Lärm und Werteverfall

Gewollter Lärm? In der Tat: Der leidlich bekannte Werteverfall der letzten Jahrzehnte hat dazu geführt, dass gewisse Arten von Lärm als "gut" angesehen bzw. gar nicht erst als "Lärm" benannt werden. Wer sich über diesen "guten" Lärm beschwert, wird als Querulant behandelt und mit allen Tricks der Rhetorik und der juristischen Winkelzüge in die Schranken gewiesen. Dieser Lärm ist das Abfallprodukt unserer Spaß- und Eventkultur: der Freizeitlärm.

Zu den Folgen des Werteverfalls gehört nämlich auch der Siegeszug des Hedonismus, ja, was schlimmer ist: des egoistischen Hedonismus, der sich um die Rechte anderer nicht kümmert. Seine Ideologie lässt sich zusammenfassen in dem Satz: "Tu was du willst, nutze alle Mittel!". Dies entspricht nicht nur dem sogenannten Gesetz von Thelema, der Hauptregel des modernen Satanismus, sondern es ist auch das Motto der Technoszene, wie es Jürgen Laarmann, einer ihrer Protagonisten, formuliert hat (vgl. Zöller, S. 165).

Nicht ohne Krach: Christopher Street Day in Dresden

Bild: Marco Barnebeck, www.pixelio.de

In dieser Ideologie des "Tu was du willst, nutze alle Mittel!" hat Rücksichtnahme und Respekt vor dem Gesetz keinen Raum. Wir sehen das, um beim Beispiel zu bleiben, an den großen Technoumzügen wie der Love Parade, bei denen illegale Drogen in großen Mengen konsumiert und die Anwohner mit entsetzlichen Lärmorgien terrorisiert werden. Freilich ist Techno – neben dem Satanismus – nur die konsequenteste Umsetzung des egoistisch-hedonistischen Prinzips; weder die einzige, noch die erste.

Wir finden dieses Prinzip in fast allen populären Musikszenen, und die modernen Massenmedien ermöglichten nach dem zweiten Weltkrieg, dass diese Botschaft durch Radio und Tonträger, zunehmend auch durch das Fernsehen, in fast alle Haushalte getragen werden konnte. Der größte Teil der sogenannten populären Musik appelliert mit seiner Aggressivität an die niedersten Instinkte des Menschen und hat mit seinem "Beat" eine geradezu hypnotische Wirkung. Durch diese Musik erst wurde der Werteverfall möglich, wurde eine Generation nach der anderen auf Egoismus, Hedonismus und Rebellion eingeschworen. Fast jede der geläufigen Jugendkulturen definiert sich wesentlich durch einen Musikstil und die durch ihn vermittelten Haltungen und Werte. Die Erwachsenengeneration der 1950er und 60er Jahre sah es noch mit Entsetzen, verhinderte aber wegen falsch verstandener Toleranz nicht, dass die Musik von Rock‘n‘Roll und Beat die Jugend vereinnahmte und Grundsätze und Werte demontierte, die sich die Menschheit in jahrtausendelangem Kampf gegen ihre destruktiven Instinkte abgerungen hatte. Die dominierende Musik der letzten Jahrzehnte ist, wie es Harald Justin treffend formuliert hat, ein "Triumph der Leidenschaften über die Zivilisationsgeschichte” (S. 88). Aufgrund ihrer klanglichen Aggressivität sollte man diese Musik "Gewaltmusik" nennen; so wie man auch von Gewaltfilmen, Gewaltvideos und Gewaltvideospielen spricht.

Immer lauter und immer mehr

Die akustische Rüstungsindustrie hat die Ausgangsleistung der Lautsprecher von 4 bis 8 Watt in den 1950er Jahren über 10 bis 20 Watt in den 70ern auf bis zu 400 Watt in den 90ern hinaufgeschraubt – eine Verhundertfachung! Bei den ersten Auftritten der Beatles ging die Musik im Gekreische des Publikums unter. Heute kann das nicht mehr passieren. Dauerschallpegel von 100 dB und Spitzenpegel von 120 dB und mehr bei Rockkonzerten oder in Diskotheken sind keine Seltenheit mehr, Tinnitus und Schwerhörigkeit vorprogrammiert. Dass Hörschäden in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen haben, ist oft beschrieben worden und allgemein bekannt. Die Lautstärken der modernen Verstärkeranlagen und Tonwiedergabegeräte schaden aber nicht nur dem Gehör der unmittelbar Beteiligten, sondern reichen weit darüber hinaus: Rockkonzerte unter freiem Himmel sind über Kilometer zu hören, Kneipen und Diskotheken beschallen mit ihren stampfenden Bässen die Häuser der Nachbarschaft, ganz zu schweigen von direkt darüberliegenden Wohnungen.

Gastronomie bringt aber auch Gewerbesteuereinnahmen, und die zählen für viele Gemeinden mehr als die Gesundheit der Bürger. Wenn man bedenkt, wie hysterisch auf andere tatsächliche oder auch nur vermeintliche Gesundheits- und Umweltgefahren reagiert wird, ist es um so unglaublicher, dass der Freizeitlärm quasi zu einem unantastbaren Kulturgut erhöht worden ist.

Die alltäglichste Art des Freizeitlärms ist der Nachbarschaftslärm, der sich vor allem durch aufgedrehte Musikanlagen und laute Feiern manifestiert, also meist hedonistisch motiviert ist. Die Belästigung durch diese Art des Lärms ist von den 1970er Jahren bis heute dramatisch angestiegen – und das trotz durchschnittlich besserer Schalldämmung im Gebäudebestand. Während sich 1978 in Westdeutschland nur etwa 3,3 Prozent der Bürger durch "Nachbarn und Kinder” gestört fühlten (vgl. Moench, S. 101), so waren es 2004, gesamtdeutsch, bereits 43 Prozent (vgl. www.umweltstudie2004.de), also dreizehnmal so viele!

