Bestenfalls skurrile Spinner, schlechtestenfalls Gemeingefährliche

Wann immer sich soziale, gesellschaftliche oder politische Brennpunkte entzünden, ist er nicht weit: Der "demokratische Diskurs", der geführt werden muss, um eine für alle Seiten zufriedenstellende Lösung zu finden. Verzeihung, ich korrigiere meine eigene Aussage: "Fast immer". Denn es gibt zwei Gruppierungen, mit denen schlichtweg keinerlei inhaltliche Auseinandersetzung erfolgt. Zufälligerweise rückten beide in den letzten Tagen ins europäische Rampenlicht.

Zum einen die Neo-Nazis. Drei Exemplare dieser Gattung sollen für zehn Morde und mehrere Sprengstoffanschläge verantwortlich sein. Ob und inwiefern staatliche Organe in diese Verbrechensserie verwickelt waren, soll nicht Gegenstand dieses Artikels sein. Hierzu möge sich der Leser selbst informieren (Stichwort: Gladio).

Die andere Gruppierung könnte von den Neo-Nazis kaum weiter entfernt sein, wird aber trotzdem entweder völlig ignoriert oder zur Zielscheibe der Empörung: Die Anarchisten. Im Sinne der Vereinfachung sollen die zahlreichen Strömungen dieser Ideenlehre unter einen Hut gebracht werden, wofür ich um Verständnis bitte.

Jüngst geriet der Anarchismus auf Grund einer Bombenserie ins mediale Rampenlicht. Zunächst erhielt der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank Josef Ackermann eine Briefbombe, die aber abgefangen werden konnte. Weniger Glück hatte der Direktor der italienischen Steuereinzugsbehörde, der eine entsprechend präparierte Briefsendung öffnete und schwer verletzt wurde. Verantwortlich hierfür sei die "Informelle Anarchische Föderation", weiß unter anderem die Website der "Tagesschau", die den Leiter des Zentrums für Internationale Studien in Rom wie folgt zitiert:

"Sie haben durch Blogs, Internet und anderes eine hervorragende Kommunikation. Und sie haben ganz klare Ansichten." Sie hassen den Staat, seine Institutionen, seine Vertreter. Sie hassen "Banken, Bankiers, Zecken und Blutsauger", so heißt es im Bekennerschreiben, das nun in Frankfurt aufgetaucht ist.

Wer mit "sie" gemeint ist, geht aus den Meldungen zu der Briefbombenserie eindeutig hervor: Die Anarchisten! Nun würde sich niemand dazu versteigen, sämtliche linke Parteien, Organisationen oder Sympathisanten für Anschläge verantwortlich zu machen, die sich eine selbsternannte linke Gruppierung an die Fahnen heftete. Zu Recht würde dies als völlig absurd erachtet werden. Anders verhält es sich freilich bei Anarchisten: Hier darf und wird ungehemmt mit dem breiten Pinsel eine ganze Ideenlehre und Bewegung bekleckert werden.

Nun muss natürlich festgehalten werden, dass der Anarchismus durchaus eine gewalttätige Vergangenheit besitzt. Immer wieder führten Anarchisten blutige Anschläge durch. Am Berühmtesten dürfte die Ermordung der österreichisch-ungarischen Kaiserin Elisabeth ("Sissi") durch den Anarchisten Luigi Lucheni sein. Doch in welcher Gruppierung fanden sich nicht stets Psychopathen, Wahnsinnige oder Verirrte ein? Trotzdem wird der Anarchismus in der Öffentlichkeit bestenfalls als skurrile Spinnerei, schlimmstenfalls als Gefahr für die Gesellschaft wahrgenommen.

Googelt man den entsprechenden Begriff und betrachtet die aktuellen News-Einträge dazu, erfährt man Erstaunliches. Dominant sind in diesen Tagen natürlich die Meldungen zu der Briefbombenserie durch die "Anarchisten". Unblutiger, aber genauso absurd, erscheinen weitere Assoziationen mit einer an sich komplexen Ideenlehre. Durchaus amüsant ist die Verwendung des Begriffs etwa im Reise-Ressort der "Zeit", wo es in der Unterzeile heißt:

Auch in abgeschiedenen Regionen ist Anarchismus nicht erlaubt.

Offenbar erliegt der Autor der beliebten Ansicht, Anarchie bedeute Absenz jeglicher Regeln. Es sei ihm nachgesehen, würde eine korrekte Begriffsauslegung die Leser doch heillos verwirren. Schließlich weiß doch jeder, dass Anarchie Gesetz- und Rechtlosigkeit, Faustrecht und Chaos bedeutet, richtig?

