I. Inhalt: Die Leiden des Außenseiters Andri

In Andorra regiert die Angst: Das mächtige Nachbarland streckt seine Arme nach dem Kleinstaat aus, es droht eine Invasion. Schreckliche Nachrichten kommen von jenseits der Grenze: Die sogenannten "Schwarzen" verfolgen Juden und ermorden sie. In dieser Situation zeigt sich, dass auch die Bewohner Andorras nicht frei von Antisemitismus sind.

Opfer der zunehmenden Diskriminierung ist der vermeintliche Jude Andri, den Can als Kleinkind aus dem Nachbarland gerettet haben will: Der Tischler, bei dem er eine Lehre macht, verleugnet seine Leistungen und setzt ihn im Verkauf ein, da seinesgleichen für den Umgang mit Geld besser geeignet sei. Der Doktor schimpft über den Ehrgeiz, der rohe Soldat Peider über die Feigheit der Juden. Anfangs gibt die heimliche Liebe zu der Tochter des Lehrers dem Jungen Halt. Doch als er seinen Ziehvater um Barblins Hand bittet, verweigert ihm dieser die Zustimmung zur Hochzeit. Andri entfremdet sich von Can und stellt sich zunehmend selbst infrage. Barblin wird von Peider vergewaltigt. Aus Scham verschweigt sie Andri die Tat, woraufhin dieser von einer freiwilligen Liaison ausgeht.

Die Ankunft der Senora und die Wahrheit über Andri

Eine geheimnisvolle Fremde aus dem Nachbarland reist an und wird Zeuge, wie der Junge von Soldaten verprügelt wird. In ihrem folgenden Gespräch mit dem Lehrer Can kommt die Wahrheit ans Licht: Andri ist gar kein Jude, sondern der uneheliche Sohn aus ihrer gemeinsamen Affäre. Der Pater klärt Andri über seine wahre Herkunft auf. Allerdings vergeblich: Der Außenseiter hat sich ganz seinem Hass und Schwermut ergeben, sein vermeintliches Anderssein als sein Ich angenommen. Währenddessen wird die Senora von einem geworfenen Stein tödlich verletzt. Die Schuld wird Andri zugeschanzt.

Kapitulation und Judenschau in Andorra

Entgegen mancher großen Rede unterwerfen sich die Andorraner beim Einmarsch der Schwarzen ohne einen einzigen Schuss. Das Volk muss gesammelt vor den schwarz-uniformierten Invasoren antreten: Mit einem Tuch über dem Kopf und barfüssig werden sie an einem "Judenschauer" vorbeigeschleust. Barblins Aufruf zum kollektiven Widerstand scheitert an der Feigheit der Menge, Andri wird trotz der verzweifelten Bemühungen seines Vaters und seiner Ziehmutter als Jude ausgesondert und weggeschleift.
In der Abschlussszene herrscht wieder "Alltag" in Andorra: Verschiedene Personen des Stücks beschimpfen die dem Wahnsinn verfallene Barblin als öffentliches Ärgernis. Von den Soldaten kahl geschoren weißelt sie das Pflaster, als könne sie so die Schuld der Stadt tilgen. Andris Schuhe stehen nicht nur für ihre sinnlose Hoffnung auf seine Rückkehr, sondern vor allem als stumme Zeugen des Verrats an ihm vor ihr. Der Lehrer Can hat sich erhängt.

II. Interpretation des Stückes Andorra von Max Frisch

Eine Prosaskizze des mehrfach umgearbeiteten Themas findet sich bereits in Frischs Tagebuch 1946-1949, basierend auf einer Notiz von 1946. Das Stück wurde 1961 im Schauspielhaus Zürich uraufgeführt und von der Kritik zwiespältig aufgenommen – ein Grund dafür ist das gewagte Unterfangen Max Frischs, das Problem des Antisemitismus mit dem der Identität des Individuums zu koppeln. Andererseits traf Frisch sicherlich auch Schweizer Befindlichkeiten: Die Rolle der Schweiz während des Nationalsozialismus wird heute vor allem hinsichtlich der Zurückweisung zahlreicher jüdischer Flüchtlinge kritisch gesehen. Dieser Aspekt gelangte in den sechziger Jahren erst langsam ins öffentliche Bewusstsein.