Rücksichtslose Eventkultur

Aber nicht nur der Lärm aus Nachbarwohnungen hat zugenommen – auch der Freizeitlärm, der von außen in die Wohnungen dringt: Aggressive populäre Musik, also Gewaltmusik, jener Motor des Werteverfalls, macht sich bei immer mehr Gelegenheiten und in immer größerer Lautstärke breit. Jedes Fest, jede Sportveranstaltung wird zum großen "Event" aufgebauscht, und das scheint ohne laute und aggressive Musik nicht mehr zu gehen. An meinem Wohnort Freiburg im Breisgau gibt es seit einigen Jahren in jedem Frühjahr einen Marathonlauf mitten durch die Stadt, wobei alle fünfhundert Meter meist elektronisch verstärkte Musikgruppen den Läufern und dem Publikum "einheizen" sollen. Die Lautstärke in unmittelbarer Nähe der Bühnen ist oft ohrenbetäubend. Dass damit nicht nur den Läufern und Besuchern, sondern auch zehntausenden von Anwohnern "eingeheizt" wird, und zwar gegen deren Willen, das kümmert die Stadtverwaltung nicht. Der Leiter des Amtes für öffentliche Ordnung sagte in einem Gespräch am 7. April 2010 zynisch, man könne sich ja darauf einstellen und seine Wohnung verlassen.

auch Sportveranstaltungen werden immer lauter

Bild: Daniel Kummetz, www.pixelio.de

Wenn man aber aus der eigenen Wohnung vertrieben wird, dann ist ein Grundrecht verletzt. Denn die Wohnung ist nach Artikel 13 des deutschen Grundgesetzes "unverletzlich". Auch die europäische Menschenrechtskonvention schützt die Wohnung, indem sie sagt: "Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs" (Art. 8, Abs. 1).

Behörden am Rande und jenseits der Legalität

Das vielleicht Ungeheuerlichste an der Entwicklung der letzten Jahrzehnte ist schon seit langem in der Literatur über Lärm nachzulesen und in der eigenen Umgebung zu erleben: nämlich wie diejenigen, deren Aufgabe darin besteht, Gesetze und Verordnungen durchzusetzen und die Rechte des Einzelnen zu schützen, wie ausgerechnet diese Menschen das Recht manipulieren und brechen.

So verstoßen die Behörden in Deutschland immer wieder gegen das Verwaltungsverfahrengesetz. Dieses schreibt nämlich vor (§ 28, Abs. 1): "Bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, ist diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern." Das bedeutet auch, dass Anwohner über geplante ruhestörende Veranstaltungen zuvor zu informieren sind, und dass man ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme und gegebenenfalls zum Widerspruch geben muss. Mir ist indes kein Fall bekannt, bei dem das jemals geschehen wäre – leider auch keiner, bei dem ein Anwohner gegen einen solchen behördlichen Gesetzesverstoß geklagt hätte.

Man möge mir verzeihen, dass ich zahlreiche Beispiele aus Freiburg im Breisgau anführe! Ich tue das zum einen, weil ich seit August 1988 in dieser Stadt lebe, also aus erster Hand berichten kann, und zum anderen, weil sich Freiburg gewissermaßen zu einer "Lärmstadt" entwickelt hat: ein südwestdeutscher Ballermann, ein Vorreiter der akustischen Ellenbogengesellschaft, ein mahnendes Beispiel dafür, wie sich unsere Hörumwelt entwickeln kann, wenn der Rechtsstaat von Menschen ausgehebelt wird, die ihre Macht im Produzieren und Genehmigen von Lärm bestätigt sehen wollen.

Freiburg: die Idylle trügt

Bild: Felene, www.pixelio.de

Es folgen nun drei Beispiele für die Kumpanei der Freiburger Stadtverwaltung mit Ruhestörern, in der sicheren Annahme, dass Ähnliches nicht nur in Freiburg vorkommt; schließlich handelt es sich beim Werteverfall um ein Phänomen, das alle westlichen Gesellschaften ergriffen hat.

 

Beispiel 1: Das Amt für öffentliche Ordnung stellte ein Verfahren gegen einen Ruhestörer ein, der bis in die frühen Morgenstunden eine laute Party gefeiert hatte, mit der Begründung, es stünde Aussage gegen Aussage. Dabei hatte man es unterlassen, die zweimal zu Hilfe gerufenen Polizeibeamten zu befragen. Das Amt musste den Fehler später einräumen, meinte aber (Schreiben vom 14. 5. 1997): "Die Tatsache, daß auch beim zweiten Erscheinen nach dem Ermessen der Beamten eine Ermahnung für ausreichend erachtet wurde, sprach dafür, daß die von Ihnen angezeigte Ruhestörung nicht von einer Schwere war, die eine Ahndung durch einen Bußgeldbescheid erfordert hätte." Obwohl ein solcher nächtlicher Schlafentzug von Gerichten schon als Körperverletzung gewertet wurde, war er kein Grund für die Freiburger Polizei, ein Bußgeld auszusprechen. Der Täter rächte sich übrigens noch am Opfer für die Anzeige, indem er mehrfach dessen Fahrrad beschädigte oder heimlich an einen anderen Ort verbrachte. Solche Menschen werden behördlich geschützt!

Beispiel 2: Ein Opfer von nächtlichem Gaststättenlärm verlor einen Prozess gegen die Gaststättenpächterin nicht zuletzt wegen unvollständiger und unwahrer Vorkommnisberichte der Polizei. Das Opfer hatte 23mal innerhalb von drei Monaten die Polizei gerufen, aber die Berichte erwähnten nur fünf Einsätze und waren gezielt so formuliert, dass der Kläger als Irrer oder als Lügner dastand: So wurde verschwiegen, dass die Polizei erst bis zu 50 Minuten nach den Anrufen eintraf, und es wurde fälschlich behauptet, der vom Lärm um Schlaf und Nerven Gebrachte hätte die Beamten erst nach mehrfachem Bitten in die Wohnung gelassen, oder gar selbst zugegeben, dass keine Ruhestörung stattgefunden hätte. Der Anwalt der Gaststättenpächterin schrieb, ein Polizeibeamter hätte in den Räumlichkeiten des Lokals gesagt, dass ‘ihm die andauernden Anrufe des Klägers auf die Nerven gehen würden'. Zwei vom Kläger benannte Zeugen wollte der Richter nicht anhören, da er es für überflüssig hielt. So haben Polizei und Justiz gemeinschaftlich dafür gesorgt, dass das Unrecht siegte, während das verhöhnte Opfer auch noch die Gerichts- und Anwaltskosten tragen musste.