Ein bisschen besser sollte es ein politischer Journalist wissen. Etwa jener der "Welt", der in seinem Kommentar zu den Wahlen in Russland folgendes Worte-Wrack vom Stapel lässt:

Wenn in Zeiten von Anarchie und wirtschaftlichem Niedergang die Unzufriedenheit wächst, wundert das niemand. Dagegen ist erstaunlich, was jetzt in Russland geschieht: Die Rahmenbedingungen sind halbwegs stabil, die Staatsfinanzen relativ solide, der größte staatliche Devisenbringer Gazprom erzielt Rekorderlöse. Auf dieser Grundlage könnte eine Erfolgsgeschichte beginnen.

Worüber soll man als Leser mehr staunen? Über die dreiste Konnotation: Anarchie = wirtschaftlicher Niedergang? Oder darüber, die (vermutlich gesellschaftlichen und ökonomischen) Rahmenbedingungen im oppressiven Putin-Regime als "halbwegs stabil" zu bezeichnen?

Abseits dieser negativen Wahrnehmungen wird der Anarchismus allenfalls als skurrile Spinnerei erachtet. Anlässlich des Todes von Multi-Künstler Georg Kreisler wurde seiner zwar stets auch als Anarchist gedacht, allerdings in jener Form, in der man jemanden auch als Klassikfan oder Hobby-Koch bezeichnen würde. Nachgefragt wird niemals. Daraus könnte sich abseits der hohlen Frage-Antwort-Spiele oder unkritischen Rückschau eben jener Diskurs ergeben, dem sich der Mainstream verweigert. 

Und als wäre dem nicht oberflächlich und ignorant genug, werden selbst absurdeste Pseudo-Verbindungen mit der Anarchie hergestellt. Etwa in einem Artikel zur allerletzten "Wetten, dass...?"-Sendung Thomas Gottschalks mit der Schlagzeile: "Zum Schluss ein Hauch von Anarchie", in welchem es heißt:

Es lag ein lange vermisster Hauch von Anarchie und Egal-Stimmung über dieser Show

Richtig: In einer Sendung, die dem aristokratischen, politischen oder monetären Adel huldigt und die sich aus Zwangsbeiträgen finanziert, herrscht Anarchie. Ganz klar!

Warum aber diese geradezu aggressive Ignoranz und unablässige, falsche Konnotierung des Begriffs "Anarchie"? Natürlich kann es auf eine dermaßen komplexe Frage keine simple Antwort geben. Am Schlüssigsten erscheint mir die instinktive Ablehnung einer alternativen Gesellschaftsidee, die all dem widerspricht, was uns von Kindes Beinen an in Lehranstalten, aber auch Medien indoktriniert wird: Der Staat als solcher darf höchsten punktuell kritisiert, niemals jedoch in seiner gesamten Ausprägung hinterfragt werden. Dies führt dazu, dass die tatsächlich menschenverachtende Ideologie des Nazismus oftmals in einen Topf mit der Anarchie geschmissen wird. Während aber der Nazi-Staat reichsdeutscher Ausprägung ebenso wie das faschistische Italien oder Francos Spanien hinreichend ihre Abscheulichkeit bewiesen haben, deutet nichts darauf hin, dass etwa anarchistische Kommunen in Genoziden münden würden.

Als historische Beispiele hierfür dienen die anarchistisch organisierten Gebiete Spaniens während des Kampfes gegen Franco 1936–1939 oder die rund fünf Jahre währende Anarchie in Teilen der Ukraine in der Zeit des russischen Bürgerkriegs. Beide Freiheitsbewegungen endeten mit dem völligen Auslöschen der Anarchisten. Freilich: Im Geschichtsunterricht erfährt man hiervon nichts, was natürlich Methode hat. Man betrachte die entsprechende Schullektüre und wird feststellen, dass gemäß dieser die Menschheitsgeschichte eine düstere Abfolge grausamer Herrscher und Despoten war, bis mit dem modernen Staatssystem Friede, Gerechtigkeit und Wohlstand ins jeweilige Lande einkehrten.

Eine solche umfassende Indoktrination bewirkt vor allem eines: Das Ausbilden von Scheuklappen, die den Träger blind gegenüber allem machen, was sich abseits des vorgezeichneten Pfades befindet. Dies ist menschlich nachvollziehbar, aber auch bedauerlich. Schließlich verstellt es die Sicht auf die Ursachen so vieler Probleme, die mit Scheinlösungen allenfalls notdürftig behoben werden, bis sich die massiven Auswirkungen eben jener Probleme nicht mehr verschleiern lassen und deshalb missliebigen Bevölkerungsschichten in die Schuhe geschoben werden: Spekulanten, Neo-Liberale, Reiche - die Liste kann stets beliebig erweitert werden, um von den wahren Ursachen abzulenken. Dass sich an diesem Prinzip seit Jahrtausenden nichts geändert hat, sollte uns zu denken geben. Aber da seien die Scheuklappen vor...

Autor seit 14 Jahren
815 Seiten
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