Protest in Zeiten der Coronakrise

Die derzeitigen Proteste gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie werden angeheizt durch Verschwörungstheorien.

Im Frühjahr dieses Jahres wurden in vielen Ländern von den Regierungen drastische Maßnahmen ergriffen, um die weltweite Ausbreitung der durch ein neuartiges Coronavirus verursachten Lungenkrankheit COVID-19 einzudämmen. Dadurch konnte zwar in den meisten Ländern die Zahl der Krankheitsfälle in Grenzen gehalten werden, aber gleichzeitig sind die sogenannten Kollateralschäden des Krisenmanagements beträchtlich. Hervorzuheben sind hier ein Absturz der Weltwirtschaft, wie man ihn seit der Weltwirtschaftskrise von 1929 nicht mehr erlebt hat, und eine starke Einschränkung der bürgerlichen Freiheitsrechte. Dennoch wurden die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie von den Bürgern klaglos hingenommen. In jüngster Zeit gibt es allerdings – ich möchte mich hier auf die Lage in Deutschland konzentrieren - immer mehr Proteste gegen die Einschränkungen des öffentlichen Lebens in der Coronakrise, obwohl manche Restriktionen inzwischen gelockert oder sogar aufgehoben worden sind. Im Kontext dieser Proteste werden gegen die Verantwortlichen bzw. gegen die, die man für die Verantwortlichen hält, schwere Vorwürfe erhoben, so dass hier ein erhebliches Konfliktpotenzial sichtbar wird. Ich möchte zeigen, was die protestierenden Bürger bewegt und welche Motive dem Protest zugrundeliegen könnten.

Spekulationen zu den Ursachen der Pandemie

Der Protest in Zeiten der Coronakrise wird entweder lautstark auf Demonstrationen artikuliert oder über die sozialen Medien verbreitet. Dabei zeugen allerdings die Inhalte der Proteste - das muss man leider so deutlich sagen - von Unwissen und Ignoranz bezüglich der Gefährlichkeit des Coronavirus bis hin zur Ausprägung regelrechter Wahnsysteme hinsichtlich der Ursachen der Pandemie. So wird behauptet, die durch das Coronavirus verursachte Lungenkrankheit COVID-19 sei nicht schlimmer als eine "normale Grippe", und deshalb seien die Maßnahmen, die zur Eindämmung der Pandemie ergriffen worden sind, völlig überzogen.

Wenn die Gefährlichkeit des Coronavirus anerkannt wird, wird gleichzeitig behauptet, es sei nicht zufällig durch Mutation entstanden, sondern es sei mit Absicht als Biowaffe erschaffen worden, und zwar entweder von chinesischen oder von amerikanischen Wissenschaftlern. Das Virus sei dann infolge eines "Unfalls" freigesetzt worden. Oder es wird vermutet, das Virus sei absichtlich auf die Menschheit "losgelassen worden", und zwar im Auftrag von Geheimgesellschaften, die das durch die Pandemie entstandene Chaos nutzen wollten, um eine neue autoritäre Weltordnung zu errichten.

"Oberbösewicht" Bill Gates

Mitunter ist aber nicht nur von irgendwelchen Geheimgesellschaften die Rede, sondern man "weiß" mittlerweile, wer der "Schurke" ist, der hinter den finsteren Machenschaften rund um das Coronavirus steckt, nämlich Bill Gates, der Gründer des Softwareunternehmens "Microsoft". Gates habe das Coronavirus in einem Labor erschaffen lassen und wolle sich nun an Impfstoffen gegen die Lungenkrankheit COVID-19 bereichern. Er wolle Zwangsimpfungen durchsetzen und dabei außerdem den Opfern einen winzigen Mikrochip in den Körper einpflanzen lassen, um sie zu manipulieren. Ziel sei die Errichtung einer globalen Gesundheitsdiktatur. In diesem Zusammenhang wird Gates auch noch unterstellt, er wolle aus Kindern ein Verjüngungselixier gewinnen.

Auch auf die Frage, wie Bill Gates wohl die Ausbreitung des Virus bewerkstelligt hat, gibt es mittlerweile eine "Antwort". Und zwar geht es dabei um 5G, also die fünfte Generation der drahtlosen Netzwerktechnologie, die über Mobilfunkmasten durch Funkwellen übertragen wird. Diesbezüglich wird behauptet, dass die neuen 5G-Sendemasten für die Verbreitung des Coronavirus verantwortlich seien.

Verschwörungstheorien bzw. Verschwörungsideologien

Die beschriebenen Versuche zur Erklärung der Coronapandemie kann man als Verschwörungstheorien bezeichnen. Denn bei Verschwörungstheorien wird gemeinhin davon ausgegangen, dass hinter allen Entwicklungen in der Welt ein geheimer Plan steckt, der von einer mächtigen Gruppe in böser Absicht ausgeheckt worden ist. Vielleicht sollte man sogar von Verschwörungsideologien sprechen, denn ebenso - wie es beim Glauben an eine totalitäre politische Ideologie der Fall ist - ignorieren Verschwörungsgläubige hartnäckig alle empirischen Gegenbeweise, erheben also einen absoluten Wahrheitsanspruch und besitzen ein klar benennbares Feindbild. Vor allem in Zeiten globaler Krisen finden Verschwörungstheorien bzw. Verschwörungsideologien großen Anklang. Bei der Frage nach dem "warum" gibt es allerdings keine einfachen Antworten.