Beispiel 3: Anwohner wurden nachts durch Rockgruppen, die in einem stillgelegten Güterbahnhof spielten, um den Schlaf gebracht. Ein Polizeibeamter drohte einer Anwohnerin, wenn sie noch einmal die Polizei rufen sollte, müsse sie den Einsatz bezahlen. Ihr blieb schließlich nur noch der Umzug, wie übrigens auch dem Lärmopfer im vorigen Beispiel. Die Anwohnerin ist aber in der neuen Wohnung wieder aggressiver Musik ausgesetzt, und zwar zu fast jeder Tages- und Nachtzeit. Doch bis heute ist es nicht gelungen, die Quellen zu lokalisieren, die sich offenbar außerhalb des Hauses befinden. Vermutlich pflanzen sich die impulshaltigen tiefen Frequenzen durch unterirdische Rohrleitungen und Hohlräume wie Tiefgaragen über größere Entfernungen fort.

So weit die drei Beispiele aus Freiburg. Doch auch an anderen Orten macht man die Erfahrung, dass die Polizei bei Ruhestörungen erst gar nicht kommt, weil sie "Wichtigeres" zu tun hat. Erscheint sie nach vielleicht einer Stunde tatsächlich, ist der Lärm möglicherweise gerade vorbei. Hält er aber noch an, dann hat so manches Lärmopfer festgestellt, dass Polizeibeamte ihre eigenen Maßstäbe besitzen und mit der Bemerkung, so laut sei das doch nicht, unverrichteter Dinge wieder abziehen.

Kommt es aber einmal so weit, dass die Polizisten den Nachbarn oder Gastwirt freundlich um eine Reduktion der Lautstärke bitten, dann ist diese nicht von Dauer. Einige Minuten später wird wieder aufgedreht, und das ganze Spiel beginnt von neuem. Dass auch ein zweites Einschreiten der Polizei – wenn es denn erfolgt – keine Konsequenzen für den Ruhestörer haben muss, haben wir im ersten unserer drei Beispiele feststellen müssen.

Dabei kann der Wert der Nachtruhe kaum hoch genug veranschlagt werden. Einer Untersuchung zufolge verursachten durch Schlafmangel bedingte Fehler alleine im Jahr 1988 in den USA einen Schaden von rund 56 Milliarden Dollar; sie führten zu fast zweieinhalb Millionen Verletzten und kosteten 24.318 Menschenleben (vgl. Coren, S. 363). Wer seinen Nachbarn durch laute Musik um den Schlaf bringt, kann also dafür verantwortlich sein, dass am nächsten Tag eine müdigkeitsbedingte Unaufmerksamkeit im Straßenverkehr oder im Beruf einen Unfall oder eine Katastrophe auslöst.

Nachtruhestörung ist Körperverletzung

Bild: B. Stolze, www.pixelio.de

Trotzdem ist die Nachtruhe vielerorts nichts mehr wert. In Freiburg, wo sie laut Polizeiverordnung um 22 Uhr beginnt (früher war es 21 Uhr!), wird sie nicht nur durch die späte Sperrstunde um 3 bzw. 5 Uhr morgens ausgehebelt, sondern auch durch Genehmigungen für Veranstalter, noch über 22 Uhr hinaus laute Musik abzuspielen. Beim Schlossbergfest beispielsweise war Musik bis 23.30 Uhr genehmigt. Natürlich hielt sich der Veranstalter nicht einmal an diese späte Grenze. Zwar wurde nach Anwohnerbeschwerden gegen ihn ein Bußgeld ausgesprochen, doch er legte dagegen erfolgreich Widerspruch ein: Die Richterin hielt es nämlich für überflüssig, die Zeugen anzuhören (eine bewährte Methode, die wir schon vorhin kennengelernt haben), und das Verfahren wurde eingestellt.

Kontrolliert wird die Einhaltung der Auflagen bei uns in Freiburg normalerweise nicht, weil dafür, angeblich oder tatsächlich, kein Personal vorhanden ist. Als ich einwendete, wenn die Einhaltung nicht kontrolliert werden könne und es in der Vergangenheit bereits zu Verstößen gekommen sei, dürfe man solche Veranstaltungen eben einfach nicht mehr genehmigen, nannte der Leiter des Amtes für öffentliche Ordnung diese Vorstellung "naiv". – Ja, das ist es wohl; weiß man doch, dass in Freiburg die Gesundheit der Bürger hinter den Interessen skrupelloser Geschäftemacher zurückzustehen hat. In der Kolumne der Freien Wähler im Freiburger Amtsblatt vom 26. März dieses Jahres war endlich einmal schwarz auf weiß zu lesen, was im Grunde seit vielen Jahren offensichtlich ist: "Beschwerden und Hilferufe bei Nacht werden von den Ordnungsbehörden mit dem Hinweis ignoriert, dass dies von der Verwaltung so gewünscht werde” (S. 2; bezogen auf die Zustände auf dem Augustinerplatz).

In Freiburg ist die Polizeiverordnung also durch Absprache außer Kraft gesetzt, Lärm ist politisch gewollt. Meiner Ansicht nach ist das kriminell.

