Barbie und die Musen

Obwohl kein Anspruch auf Historizität besteht, kommt der Film "Barbie und das Diamantschloss" (2008) dem ursprünglichen Musenbild erstaunlich nah. Hier leben die Musen, völlig abgeschieden von all den Barbies und Kens, in einem magischen Schloss, wo sie sich voll und ganz den Künsten widmen. Unter anderem singen und musizieren sie, wobei auch eine Lyra zum Einsatz kommt – ein für den Gott Apollon typisches Instrument.
Wie der Hinweis auf Apollon andeutet, sind die Musen eng mit der griechischen Mythologie verknüpft.

Die Suche nach dem Ursprung

Folgt man der griechischen Mythologie, so gingen die Musen aus einer Liaison zwischen Zeus, dem obersten olympischen Gott, und der Göttin der Erinnerung, Mnemosyne, hervor. Sie verbrachten neun Liebesnächte miteinander und jede war ein Volltreffer: Sie wurden Eltern von neun Töchtern, den neun Musen.

Die eben geschilderte Version ist am weitesten verbreitet, jedoch nicht konkurrenzlos. So konnte beispielsweise der griechische Geograph und Reiseschriftsteller Pausanias lediglich drei Musen ausfindig machen, der Römer Cicero immerhin vier. Letzerer nannte sie die "titanischen Musen" und vermutete nicht Mnemosyne als Mutter, sondern Plusia. Auch die Vaterschaft lässt Spekulationen zu. Ob Zeus oder der Himmelsgott Uranos – bei der Vielzahl griechischer Götter mit hyperaktiver Libido kann der Überblick schon einmal verloren gehen.
Eine weitere Variante erwähnt die "pierischen Musen", sieben oder neun an der Zahl. Sie stammen wahlweise aus Makedonien oder Afrika und haben noch einmal andere Eltern.

Göttlich inspirierte Evolution

Unabhängig der Stammbaumstreitigkeiten war den Griechen der Antike eines klar: Ohne Musen wäre die Menschheit nicht über die erste Generation hinausgekommen.
Da sich Ideen, so die Annahme, nicht von selbst entwickeln, sondern von außen eingegeben werden, waren Werke und Erkenntnisse in Kunst und Wissenschaft ohne göttliche Hilfe undenkbar. Dementsprechend bestand die Hauptaufgabe der Musen darin, die Kreativität der Menschen zu beflügeln.
Ihre Freizeit verbrachten die inspirierenden Schwestern gern mit Apollon, dem Gott der Schönen Künste. Zusammen unterhielten sie sogar ein eigenes Orchester mit ihm als Dirigent.

Apollon und die Musen

Apollon und die Musen (Bild: Pixabay)

Obwohl die Menschen weder einen klaren Durchblick bei den Familienverhältnissen der Musen hatten noch genau wussten, wie diese aussahen, konnten sie eines nicht lassen: Schubladendenken. So machten sie sich schon bald nach der "Entdeckung" der Musen ans Werk und kategorisierten sie. Dies betraf vor allem spezifische Aufgabengebiete, von denen jede eines zugewiesen bekam. Thalia wurde zum Beispiel zur Muse der Komödie ernannt, Urania sollte für Geistesblitze in der Astronomie sorgen. Doch wie muss man sich das Wirken einer göttlichen Muse konkret vorstellen?

Der Musenkuss

Leider gibt es weder Dienstprotokolle noch filmische Dokumentationen über den Arbeitsalltag einer göttlichen Muse. Für Aufklärung können jedoch Menschen sorgen, die Kontakt zu ihnen hatten. Schaut man sich ihre Aussagen an, so lassen sich drei Punkte hervorheben.

Erstens: Musen sind eigennützig und besuchen nicht jeden. Egal, wie sehnsüchtig man nach ihnen ruft – manchmal haben sie einfach keine Lust. Ausschlaggebend sind Harmonie und ein gemeinsames Ziel, denn auch Musen erhoffen sich etwas von der Zusammenarbeit mit den Menschen. Um es mit den blumigen Worten des Zeithistorikers Dr. phil. Michael Richter auszudrücken: "Die Muse küßt [sic!] nur, wenn sie ein Kind will."

Zweitens: "Die Muse ist auch nur ein untreues Weib!" (Thomas S. Lutter, Lyriker und Musiker) Berechenbarkeit und Verbindlichkeit sind keine musischen Eigenschaften. Sie kommen und gehen, wann sie wollen – von weltlichen Deadlines halten sie nichts.

Drittens: Im Gegensatz zu irdischen Musen meiden die göttlichen wilde Partys. Dies wusste auch schon "Der junge Gelehrte" von Gotthold Ephraim Lessing zu berichten: "Die Musen verlangen Einsamkeit, und nichts verjagt sie eher als der Tumult."

