Sprechberufe

Der Begriff erklärt sich aus dem Wort. Unter diese Berufsbezeichnung fallen Vertreter, Lehrkräfte, Moderatoren, Anwälte und ähnliche Erwerbstätige. Im Management wie auch in der Politik gehört es zum Programm, gelegentlich mit Kostproben der Redekunst aufzuwarten. Die Gefolgschaft soll daran erkennen, dass sie von kompetenten Autoritäten geführt wird.

Die Zielsetzungen und damit die Vorgehensweisen von Sprechberufen können unterschiedlich ausfallen. Der Lehrerberuf verlangt dem Ausübenden didaktisches Geschick ab, wenn er seine Schüler erreichen will. Ein guter Lehrer arbeitet mit anschaulichen Beispielen, um Zusammenhänge zu verdeutlichen. Er führt die Lernenden behutsam zur Erkenntnis und lässt sie im Idealfall den letzten Schritt selbst vollziehen. Wenn er gelegentlich einen Scherz einstreut, kann er den Unterricht auflockern und die nachlassende Aufmerksamkeit der Schüler zurückgewinnen.

Der Vertreter tritt zwar meist in beratender Funktion auf, sein Hauptanliegen ist aber der Verkauf. Er könnte leicht dazu tendieren, seine "Karten zu überreizen". Die Fachausdrücke, mit denen er punkten will, hat er vielleicht halb oder gar nicht verstanden. Er setzt darauf, dass der Kunde nicht nachhakt und daher nicht bemerkt, dass ihm nur Halbwissen serviert wird. Das kann aber ein Reinfall werden.

Der Lehrer will auf jeden Fall verstanden werden. Der Vertreter ist eventuell eher erfolgreich, wenn ihn der Kunde nicht so genau verstanden hat. Bei Managern und Politikern ist die sogenannte Ausstrahlung das Wichtigste. Es gab sie immer und gibt sie auch noch heute: Die charismatischen Redner, denen "kauft" die Zuhörerschaft alles ab. Wenn die Person entsprechend imponiert, werden die Beispiele und Begriffe nicht näher auf Schlüssigkeit untersucht.

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Wohlklingende Formulierungen

Kennen Sie folgendes Sprichwort: "Die Expansion der Knolle steht in reziproker Relation zur geistigen Potenz des Erzeugers"? Manch frisch gebackener Sozialwissenschaftler drückt sich heute so aus, wo er vor seinem Studium noch schlicht "Die dümmsten Bauern haben die dicksten Kartoffeln" gesagt hätte.

Aus einem einfachen Sprichwort wurde jetzt "Fachterminologie". Die Aussage bleibt die gleiche. Sie wird auch durch die hochgestochene Umformulierung nicht tiefschürfender.

Fachsprachen haben durchaus einen Sinn. Durch ihre Verwendung werden lange Umschreibungen eines Begriffes unnötig. Je stärker das Wissensgebiet spezialisiert ist, umso mehr sind die Gelehrten auf die Fachsprache angewiesen. Entsprechend steigt auch der Umfang der Fachbegriffe. Laien verstehen nur noch "Bahnhof", wenn sie einen entsprechenden Fachaustausch hören. Ähnlich ergeht es dem unerfahren Leser, wenn er klassische Autoren und Philosophen liest. Viele Sätze muss man mehrmals lesen, um den Sinn zu verstehen.

Für viele Erklärungen ist es aber nicht erforderlich, auf Fachsprachen zurückzugreifen. Der Sinn manch aufgebauschten Fachartikels oder -vortrags reduziert sich auf einfache Sachverhalte. Worthülsen und aufgesetzte Gelehrsamkeit erwecken dabei den Eindruck, als könne man weiter denken als alle anderen. Mitentscheidend ist dabei, wieweit der Vertrauensvorschuss des Vortragenden reicht. Wenn man jemanden nicht versteht, dessen Format nicht sehr hoch eingeschätzt wird, dann redet der "dummes Zeug". Handelt es sich jedoch um eine anerkannte Kapazität, dann reicht halt der eigene Horizont nicht aus. Vieles ließe sich aber mit einfachen Worten besser und für jeden verständlich erklären.