Noch eine weitere Art des Freizeitlärms scheint den Behörden in Freiburg und anderswo willkommen zu sein: Die sogenannten "rollenden Diskotheken", das heißt, wenn Autofahrer ihr Radio bis zum Anschlag aufdrehen und damit andere sowohl belästigen als auch gefährden. In Freiburg erklärte das Amt für öffentliche Ordnung im Juli 2008, dass man diesbezügliche Anzeigen grundsätzlich nicht mehr bearbeiten würde. Und für behördliche Kontrollen seien keine Kapazitäten vorhanden. Dann fragt man sich allerdings, weshalb das beispielsweise für die Kontrolle von Parkverstößen nicht gilt.

Schaltzentrale des akustischen Terrors

Bild: siepmannH, www.pixelio.de

Eine weitere Ausrede der Stadt lautet, man könne nicht beweisen, ob Grenzwerte überschritten werden. Doch dazu müsste man die Polizei lediglich mit Schallpegelmessgeräten ausstatten, die weitaus weniger kosten als Anlagen zur Geschwindigkeitsüberwachung, für die freilich immer Geld da ist. In den USA ist man da ohnehin pragmatischer: Wenn die Audioanlage eines Autofahrers in einer bestimmten Entfernung noch zu hören ist, wird das Bußgeld fällig. So einfach könnte es sein.

„Sozialadäquater“ Lärm: Wie uns die Rechtsgrundlagen entzogen werden

Inzwischen sind wir aber in eine weitere Phase der behördlich unterstützten Verlärmung eingetreten: Neben der Manipulation bestehender Verordnungen gibt es Bestrebungen, diese Verordnungen zugunsten der Ruhestörer zu verändern, und zum Teil ist das schon geschehen. Da ist zunächst die sukzessive Verkürzung der Sperrzeiten in der Gastronomie sowie der allgemeinen Ruhezeiten. So wurden die Sperrzeiten in Baden-Württemberg in den letzten Jahren dreimal verkürzt; übriggeblieben sind noch drei Stunden Ruhe vor Wochentagen und eine Stunde vor Samstagen, Sonn- und Feiertagen – einmal abgesehen davon, dass sich viele Gastwirte von je her nicht an die Sperrzeiten hielten, ohne dass dies kontrolliert und geahndet worden wäre. In Freiburg ist die in der Polizeiverordnung festgesetzte Nachtruhe in den 1990er Jahren um zwei Stunden verkürzt worden; inzwischen wird auch diese Regelung von den Behörden unterlaufen, wie ich bereits dargestellt habe.

Weitere Beispiele: Die Europäische Union hat 2006 die Mittagsruhe in bezug auf die Arbeiten gewerblicher sowie land- und forstwirtschaftlicher Betriebe abgeschafft. In Deutschland sind 1998 durch die Technische Anleitung Lärm die zuvor zulässigen Grenzwerte nach der VDI-Richtlinie 2058 für die Schallübertragung innerhalb von Gebäuden heraufgesetzt worden. In Berlin benötigen Straßenmusikanten keine Genehmigung mehr. Und nun der jüngste Coup der Lärmlobby: Wiederum in Berlin wurde im Februar dieses Jahres ein neuer Paragraph 6 in das Landesimmissionsschutzgesetz eingefügt; Absatz 1 lautet: "Störende Geräusche, die von Kindern ausgehen, sind als Ausdruck selbstverständlicher kindlicher Entfaltung und zur Erhaltung kindgerechter Entwicklungsmöglichkeiten grundsätzlich sozialadäquat und damit zumutbar.”

auch Kinder können lärmen ...

Bild: Sabine Meyer, www.pixelio.de

Die SPD-Bundestagsfraktion (Drucksache 17/881 vom 2. 3. 2010) und der Deutsche Bundesrat (Drucksache 831/09 vom 5. 3. 2010) haben die Regierung fast zeitgleich dazu aufgefordert, eine solche Regelung bundesweit einzuführen; eine Regelung, welche die Opfer von Kinderlärm hilflos und rechtlos macht.  Am 26. Mai 2011 war es dann soweit: Mit den Stimmen aller Fraktionen wurde das Bundes-Immissionsschutzgesetz geändert. Andere in ihrer Ruhe zu stören, ist nun ausdrücklich erlaubt, und die Formulierung "Störende Geräusche, die von Kindern ausgehen” ist so unbestimmt, dass man auch Tonwiedergabegeräte dazurechnen könnte, die von Kindern bedient werden.

In seiner Argumentation behauptete der Bundesrat: "Kinder brauchen Freiräume, um spielerisch soziales Verhalten zu erlernen und sich geistig wie körperlich entwickeln zu können." Doch das Gegenteil ist wahr: Denn wie sollen Kinder "soziales Verhalten [...] erlernen", wenn ihnen keine Rücksichtnahme beigebracht wird, wenn ihre Eltern sagen können: "Lärmt nur weiter, das ist erlaubt, der Nachbar kann schimpfen so viel er will!”? Laute Kinder werden laute Erwachsene!

Schon zuvor ermöglichte die unzureichende Lärmgesetzgebung, dass Opfer von Kinderlärm vor Gericht meist scheitern, wie seit vielen Jahren in der Presse zu lesen ist. Aber das genügte den lärmfreundlichen Ideologen nicht; auch die letzte juristische Chance sollte den Lärmopfern genommen werden. Natürlich ist auch hier der Werteverfall beteiligt: Laut sein macht Kindern Spaß, und was Spaß macht, hat Vorrang: "Tu was du willst, nutze alle Mittel!" Hinzu kommt freilich das falsch konzipierte deutsche Rentensystem, das die Politiker dazu veranlasst, die Kinderproduktion mit allen möglichen Maßnahmen ankurbeln zu wollen. Die Folgen werden dabei nicht bedacht; schon gar nicht die längerfristigen (ganz wie bei der Konzeption des Rentensystems).