Wirklich locken lassen sich die Musen also nicht. Dennoch existiert eine Maßnahme, die die Chance auf einen Kuss erhöht: Entspannung.
Besonders geeignet scheint der Schlaf zu sein. So kamen beispielsweise sowohl dem Maler Salvador Dalí als auch dem Komponisten Mozart die besten Ideen im Bett. In die gleiche Kategorie fällt der Chemiker Mendelejew: Um seinem Periodensystem der Elemente den letzten Schliff verpassen zu können, benötigte er zunächst einen Traum. Wie diese Beispiele zeigen, können Mensch und Muse im wahrsten Sinne des Wortes ein Dream-Team sein.
Etwas weniger romantisch, aber zweifellos ein guter Musentreffpunkt, ist das Badezimmer. Wie allgemein bekannt, beschert ein Toilettengang nicht nur Künstlern die besten Einfälle…

Hide and Seek

Flatterhaft, eigenwillig, ruhebedürftig – klingt nach schlechten Voraussetzungen für ungeduldige Inspirationssuchende. Können sie die Sache vielleicht selbst in die Hand nehmen und sich auf den Weg machen, die Musen zu (be)suchen?

Ganz unrealistisch scheint ein solches Vorhaben nicht, denn es gibt zwei Ortsangaben, die sich auf der Erde befinden. Erster Anlaufpunkt wäre der Berg Parnass in Zentralgriechenland, hier werden die Musen bei der Kastalischen Quelle vermutet. Die zweite Möglichkeit liegt etwas südlicher bei der Quelle Hippokrene am Berg Helikon.
Wer nicht so weit reisen möchte, kann es auch in einem Musentempel versuchen. In Deutschland gibt es einige dieser Tempel nach griechischem Vorbild, zum Beispiel in Kur- und Schlossparks. Während Musentempel in der Antike der Verehrung und dem Feiern von Musenkulten dienten, werden sie hier und heute als architektonischer Hingucker konzipiert.

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Quelle Hippokrene, ein möglicher Aufenthaltsort der Musen.

Bild: GOFAS, wikimedia (Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/legalcode)





Es bleibt die Frage, ob sich göttliche Musen finden lassen wollen. Man kann nur hoffen, dass sie sich nichts von ihren Barbie-Schwestern abgeschaut haben; diese können sich nämlich samt Diamantschloss unsichtbar singen.

Wendepunkt: vom Übersinnlichen zur Sinnlichkeit

Wie der Abstecher in die Geschichte zeigt, trieben sich Musen ursprünglich weder in Bars herum noch waren sie menschlich. Erst seit der Neuzeit werden (auch) irdische Personen als Musen bezeichnet. Was ist mit den Göttinnen der Kunst und Wissenschaft passiert?

Sie wurden verbannt und ersetzt. Dieses zweifelhafte Vorgehen, das zuweilen auch unter Politikern Anklang findet, haben im Fall der Musen zwei zerstrittene Parteien des Mittelalters zu verantworten: Kirchen- und Kunstvertreter. Während christliche Kirchen die Musenverehrung als heidnisch ablehnten, wollten und konnten damalige Künstler nicht auf ihre Inspirationsquelle verzichten. Als Kompromiss wurden irdische Frauen kurzerhand zu Musen erhoben, so dass sie fortan den ehemals göttlichen Job übernehmen konnten. Der Aufstieg menschlicher Musen ging also mit dem Fall der göttlichen einher. Aus übersinnlichen Küssen wurden plötzlich sinnliche.

Und was sagten die verbannten, göttlichen Musen zu dem Ganzen? Nichts. Eigensinnig, wie sie waren, wirkten sie auch ohne kirchliche Erlaubnis weiter.

 

Musen heute: Himmel und Erde vereinigen sich

Und sie tun es immer noch. Anders als ihre Vorgänger haben zeitgenössische Künstler jedoch Schwierigkeiten, ihre Inspiration einzuordnen. Statt auf die Hilfe göttlicher Musen zu verweisen, lassen sie sich zu schwammigen Bemerkungen hinreißen. So etwa Mark Prendergast, Gitarrist der irischen Band Kodaline: "Die besten Songs kommen einfach aus dir raus." Auch Chris Martin, Sänger der englischen Band Coldplay, findet vage Worte: "Music comes from a place we don't know.” Zugegeben, die letzte Aussage klingt so poetisch, dass sie fast museninspiriert sein könnte.

Wir sollten uns glücklich schätzen in einer Zeit zu leben, in der uns sowohl sinnliche als auch übersinnliche Küsse zuteilwerden. Himmel und Erde vereinigen sich, göttliche und menschliche Musen existieren nebeneinander. Friedlich. Solange sie ihr Werk verrichten und uns mit vereinten Kräften beflügeln, kann sicherlich über das eine oder andere Glas Wein hinweggesehen werden.

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