Die Zielsetzungen der Hartz-Gesetze

In den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts war die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland auf das Rekordniveau von über 5 Millionen geklettert, Deutschland galt deshalb in Europa zu Recht als das "ökonomische Schlusslicht". In dieser Situation wurde von der damaligen rot-grünen Koalition unter Bundeskanzler Gerhard Schröder eine Kommission unter Vorsitz des VW-Managers Peter Hartz damit beauftragt, weitreichende Strukturreformen für den Bereich der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zu erarbeiten mit dem Ziel, die Arbeitslosigkeit drastisch zu senken. Anfang 2003 startete das erste Gesetzespaket, Hartz I. Dieses sah als größtes Projekt die Einführung der so genannten "Personal-Service-Agenturen" (PSA) vor. Diese sollten Arbeitslose an Zeitarbeitsfirmen vermitteln. Bekanntestes Vorhaben von Hartz II war die Einführung der "Ich-AG" sowie der Mini- und Midi-Jobs (400 bzw. 800 Euro-Jobs) 2004. Im Rahmen von Hartz III (2004) wurde aus dem Arbeitsamt die Agentur für Arbeit. In sogenannten Jobcentern sollten sich hier die Mitarbeiter verstärkt um Arbeitslose kümmern. Ziel war es, die Zuständigkeitsbereiche von Sozial- und Arbeitsamt klar voneinander zu trennen. Hartz IV (2005) schließlich beinhaltete die Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II. Das ALG II soll den Druck auf Langzeitarbeitslose erhöhen. Das heißt: Wer länger als ein Jahr arbeitslos ist, erhält monatlich nur noch den Regelsatz von 347 Euro.

Die Resultate der Hartz-Gesetze

Zunächst muss kritisch angemerkt werden, dass von einer besseren Vermittlung von Arbeitslosen in Erwerbsarbeit durch das Hartz IV-System keine Rede sein kann. Das gilt vor allem für Langzeitarbeitslose. Das heißt: Auch in Zeiten von Hartz IV gelingt es nur wenigen Langzeitarbeitslosen – das sind mehr als ein Drittel der zurzeit knapp drei Millionen Jobsuchenden in Deutschland – im ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Laut einem neuen Bericht der Bundesagentur für Arbeit ist die Langzeitarbeitslosigkeit sogar wieder leicht gestiegen: auf 1.050.000 im vergangenen Jahr, was einem Anteil von 35,6 Prozent an der Gesamtzahl der Erwerbsarbeitslosen entspricht. Ferner ist bedenklich, dass mit Hartz IV aus einem Rechtsanspruch auf Zahlung von Arbeitslosengeld, den der Betroffene während seiner Erwerbstätigkeit erworben hat, eine Fürsorgeleistung geworden ist, bei der ständig die Bedürftigkeit überprüft wird. Die Verantwortung für die soziale Sicherung von Erwerbsarbeitslosen wurde mit anderen Worten weitgehend auf das steuerfinanzierte Hartz IV verlagert und damit die Reichweite der Arbeitslosenversicherung stark verringert. So bekommt nur noch ein Viertel der Erwerbsarbeitslosen Arbeitslosengeld I. Außerdem wurden die Zumutbarkeitsregeln für die Aufnahme einer Arbeit erheblich verschärft. In letzter Konsequenz besteht hier der Zwang zur Aufnahme einer Arbeit zu nominellen Geringstlöhnen, nämlich zur Aufnahme eines "Ein-Euro-Jobs". Zudem haben die Hartz-Reformen den Umbau des Arbeitsmarktes in Richtung sozial weniger abgesicherter Beschäftigungsformen gefördert und damit die Machtposition der Erwerbstätigen geschwächt.