Wohlgemerkt: Es geht hier nicht darum, Kindern einen Maulkorb zu verpassen, und gegen spontanes Kinderlachen wird niemand etwas einzuwenden haben. Das Problem ist die einseitige Parteinahme des Staates, die dem Gleichheitsgrundsatz ebenso widerspricht wie dem Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung. Und es gibt nun einmal keinen guten Lärm: Lärm belästigt und macht krank; das gilt für informationshaltigen Lärm wie Musik oder eben Lautäußerungen von Menschen in besonderem Maße. Nach der neuen Rechtslage können beispielsweise Kindertagesstätten auf Lärmschutz verzichten und sich unmittelbar neben Wohnungen einrichten, so dass man im Sommer unter Umständen direkt vor seinem Wohn- oder Arbeitszimmer stundenlanges Lärmen von zwanzig oder dreißig Kindern erdulden muss.

Der Kinderpsychiater Michael Winterhoff hat 2008 in seinem Buch "Warum unsere Kinder Tyrannen werden" auf den Missstand hingewiesen, dass Kindern keine Grenzen mehr gesetzt werden, und dass dies zu beziehungs- und arbeitsunfähigen Erwachsenen führt, die nur ihre eigenen Interessen verfolgen und deren Psyche in einer frühkindlichen Phase stehengeblieben ist. Genau dieses Phänomen, das Winterhoff zufolge in den letzten beiden Jahrzehnten dramatisch zugenommen hat, wird durch die Erklärung von Kinderlärm als "sozialadäquat" weiter vorangetrieben.

Natürlich müssen auch Erwachsenen Grenzen gesetzt werden, damit sie ihren Mitmenschen nicht schaden; deswegen gibt es Regeln und Gesetze – die nun freilich, soweit sie die Spaßgesellschaft einschränken könnten, immer mehr zur Disposition stehen.

Das betrifft auch die Regeln, die im öffentlichen Personennahverkehr gelten. In Deutschland ist der Gebrauch von Tonwiedergabegeräten nach den Allgemeinen Beförderungsbedingungen für den Straßenbahn- und Omnibusverkehr eigentlich verboten (§ 4, Abs. 2, Nr. 8). Doch die Zeiten, in denen Verkehrsbetriebe noch auf dieses Verbot hinwiesen oder wenigstens mit einem Plakat zur Rücksichtnahme aufforderten, sind längst vorbei. Die Südwestdeutsche Verkehrs-AG (SWEG) beispielsweise bekannte sich in einem Brief vom 30. 6. 2004 offen zur Missachtung der Allgemeinen Beförderungsbedingungen: "Wir möchten hier jedoch als modernes Nahverkehrsunternehmen keine rigorose Haltung einnehmen, da sonst ja auch die Handybenutzung verboten werden müsste. Dies wäre nach unserer Meinung nicht zeitgemäß und würde Fahrgäste von der Benutzung des ÖPNV abhalten.”

Diese Argumentation übersieht zum einen, dass ein Tonträgerverbot und ein "Handy”verbot zwei verschiedene Dinge sind, und zum anderen, dass es eine Minderheit der Fahrgäste ist, die einen MP3-Spieler oder Ähnliches verwendet. Gesetzt den Fall, ein Verbot dieser Geräte würde tatsächlich Menschen "von der Benutzung des ÖPNV abhalten”, so ist gleichzeitig davon auszugehen, dass andere genau wegen der störenden Beschallung lieber andere Verkehrsmittel wählen.

Klein, aber laut!

mp3-Spieler

Auch die Freiburger Verkehrs-AG denkt nicht daran, das Tonträgerverbot in Bussen und Straßenbahnen durchzusetzen. Hatte man noch im August 2007 behauptet, die Mitarbeiter seien "angewiesen, Fahrgäste, welche die Beförderungsbedingungen nicht einhalten, hierauf hinzuweisen" (Schreiben vom 3. 8. 2007), so hieß es im Dezember 2008, die Verbote könnten "nicht durch das Fahrpersonal durchgesetzt werden", und stattdessen sei "von den mitreisenden Fahrgästen mehr Zivil-Courage verlangt” (Schreiben vom 19. 12. 2008).

Mit anderen Worten: Seht doch selber zu, wie Ihr mit den Rüpeln klarkommt, lasst euch beleidigen und gegebenenfalls verprügeln! Meine Nachfrage, ob die Fahrgäste nun autorisiert seien, gegen Ruhestörer vorzugehen, ob sie deren Personalien aufnehmen sollten und diese mit Gewalt aus dem Fahrzeug werfen dürften, wenn diese sich weigerten, ihre Geräte abzuschalten, diese Frage war der Verkehrs-AG allerdings zu unbequem, um sie zu beantworten.

Wie ich erst einige Monate später erfuhr, hatte aber unterdessen der Regio-Verkehrsverbund Freiburg, zu dem auch die genannten Verkehrsgesellschaften VAG Freiburg und SWEG gehören, auf die Beschwerden über musikhörende Fahrgäste auf zynische Weise reagiert, indem er seine Besonderen Beförderungsbedingungen, welche an die Stelle der bundesweiten Allgemeinen Beförderungsbedingungen treten, zum August 2008 geändert hat. Bisher hieß es: "Es ist insbesondere untersagt [...] Tonwiedergabegeräte, Rundfunkgeräte, Fernsehgeräte, Musikinstrumente oder lärmerzeugende Gegenstände zu benutzen” (§ 4.2.h.). Dieser Satz wurde nun ergänzt: "oder Tonwiedergabegeräte mit Kopfhörern zu benutzen, wenn andere dadurch belästigt werden.” Das bedeutet: Die Benutzung ist erst einmal erlaubt, und diejenigen, die es stört, müssen kundtun, dass es sie stört. Wer das einmal versucht hat, weiß, dass er sich dadurch meist nur Beleidigungen und Pöbeleien einhandelt.