Des Kaisers neue Kleider

Die meisten werden dieses Märchen von Andersen kennen. Zwei Betrüger nähen dem Kaiser Kleider, die gar nicht vorhanden sind. Sie erklären dazu, diese Kleider könnten von dummen Menschen nicht gesehen werden. Weder der Kaiser noch jemand aus dem Umfeld gibt nach dieser Vorgabe zu, dass er keine Kleider sieht.

Das ganze Volk hat Kenntnis von der neuen Errungenschaft Seiner Majestät. So kommt schließlich der Tag, an dem sich der Kaiser einer großen Menschenmenge in seinen neuen Kleidern präsentiert. Bei Erscheinen des Kaisers sind von allen Seiten Ausrufe der Bewunderung und des Entzückens zu hören. Ein "Heer von klugen Bürgern" lässt seinen Beifall erschallen. Bis schließlich ein kleines Kind ruft: "Der hat ja gar nichts an!" Dieser Aussage schließen sich plötzlich sämtliche Betrachter an und tun dies lautstark kund. Der Kaiser hat aber keine Wahl, er muss die Komödie weiter spielen. Gäbe er jetzt zu, dass auch er keine Kleider sieht, wäre der Gesichtsverlust unendlich.

Ich möchte Andersens Märchen an dieser Stelle etwas weiter spinnen. Der Kaiser bleibt selbstverständlich Kaiser. Über die alte Begebenheit wächst Gras. Die Mehrheit im Volk meint nach wie vor, einen guten Landesvater zu haben. Zur Zeit geht es allen gut – es gibt wenig Anlass, am Kaiser zu zweifeln; in seine Amtsgeschäfte hat sowieso niemand Einblick. Der allgemeine Wohlstand wird vorwiegend ihm zugeschrieben. Kommt nach einer gewissen Zeit das Thema auf die alte Geschichte, dann meinen viele inzwischen, der Kaiser habe doch Kleider angehabt. Wenn schlechtere Tage heraufziehen, mag er hier oder dort doch etwas skeptischer gesehen werden. Vielleicht spricht man auch wieder über die Sache mit den Kleidern. Aber der Kaiser ist nun mal der Kaiser.

Entscheidungen auf höchster Ebene

Wirtschaftskapitäne und Topmanager – nicht zuletzt auch Politiker - untermauern ihre Entscheidungen oft mit "des Kaisers neuen Kleidern". Diese sehen so aus, als wären es fundierte Untersuchungen und sorgfältig ausgearbeitete Konzepte. Stellt sich auch noch Erfolg ein, dann waren natürlich die getroffenen Maßnahmen entscheidend. Bleibt dieser aus, finden sich Erklärungen. Headhunter und Personalberater überbieten sich gegenseitig in dem Bemühen, die vermeintlich "besten Köpfe" an- und abzuwerben.

Auch hierzu fällt mir eine kleine Geschichte ein, der Urheber ist mir nicht bekannt. Der Medizinmann eines Eingeborenenvolkes im tiefsten Afrika wird von der Regierung eines europäischen Industriestaates eingeladen. Man will ihm die Segnungen der Zivilisation präsentieren. Zur Unterhaltung nimmt man ihn auch zu einem Fußballspiel mit. Wieder in seinem abgelegenen Heimatdorf angekommen, wird er natürlich nach seinen Eindrücken befragt. Seine Antwort: "Ich kann euch nur sagen, die Medizinmänner in der großen Welt sind viel weiter als wir! Man hat mich zu einer Zeremonie mitgenommen. Eine riesige Menge von Teilnehmern hat laut gebrüllt und merkwürdige Lieder gesungen. In der Mitte war ein großer Platz, da sind über zwanzig Männer herumgelaufen und haben eine seltsame Kugel getreten. Und – ob ihr's glaubt oder nicht – nach zwanzig Minuten hat es tatsächlich geregnet!"

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Mimikry und Mimese

Hier handelt es sich um Schutzmechanismen in der Natur. Harmlose Tiere, die im Grunde völlig wehrlos ihren Fressfeinden ausgesetzt sind, schützen sich durch Täuschungen. Mimikry und Mimese sind umfassende Forschungsfelder der Biologie und in der Fachliteratur genau beschrieben. Bei der Mimese handelt es sich um Tarnung. Das Tier schützt sich, indem es sich an seine Umgebung anpasst, vor allem farblich. Von den Feinden wird es daher übersehen.