Gravierende soziale Folgen

Die Begrenzung des Arbeitslosengeldes I auf ein Jahr stellt für Erwerbsarbeitslose eine besondere Härte dar. Das heißt: Da das Arbeitslosengeld II lediglich das sozial-kulturelle Existenzminimum sichert, erleiden Arbeitslose, die nicht binnen eines Jahres eine neue Beschäftigung finden, einen tiefen Absturz in ihrer Einkommens- und Sozialposition. Dies ist für die Betroffenen ein tatsächliches, für alle (noch) Beschäftigten ein potenzielles Risiko. Die soziale Unsicherheit bei Arbeitslosigkeit wächst, Arbeitslosigkeit wird auch für die Mittelschichten zur existenziellen Bedrohung. Speziell bei Langzeitarbeitslosigkeit besteht nicht nur das Problem der Verarmung, sondern auch der sozialen Ausgrenzung. Das heißt: Langzeitarbeitslosigkeit gefährdet die gesellschaftliche, kulturelle und politische Teilhabe und kann zur Desintegration ganzer Bevölkerungsgruppen führen. Ein wichtiges Indiz dafür ist die Entwicklung des Wahlverhaltens und der Wahlbeteiligung in den unteren sozialen Schichten. Denn es ist heute nicht selten, dass sich ganze Stadtteile, Straßen, Bezirke, Wohnquartiere von politischen Wahlen nicht angesprochen fühlen. Hier herrscht bei den Betroffenen die Vorstellung vor, dass es egal ist, wer regiert, weil sich für sie an ihren belastenden Lebensverhältnissen doch nichts ändert. . Man könnte hier, wenn das nicht eine unzulässige Verharmlosung wäre, von den Kollateralschäden der Hartz-Reformen sprechen.

Was von einem Mythos bleibt

Eine neue Studie zeigt, welche Faktoren wirklich für das wirtschaftliche Wiedererstarken Deutschlands verantwortlich sind. Danach ist die hohe Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft nicht Instrumenten wie etwa der flexibilisierten Leiharbeit oder der Einführung von Minijobs zu verdanken, sondern einem anderen deutschen Wundermittel, nämlich der einzigartigen Unabhängigkeit der Tarifpartner vom Staat und der damit verbundenen freien Entscheidung über Löhne, die die Bedürfnisse der einzelnen Branchen, die Größe und die konjunkturelle Lage von Unternehmen berücksichtigt. Hinzu kommt nach Ansicht der Autoren der Studie eine weitere deutsche Besonderheit. Und zwar hätten die extremen wirtschaftlichen Veränderungen nach dem Mauerfall in Deutschland schon ab Mitte der neunziger Jahre dazu geführt, dass die Löhne real sanken und sich damit auch die Lohnstückkosten verringerten, was ebenfalls die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportindustrie langfristig enorm erhöht hat. Man kann auch sagen: Als Schröder 2003 die Hartz-Reformen einleitete, waren die wichtigsten Weichenstellungen für den erneuten Aufstieg Deutschlands zur wirtschaftlichen Supermacht schon erfolgt. In der schweren Rezession ab 2008 sorgten dann - neben der Kurzarbeit - vor allem wieder die Tarifpartner dafür, dass die Unternehmen keine Lohnerhöhungen stemmen mussten, die sie womöglich in die Knie gezwungen hätten. Auf einen kurzen Nenner gebracht, hat nicht die Agenda 2010 Deutschland zum ökonomischen Superstar gemacht, sondern die Unabhängigkeit der Betriebe und der Gewerkschaften vom Staat.

Die Reform der Reform

Dass die Hartz-Reformen alles andere als ein Wundermittel sind, sondern vielmehr ein Desaster ohne Ende, zeigen auch diese Zahlen: So verhängt die Agentur für Arbeit rund eine Million Mal pro Jahr Strafen. Eine Flut von Klagen (200.000 allein in 2013) überschwemmt die Sozialgerichte. Mehr als jede dritte hat Erfolg. Bund und Länder ziehen deshalb die Notbremse: Die Hartz-IV-Regeln sollen durch eine Reform ab April 2015 klarer und entschärft werden. So sollen Leistungen künftig für zwölf Monate bewilligt werden (bisher: 6) – das soll den Verwaltungsaufwand reduzieren. Um zu viel gezahlte Bagatellbeträge (unter fünf Euro) soll künftig nicht mehr gestritten werden – das soll die Prozessflut eindämmen. Bei Zinsen aus Kapitalerträgen galt bisher ein sehr enger 10-Euro-Freibetrag pro Monat. Daraus soll ein 120-Euro-Jahresfreibetrag werden. Als Folgewirkung können Zinsen angespart werden. Die Sanktionen für unter 25-Jährige sollen entschärft werden. Das heißt: Bisher wurden die Bezüge bei den Jüngeren beim ersten gravierenden Verstoß komplett gestrichen. Künftig soll gelten: Gleiche Regeln für alle. Die verschärfte Sanktion (Kürzung um 60 Prozent beim zweiten Verstoß pro Jahr) soll entfallen. Die Sanktion durch die Kürzung bei Unterkunft und Heizung soll ebenfalls entfallen. Es zeichnet sich ab, dass mit diesen Entschärfungen zwar die Gerichte entlastet, die Staatskasse jedoch belastet würde. Das steht in einem merkwürdigen Widerspruch zu der übergeordneten Zielsetzung, durch "Effizienzverbesserungen" im Bereich Hartz IV im Bundeshaushalt drei Milliarden Euro einzusparen. Es bleibt deshalb abzuwarten, ob diese Reform wirklich Verbesserungen für die Betroffenen mit sich bringt.

Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns

Eine weitere Reform des Arbeitsmarktes, die jetzt in Angriff genommen wurde, ist die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, einer Lohnuntergrenze von 8,50 Euro. Und zwar wurde diese Reform am 3. Juli vom Bundestag beschlossen und soll 2015 in Kraft treten. Es handelt sich hier um einen Bereich, in dem Deutschland innerhalb Europas wirklich noch Schlusslicht ist. Diese Reform, mit der die schlimmsten Auswüchse beim Lohndumping beendet werden sollen, war also überfällig. Im Einzelnen geht es hier um die Verbesserung der Lage der Niedriglöhner, die sich für weniger als fünf Euro verdingen mussten, sowie der Erwerbstätigen, die zuletzt zwischen 5 Euro und 8,50 Euro pro Stunde verdienten. Insgesamt sind dies fast 4 Millionen Menschen, die von ihrer Arbeit nicht leben konnten und deshalb zusätzlich staatliche Unterstützung in Anspruch nehmen mussten. Vom Mindestlohn nicht profitieren werden allerdings diejenigen Erwerbstätigen, die nur einen Teilzeitjob ausüben. Diese bleiben auf ergänzende Sozialleistungen angewiesen, auch wenn ihr Stundenlohn steigt.

Zum Problem sozialer Ungleichheit

Es gibt ein weiteres Spezifikum der deutschen Gesellschaft, mit dem sich Deutschland zwar nicht als Weltmeister, aber als Europameister erweist. Allerdings ist das für Deutschland kein Ruhmesblatt. Hier geht es nämlich um das Ausmaß sozialer Ungleichheit. So hat eine vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) vorgestellte und von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie ergeben, dass in keinem Land der Eurozone die Vermögen ungleicher verteilt sind als in Deutschland. Das heißt: Nirgendwo in Euroland ist die Kluft zwischen Arm und Reich so groß wie in der Bundesrepublik: Während das reichste Prozent der deutschen Bevölkerung ein Vermögen von mindestens 800.000 Euro pro Person besitzt, verfügen 20 Prozent der Bundesbürger, also ein Fünftel aller Erwachsenen in Deutschland, über gar kein Vermögen. Und Hartz IV hat vermutlich nicht unmaßgeblich zu dieser Ungleichverteilung beigetragen. Denn die Studie hat auch gezeigt, dass der durchschnittliche Besitz von Arbeitslosen seit dem Jahr 2002 fast um die Hälfte geschrumpft ist.

Fazit

Wenn man sich die Wirklichkeit nicht künstlich schön redet, fällt die Bilanz der Hartz-Reformen vernichtend aus. Denn sie haben de facto kein einziges der Probleme am Arbeitsmarkt gelöst, sondern ganz im Gegenteil neue Probleme geschaffen, nämlich die soziale Balance in Deutschland noch mehr aus dem Gleichgewicht gebracht. Hier werden die Schattenseiten des neuen deutschen Wirtschaftswunders sichtbar. (Vgl. zu diesem Artikel auch: http://pagewizz.com/sozialstaat-unter-druck-31169/)

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Autor seit 11 Jahren
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