Zum Problem mit den Kopfhörern kommt aber seit einiger Zeit noch das der Mobiltelefone mit Tonwiedergabefunktion. Damit wird sogar ohne Kopfhörer Musik gehört und der Bus oder die Straßenbahn zur Diskothek umfunktioniert. Für solche Fälle besteht das Verbot zwar noch, aber wiederum setzt es niemand durch. Da man den Anfängen nicht wehrt, kommt es neben der musikalischen Gewalt immer öfter zu körperlicher Gewalt in öffentlichen Verkehrsmitteln. Und nicht selten sind die Täter genau diejenigen, die auch musikalische Gewalt ausüben: Im Februar 2010 wurde ein junger Mann in einem Hamburger Bus krankenhausreif geschlagen, weil er sich über die Musik zweier anderer Fahrgäste beschwert hatte.

Als wäre das alles nicht schlimm genug, sind in einigen Städten die Verkehrsbetriebe noch einen Schritt weiter gegangen und haben ihre Fahrgäste mit einem Radiosender zwangsbeschallt. Meist führten Beschwerden dazu, dass diese akustische Freiheitsberaubung wieder abgeschafft wurde, doch in der badischen Stadt Offenburg gibt es sie bis heute, und zwar schon seit 2003: In alle Stadtbusse wird das Programm des Lokalsenders Radio Ohr übertragen, der sich auch gerne "Hitradio" nennt, womit das angebotene Musikprogramm charakterisiert ist. Wer die von diesem Sender gespielte Musik nicht mag, leidet Qualen, wenn er auf den Bus angewiesen ist. Im angelsächsischen Sprachraum spricht man von der "captive audience", der "gefangenen Zuhörerschaft", denn man kann dieser Art der Zwangsbeschallung nicht entfliehen; vielleicht an der nächsten Haltestelle, aber dann kommt man nicht ans Ziel. Ich schrieb damals der Stadt Offenburg, dass eine solche Zwangsbeschallung gegen den Minderheitenschutz, gegen das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und gegen die Informationsfreiheit verstößt, zu der auch die Freiheit gehört, etwas nicht hören zu müssen. Der Fachbereich Tiefbau und Verkehr antwortete: "Wir haben die von Ihnen genannten Aspekte abgewogen, sehen jedoch insgesamt mehr Vorteile für das Projekt Musikbus, weshalb das Projekt weitergeführt werden soll” (Schreiben vom 26. 1. 2004). Jene Vorteile sind natürlich finanzieller Art: Die SWEG erhält vom Sender Geld dafür, dass sie ihren Fahrgästen neben der Musik auch die Werbung gewaltsam eintrichtert – man kann ja nicht einmal währenddessen aufs Klo gehen –, und der Sender kann für diese erhöhte Reichweite mehr Geld von seinen Werbekunden verlangen. Gut für die beiden Unternehmen, schlecht für die Fahrgäste. Übrigens musste auch hier eine Verordnung durch eine Ausnahmegenehmigung des Regierungspräsidiums Freiburg außer Kraft gesetzt werden: Die Betriebsordnung Kraftverkehr nämlich, der zufolge es dem Betriebspersonal untersagt ist, "während der Beförderung von Fahrgästen Übertragungsanlagen, Tonrundfunkempfänger oder Tonwiedergabegeräte zu anderen als betrieblichen oder Verkehrsfunk-Hinweisen zu benutzen" (§ 8). Also auch hier die behördliche Aushebelung von Vorschriften zugunsten der Zwangsbeschaller!

Zwangsbeschallung

Der Begriff "Zwangsbeschallung" scheint seine Definition bereits in sich zu tragen: Demnach wäre Zwangsbeschallung jeder Schall, der uns aufgezwungen wird. Meist wird aber eine engere Definition verwendet, wie in der Linzer Aktion "Beschallungsfrei". Hier steht der Begriff "Zwangsbeschallung" für das, was man sonst verharmlosend als "Musikberieselung" bezeichnet: Musik, die an Orten mit Publikumsverkehr über Lautsprecher abgespielt wird. Gelegentlich kann auch Sprache Gegenstand der Zwangsbeschallung sein, etwa dann, wenn mit einem Radiosender beschallt wird, der auch Wortbeiträge wie Nachrichten oder Werbung enthält.

Zwangsbeschallung hat recht alte Wurzeln; doch ihr Überhandnehmen in den letzten Jahrzehnten ist, wie der Freizeitlärm, eine Folge des Werteverfalls. Nicht zufällig ist ja der Motor des Werteverfalls, die Gewaltmusik, die bevorzugte Waffe der Zwangsbeschaller.

Zwangsbeschallung auch hier

Bild: Kunstart.net, www.pixelio.de

Nun mag man einwenden, Orte mit Zwangsbeschallung müsse man ja nicht besuchen. Aber so einfach ist das nicht: Soll ich gezwungen sein, einen weiteren Weg zum Einkauf zurückzulegen oder höhere Preise zu bezahlen, um der Zwangsbeschallung zu entgehen? Soll ich im Hotel aufs Frühstück verzichten, weil der Frühstücksraum zwangsbeschallt wird? Sollen in Offenburg, der Stadt mit den zwangsbeschallten Bussen, Menschen, die kein Auto besitzen, oder die alt und gebrechlich sind, weite Wege zu Fuß zurücklegen? Oder ein teures Taxi bezahlen?

Wo Kunden zwangsbeschallt werden, dort trifft es aber auch die Mitarbeiter. Dazu ein skandalöser Fall aus Speyer: Eine städtische Angestellte konnte die vom Arbeitgeber, also der Stadt, zwecks Kundenbelustigung vorgeschriebene Radiobeschallung nicht ertragen; es wurde ihr sogar verboten, sich mit Ohrenstöpseln zu schützen. Sie klagte vor Gericht und verlor in zwei Instanzen; sogar das Verbot der Ohrenstöpsel wurde vom Gericht bestätigt. Dabei hatte der Arbeitgeber eindeutig gegen § 3 Abs. 1 der Arbeitsstättenverordnung verstoßen, welcher lautet:

Speyer: verordnete Zwangsbeschallung

Bild: Stefan Bücker, www.pixelio.de

"Der Arbeitgeber hat dafür zu sorgen, dass Arbeitsstätten den Vorschriften dieser Verordnung einschließlich ihres Anhanges entsprechend so eingerichtet und betrieben werden, dass von ihnen keine Gefährdungen für die Sicherheit und die Gesundheit der Beschäftigten ausgehen.”