Antisemitismus: Feigheit und Verdrängung

Das kleine Andorra lädt eine gewaltige Schuld auf sich: Zunächst durch die Diskriminierung Andris in Wort und Tat. Frisch versteht es meisterhaft, den alltäglichen Rassismus in Sprichwörtern, Abfälligkeiten und Scheinargumenten zu entlarven. Charaktere wie der Tischler, der Doktor und der Soldat stehen dabei für verschiedene gesellschaftliche Gruppen, die dem Außenseiter unterschiedlich begegnen. Ob bürgerliche Blindheit, akademische Borniertheit oder rohe Gewalt: Antisemitismus besitzt viele Gesichter und ist kein Phänomen einer bestimmten Schicht. In den Handlungen wiederum steigert sich die Feindseligkeit bis zum heimtückischen Mord an der Senora. Das in seiner Selbstsicht bessere, "weiße" Land entpuppt sich als ein Hort antisemitischer Ressentiments.


Hinzu kommt das Versäumnis, der Invasion und der Verhaftung Andris aktiven oder passiven Widerstand entgegenzusetzen. Die Feigheit setzt sich nach dem Krieg in der Leugnung und Verdrängung der eigenen Schuld fort: Zwischen den Bildern treten die Figuren im Zeugenstand auf und rechtfertigen sich im Nachhinein. Der Irrtum hinsichtlich der Annahme Andri sei ein Jude wird anerkannt, nicht jedoch der sehr viel grundlegendere Irrtum, damit sei eine wie auch immer geartete Minderwertigkeit verbunden. Und tun habe man ja eh nichts können…
Einzig der Pater gesteht sich sein doppeltes Versagen – Andri von dem Mordvorwurf zu entlasten und seinen predigenden Worten folgend kein eigenes Bild auf ihn zu legen – ein.

Der Bildnisgedanke bei Frisch: Identität und Umwelt

Kein Charakter im Stück ist ohne Schuld, Lügen bestimmen ihr Leben und negative Eigenschaften ihr Handeln. Neben der Lehrerfamilie gehört der Pater jedoch zu den positiveren Figuren. Er begegnet Andri mit dem auf Kierkegaard zurückzuführenden Postulat, sich selbst anzunehmen und von den Rollen/Bildern, welche die Mitmenschen einem auferlegen, zu befreien – ein Thema, das Frisch auch seinem Roman Stiller zugrunde legte. Allerdings verstößt der Pater selbst gegen den Bildnisgedanken: Du sollst dir kein Bild von Gott und deinen Nächsten machen. Andri unterliegt nach und nach der Macht seiner feindlichen Umwelt und nimmt ihr Bild an, bis er von ihm selbst gefangen ist.
Indem die Andorraner ihre judenfeindlichen Klischees unwissend auf einen von sich legen, führen sie diese letztlich ad absurdum. Gleichzeitig zeigt Frisch die fatalen Auswirkungen von Vorurteilen auf den Einzelnen: die Unmöglichkeit ihnen zu entkommen, die Verunsicherung, die Vereinzelung sowie die Entfremdung infolge des Selbsthasses oder des Hasses auf die Anderen.

Andorra: Ein Stück wider das Vergessen

Andorra ist vielleicht nicht das beste Stück im Gesamtwerk Frischs, stellt jedoch angesichts der Verdrängungstendenzen (nicht nur) in der deutschen Nachkriegsgesellschaft einen wichtigen Anstoß zur Aufarbeitung dar. Der Zeigefinger, den die Soldaten Andri bei seiner Gefangennahme abhacken, um an den Ring der Senora zu gelangen, das ist auch der mahnende Fingerzeig des Autors gegen den Mantel des Verschweigens.

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