißen Haus vertretene Grundsatz, dass Sicherheit in erster Linie mit militärischen Mitteln, durch Rüstung und Waffenbrüderschaft, hergestellt werden könne und müsse, war jedenfalls – so der legendäre amerikanische Sicherheitsstratege George Kennan – eine Steilvorlage für Ewiggestrige und "Hardliner" im Kreml, so dass Washington genau das beförderte, was nach Kräften hätte vermieden werden müssen, nämlich eine Aufwertung der nationalistischen, anti-westlichen und militaristischen Tendenzen in Russland. Dass Russland heute ein autokratischer Staat ist, wenn nicht sogar bereits eine Diktatur, ist also auch eine Folge der verfehlten Politik des Westens gegenüber Russland nach dem vermeintlichen Ende des Kalten Krieges.

Schlusswort

Trotz aller hitzigen Debatten, die immer noch geführt werden, scheint sich zu Beginn des Sommers 2023 die Welt fast schon daran gewöhnt zu haben, dass Russland Krieg führt gegen die Ukraine. Friedensinitiativen, mit denen eine Verhandlungslösung dieses Konflikts angestrebt wird, sind rar geworden und verlaufen aufgrund der inzwischen auf beiden Seiten eingetretenen Verhärtung regelmäßig im Sande.

Dabei zeigt sich eine Zweiteilung der Welt. Während nämlich in den Ländern, die die Ukraine mit Waffenlieferungen unterstützen, allen voran die USA, sich ein regelrechter Bellizismus ausgebreitet hat, stehen die Länder des globalen Südens, vor allem die aufstrebenden Mächte Brasilien, China und Indien, dem Kriegsgeschehen in Europa ziemlich verständnislos gegenüber. Offensichtlich kann man hier nicht nachvollziehen, warum die Länder des globalen Nordens nicht in der Lage sind, sich mit Putin zu einigen, um diesen Krieg zu beenden.

Vermutlich sieht man hier auch sehr klar, dass die finanziellen Mittel, die jetzt im Westen in die weitere Aufrüstung gesteckt werden, für die Bekämpfung des Klimawandels fehlen werden. Das heißt: In den Ländern, die dem Ukrainekrieg eher distanziert gegenüberstehen, hat man wohl begriffen, dass man Putins Russland wie seinerzeit die Sowjetunion vielleicht totrüsten kann, dass dieser "Sieg über den Aggressor" die Menschheit aber dennoch in den Untergang treiben kann.

Quellennachweis:

https://web.de/magazine/politik/russland-krieg-ukraine/begruender-christlichen-faschismus-wladimir-putins-lieblingsphilosoph-iwan-iljin-37179110

https://www.infosperber.ch/politik/die-faschistischen-elemente-in-putins-ideologie/

https://de.wikipedia.org/wiki/Putinismus

https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/506884/was-lief-schief-seit-dem-ende-des-kalten-krieges/

Anna Veronika Wendland, Zur Gegenwart der Geschichte im Russisch-Ukranischen Krieg, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Krieg in Europa, 72. Jg., 28-29/2022.

Lothar Brock/Hendrik Simon, Vom Krieg zum Frieden, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Internationale Sicherheit, 72. JG., 40-41/2022. 

 Bild: Pixabay.com

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