Die Klägerin war über anderthalb Jahre lang wegen der Zwangsbeschallung krankgeschrieben. Danach immerhin wurde sie an einen unbeschallten Arbeitsplatz versetzt. Eine Entschädigung für die akustische Folter und die daraus resultierende lange Krankheit erhielt sie nicht.

Schutz des Einzelnen oder des fiktiven „Durchschnittsmenschen“?

Im Jahr 1970, zu einer Zeit, als die älteren Generationen und die Justiz noch nicht vom Werteverfall erfasst waren, stellte der deutsche Bundesgerichtshof fest, dass auch "übersensitive Personen [...] im Sinne jeder menschlichen Gesetzlichkeit schutzbedürftig” sind und Anspruch darauf haben, von Lärmbelästigungen freigestellt zu sein: "Die subjektive Belastung bleibt entscheidend” (Urteil vom 16. 10.).

Die neuere Rechtsprechung fällt diesem höchstrichterlichen Urteil oftmals in den Rücken, von den ausführenden Organen ganz zu schweigen. In der 1995 erlassenen Freizeitlärm-Richtlinie ist nicht mehr von der subjektiven Belastung, sondern vom "verständigen Durchschnittsmenschen” die Rede, an dessen Lärmempfinden sich die Rechtsprechung orientieren soll. Diese Formulierung lässt der Willkür Tür und Tor offen: Wer sich über Lärm beschwert wird einfach zum überempfindlichen Querulanten erklärt, ihm wird abgesprochen, ein "verständiger Durchschnittsmensch” zu sein. Tatsächlich sind wir inzwischen so weit, dass sich nicht etwa der Ruhestörer rechtfertigen muss, warum er lärmt, sondern die Opfer müssen sich rechtfertigen, warum sie sich gestört fühlen!

Ungemessener Lärm

Es kommt den Freizeitlärmern und den sie unterstützenden Behörden sehr entgegen, dass die gesetzlich vorgeschriebene Schallpegelmessung in Dezibel (A) erfolgt. Diese Methode führt nämlich zu Werten, die wesentlich niedriger sind als die subjektiv ermittelten Lautstärke­pegel (vgl. Pfeifer, S. 61). Besonders groß sind die Unterschiede bei sehr hohen und bei tiefen Frequenzen, die somit viel "leiser” gemessen werden als sie dem Gehör erscheinen. Und gerade die heute so verbreitete elektronisch verstärkte Gewaltmusik zeichnet sich durch impulshaltige tiefe Frequenzen aus, die Entfernungen und Hindernisse weit besser überbrücken als mittlere und hohe Frequenzen. Das Kontra-A, auf das die zweite Saite einer E-Bassgitarre gestimmt ist, wird nach der dB(A)-Messung nur zu etwa 70 Prozent seiner tatsächlich empfundenen Lautstärke veranschlagt, und das Subkontra-A,der tiefste Ton eines modernen Klaviers, gar nur zu etwa 50 Prozent (vgl. Marks, S. 66). Auch beim Bauschall-Dämmmaß, das die Schalldämmung in Gebäuden angibt, werden die tiefen Frequenzen unterdrückt, und das, obwohl gerade sie es sind, die weniger abgedämpft werden können. Die dB(A)-Bewertung ist also ungeeignet, um die tatsächlich empfundene Lautstärke insbesondere von tiefen Frequenzen zu repräsentieren.

Ausblick

Es dürfte deutlich geworden sein, dass bei den modernen Lärmproblemen Gewaltmusik eine entscheidende Rolle spielt: Zum einen als Initiator und Motor des Werteverfalls, der erst das große Problem Freizeitlärm geschaffen hat; zum anderen ist Gewaltmusik selbst zum Lärm geworden, zur Waffe, mit der profitgierige Veranstalter und rücksichtslose Zeitgenossen aller Art mit Duldung pflichtvergessener Politiker und Behörden ihren Mitmenschen das Leben zur Hölle machen.

Psychische Reifestörungen mit ihren Folgen, wie sie Michael Winterhoff bei Kindern diagnostiziert hat, können wohlgemerkt auch durch das Hören von Gewaltmusik entstehen. Unter dem Begriff der psychischen Regression ist das schon mehrfach beschrieben worden. Immer mehr Jugendliche und Erwachsene verhalten sich infantil; die ganze Spaßgesellschaft mit ihrer Vulgärsprache, ihrem Gesaufe und Gejohle, ihrer Ichbezogenheit, ihrer Jagd nach "Action" und Befriedigung erscheint psychisch zurückgeblieben. Winterhoff macht auch deutlich, wie sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten die Maßstäbe verschoben haben: Was früher als Frechheit oder Unreife von Kindern gewertet wurde, gilt heute im Gegenteil als Zeichen von Reife und eines gesunden Selbstbewusstseins. (Zum Beispiel wenn Kinder jetzt ihren Nachbarn sagen können: "Ich bin ein Kind, ich darf laut sein.") Winterhoff beschreibt, dass die Anforderungen sowohl an das Verhalten als auch an das Lernvermögen von Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahrzehnten immer weiter herabgesetzt wurden. Auch hier drängt sich die Parallele zu Gewaltmusik und Lärm auf: Immer größere Lautstärken und immer mehr Aggressivität wurden als normal angesehen und Unbeteiligten zugemutet. Was man früher aus Anstand und Rücksichtnahme einfach nicht tat, ist zum selbstverständlichen Verhalten weiter Bevölkerungskreise geworden. Und dazu haben die Wirkungen von Gewaltmusik entscheidend beigetragen: Sie enthemmt und macht die Menschen aggressiv; das ist in zahlreichen Studien und in unzähligen empirischen Fällen belegt (vgl. Miehling 2006). In unserem Umgang mit dieser Musik liegt der Schlüssel zur Gestaltung unserer Zukunft; auch was den Lärm betrifft.