Bei der Verwendung eindrucksvoller Sprachwendungen will man natürlich nicht übersehen werden. Hier zielt man darauf ab, sein Gegenüber zu beeindrucken, im Falle von Konflikten auch gern einzuschüchtern. Dies Verhalten ähnelt der Mimikry, die von der Kragenechse praktiziert wird.

Mimikry schützt durch Abschreckung. Die Kragenechse spannt eine riesige Hautmembran auf, wenn sie sich bedroht fühlt. Sie sieht dadurch viel größer und gefährlicher aus. So gelingt es ihr, überlegene Angreifer in die Flucht zu schlagen.

Nicht alle Widersacher lassen sich durch das eigentlich harmlose Schreckensbild täuschen. Die Kragenechse sieht sich immer wieder Angriffen von Raubvögeln oder am Boden lebenden Fressfeinden ausgesetzt. Die beschriebene Mimikry ist aber Teil ihrer Überlebensstrategie und bewährt sich in vielen Fällen.

Mimikry im menschlichen Leben

Die "sprachliche Mimikry" ist in vielen Fällen auch als Überlebensstrategie aufzufassen. Wenn sich ein ausgewiesener Experte fachlichen Angriffen ausgesetzt sieht, muss er um seine Reputation und damit um seinen beruflichen Erfolg fürchten. Fadenscheinige Argumente und banale Fakten werden dann zu unumstößlichen Einsichten hochstilisiert.

Weniger auf das Überleben als vielmehr das Erringen von Anerkennung zielt die "verbale Mimikry", die manche Menschen im Freundes- und Bekanntenkreis betreiben. Solche Personen merken oft nicht, dass sie sich gelegentlich zur lächerlichen Figur machen. Ihnen entgeht auch, dass die anderen bereits mit den Augen rollen, wenn sie beginnen, ihr Imponierszenario abzuspulen. 

Bild: Animale Reptil Wallpaper

Ganz natürlich und ungezwungen?

Können wir uns immer frei artikulieren, ohne uns auch nur ansatzweise zu verstellen - ohne jeden Gedanken an unsere Außenwirkung? Wenn wir niemanden beeinflussen wollen und auch keinen speziellen Erfolg anstreben, können wir uns eigentlich so geben, wie wir sind und reden, wie uns "der Schnabel gewachsen" ist. Es gibt allerdings Menschen, die sehen sich niemals in einer so komfortablen Situation. Wo auch immer sie mit anderen zusammentreffen - sie bewegen sich unter dem Zwang, sich beweisen zu müssen. Sie wirken auf ihre Mitmenschen oft unnatürlich, man merkt ihnen an, dass sie sich verstellen.

Auch wer etwas lockerer und unbekümmerter durchs Leben geht, wird in manchen Situationen sein Auftreten und seine Wortwahl mit etwas mehr Kalkül einsetzen. Das beste Beispiel ist hier ein Vorstellungsgespräch. Dort will man etwas erreichen und dafür natürlich den besten Eindruck machen. Dort wird auch meistens erwartet, dass die Ausdrucksweise des Bewerbers die nötige Fachkompetenz erkennen lässt. Man bereitet sich vor und überlegt sich genau, was man sagt und wie man sich ausdrückt.

Harmloser Aufschneider oder gefährlicher Demagoge?

Wer allerdings niemals aus der Haltung herauskommt, vor anderen bestehen zu müssen, den kann diese Einstellung auch in eine tiefe Krise stürzen. Solche Menschen glauben, ihr ständig demonstrierter hoher Bildungstand brächte ihnen hohes Ansehen ein. Sie leben in einer Welt fern der Wirklichkeit. Wenn sie dann irgendwann feststellen, dass sie im Grunde nur belächelt werden, kann dies zu Identitätsproblemen bis hin zu Suizidgedanken führen.

Von ihrer Umwelt werden derart problembeladene Menschen meist als "harmlose Spinner" angesehen. In ihnen sieht man keine Gefahr. Wenn allerdings Inhaber von Schlüsselpositionen stichhaltige Argumente mit reinem "Wortgetöse" niederbügeln, können die Folgen weitreichender sein. Entscheidungen, die mit Scheinplausibilität untermauert werden, können zum Nachteil für viele werden.

Auf Beispiele aus Politik und Wirtschaft verzichte ich hier. Ich will nur davor warnen, dass man sich von einem geschliffenen Auftreten zu sehr beeindrucken lässt.

 

 

 

Autor seit 8 Jahren
5 Seiten
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