Lautsprecher aus!
Quelle: www.hoerstadt.at

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Die Stadt Linz, 2009 europäische Kulturhauptstadt, hat zwar mit der Aktion "Beschallungsfrei" und der Linzer Charta eine Kehrtwende versucht, doch optimistisch zu sein, fällt schwer. Denn auch wenn einige wenige Städte der Linzer Charta beigetreten sind, so bleibt doch abzuwarten, wie ernst sie das meinen. In Hamburg etwa soll die Charta nur für den Stadtteil Wilhelmsburg gelten. Einklagbar ist sie sowieso nicht.

Genausowenig wie die Aalborg Committments, die 1996 von zahlreichen europäischen Kommunen unterzeichnet wurden, die sich dadurch verpflichteten, "ein Bewusstsein für die breiteren, meist außerhalb des eigentlichen Gesundheitssektors zu findenden Gesundheitsfaktoren zu schaffen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen” sowie "gute Wohn- und Lebensbedingungen zu sichern”. Auch die Lärmstadt Freiburg gehörte zu den Unterzeichnern, doch die wirklichen Pläne waren schon damals ganz andere.

Sieglinde Geisel zitiert in ihrem 2010 erschienenen Buch "Nur im Weltall ist es wirklich still" den Leiter der Abteilung Öffentliche Ordnung der Stadt Berlin, Jens-Holger Kirchner, mit den Worten (S. 98): "Der Gesetzgeber möchte, dass mehr Lärm hingenommen wird. […] Das hat doch auch etwas Gutes, wenn die Leute unterwegs sind. Sollen sie denn zu Hause vor dem Fernseher sitzen?" Dass man auch ohne Lärm unterwegs sein kann, oder dass man zuhause etwas anderes tun könnte als fernsehen, das kam dem Herrn, übrigens Parteimitglied der Grünen, wie der Freiburger Oberbürgermeister, natürlich nicht in den Sinn. Die Generation Spaßgesellschaft löst in der Politik die "68er" ab und sorgt für noch mehr Lärm. Während wir uns über Maßnahmen gegen den Lärm den Kopf zerbrechen, hat unsere Obrigkeit schon längst das Gegenteil beschlossen.

Forderungen

Dennoch oder gerade deshalb werden immer mehr Bürgerinitiativen gegründet, die sich dafür einsetzen, dass alte Selbstverständlichkeiten wieder hergestellt und bestehende Verordnungen wieder durchgesetzt werden. Neben Lärm spielen auch andere Folgen des Werteverfalls hierbei eine Rolle, wie Schmutz, Vandalismus, Gewalt und übermäßiger Alkoholkonsum. Für den Umgang mit Lärm ist zu fordern:

  1. Die tiefen Frequenzen sind bei der Lärmmessung entsprechend der tatsächlichen Lautheitsempfindung zu berücksichtigen; Richtwerte sind zu maximal zulässigen Werten zu erklären.

  2. Wir müssen das Recht auf akustische Selbstbestimmung als Grundrecht begreifen, das ebensowenig verhandelbar ist wie andere Rechte.

  3. Insbesondere muss die Störung der für unsere Gesundheit und Leistungsfähigkeit so wichtigen Nachtruhe wieder ein Tabu werden, das von keinerlei Ausnahmeregelungen und -genehmigungen durchbrochen werden darf.

  4. Auch bei Lärm gibt es Täter und Opfer; auch hier hat das Prinzip zu gelten, dass die aktive Partei die Rechte der passiven zu respektieren hat; mit anderen Worten: Die Freiheit endet dort, wo die Rechte Anderer verletzt werden. Es gibt kein Recht auf Lärm.

  5. Es darf keine ideologische Bewertung von Lärm geben. Das heißt: Wegfall des "Schienenbonus", kein Sonderstatus für Kinderlärm oder Musiklärm, für Freizeitlärm überhaupt.

  6. Aus den Punkten 2 bis 5 folgt die einfache Maxime, dass vermeidbarer Lärm zu vermeiden ist.

  7. Gesetze und Verordnungen gegen Lärm sind konsequent durchzusetzen.

  8. Diese Forderungen können nur dann realisiert werden, wenn der politische Wille dazu vorhanden ist. Das aber bedeutet, dass der Werteverfall der letzten Jahrzehnte rückgängig gemacht werden muss. Und das wiederum wird nur möglich sein, wenn wir den Einfluss von Gewaltmusik minimieren und dafür sorgen, dass die künftigen Generationen nicht mehr mit dieser Musik sozialisiert werden.

zitierte Literatur

Coren, Stanley: Die unausgeschlafene Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg 1999.
Geisel, Sieglinde: Nur im Weltall ist es wirklich still: Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille, Berlin 2010.
Justin, Harald: Wer ich bin: Ein Aufnahmegerät? Ein Abspielgerät? Eine Endlosschleife? In: ders. u. Plath, Nils (Hgg.): Tonabnehmer: populäre Musik im Gebrauch = Kommunikation im Gespräch 3, Münster 1998, S. 80-97.
Marks, Stephan: Es ist zu laut! Ein Sachbuch über Lärm und Stille, Frankfurt/M. 1999.
Miehling, Klaus: Gewaltmusik – Musikgewalt. Populäre Musik und die Folgen, Würzburg 2006.
Moench, Cornelia: Lärm als kriminelle Umweltgefährdung = Kriminalwissenschaftliche Abhandlungen 13, Lübeck 1980.
Pfeifer, Frank-Georg: Lärmstörungen, Gutachten und Lärmlexikon, Düsseldorf 91999.
Winterhoff, Michael: Warum unsere Kinder Tyrannen werden. Oder: Die Abschaffung der Kindheit, Gütersloh 2008.
Zöller, Christa: Rockmusik als jugendliche Weltanschauung und Mythologie, Diss. Dortmund 1999 = Religion und Biogra­phie 2, Münster 2000.
Klaus_Miehling, am 13.05.2010
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