Tiefere Beweggründe

Zunächst ist aus psychologischer Sicht festzustellen, dass eine globale Krise bei vielen Menschen ein starkes Gefühl von Kontrollverlust auslöst, das sie kompensieren möchten. Und dieses Wiedergewinnen von Sicherheit erreichen viele Menschen durch den Glauben, dass hinter dem Unheil eine Verschwörung steckt. Der Glaube an eine Verschwörung ist also eine Strategie, um mit Kontrollverlust umzugehen. Hintergrund ist, dass das menschliche Gehirn ständig nach Vertrautem sucht, nach Mustern, nach Gründen, nach Voraussagbarem und deshalb mit Zufällen überfordert ist, vor allem, wenn es sich um weltbewegende Ereignisse handelt.

Eine Verschwörungserzählung gibt mit anderen Worten – wenigstens vorübergehend – Halt, weil man nun zu wissen glaubt, warum etwas so Umwälzendes geschehen ist. Man kann auch sagen, dass eine bestimmte Situation nun immer noch bedrohlich sein kann, aber dank der Verschwörungstheorie zumindest nicht mehr unerklärlich ist. Nach Expertenmeinung haben eine ähnliche Funktion in der Menschheitsgeschichte auch Religionen eingenommen, so dass Verschwörungstheorien oft auch als "Ersatz-Religionen" bezeichnet werden.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass Verschwörungsgläubige davon überzeugt sind, etwas Besonderes zu sein, nämlich über die Vorgänge in der Welt "Bescheid zu wissen", während all die anderen Ignoranten sind, unfähig zu erkennen, "was gespielt wird". Gleichzeitig halten es die Verschwörungsgläubigen für ihre Pflicht, ihre Erkenntnisse nicht für sich zu behalten, sondern die Unwissenden aufzuklären, und zwar auf Demonstrationen oder – um eine größere Resonanz zu erzielen - über das Internet. So gibt es in Deutschland mittlerweile auch einige mehr oder minder prominente Persönlichkeiten wie der Vegan-Koch Attila Hildmann, die sich scheinbar zu "Volksaufklärern in Sachen Coronavirus" berufen fühlen und ihre abstrusen Botschaften über eigene Youtube-Kanäle verbreiten.

Verschwörungsmentalität

Im Extremfall besitzen Verschwörungsgläubige eine regelrechte Verschwörungsmentalität. Charakteristisch dafür ist ein grundlegendes Misstrauen gegen "die da oben", also gegen alle Personen, die einen hohen gesellschaftlichen Status und Machtpositionen besitzen, seien dies Politiker, Industrielle, Wissenschaftler oder Vertreter der offiziellen Medien. Diesen wird unisono unterstellt, dass es ihnen ausschließlich um die Durchsetzung ihrer eigenen Interessen, um ihren Profit, gehe. Für Menschen mit einer solchen Mentalität, mit einem solchen festgefahrenen Weltbild, ist alles Offizielle, was aus der Wissenschaft, den Medien oder den Behörden kommt, automatisch gelogen. Deshalb findet man bei Menschen mit einer Verschwörungsmentalität oft den Glauben an mehrere Verschwörungstheorien. So sind beispielsweise viele, die die Gefährlichkeit des Coronavirus leugnen, auch der Meinung, dass es den menschengemachten Klimawandel gar nicht gäbe.

Politischer Zündstoff

Brisant wird es, wenn sich bei Demonstrationen im Zuge der Coronapandemie unter die Protestierenden, die vielleicht nur Angst vor einer Zwangsimpfung haben, Personen mischen, bei denen sich der Glaube an Verschwörungstheorien verbindet mit politischem Extremismus, Rassismus und Antisemitismus. Einen solchen "politischen Giftcocktail", der auch Gewaltbereitschaft beinhaltet - wie Angriffe auf Fernsehteams und Polizisten bei Demonstrationen sowie das Anzünden von 5G-Sendemasten gezeigt haben - findet man jedoch nicht nur bei eher "traditionellen" Rechts- und Linksextremisten, sondern auch in Teilen der sogenannten Reichsbürgerszene.

Reichsbürger sind davon überzeugt, dass es die Bundesrepublik Deutschland als souveränen Staat gar nicht gibt. Begründet wird dies u.a. damit, dass das historische deutsche Reich 1945 nie untergegangen und Deutschland nach wie vor von den Alliierten besetzt sei. Es gebe hier weder eine gültige Verfassung noch einen Friedensvertrag. Deshalb seien die deutsche Regierung samt Parlament und das deutsche Rechtssystem illegitim. Daraus leiten die Reichsbürger für sich das Recht ab, aus der Bundesrepublik Deutschland austreten und eigene lokale "Hoheitsgebiete" errichten zu können, in denen anstelle bundesdeutscher Gesetze eigene Regeln gelten. Vor diesem Hintergrund ist es sicherlich nicht verwunderlich, dass sich Reichsbürger in der Coronakrise nicht an Regeln halten wollen, die eine ihrer Meinung nach illegitime Regierung eingeführt hat.

Die Gefährlichkeit der Protestaktionen

Die Gefährlichkeit der Protestaktionen im Zuge der Corona-Pandemie zeigt sich nicht nur bei den Angriffen auf missliebige Personen, sondern mehr noch bei den langfristigen Folgewirkungen, die die Proteste haben könnten. Dazu heißt es im "Newsletter" der Bürgerbewegung "Campact" vom 15. Mai 2020, dass die Gefahr bei diesen Protesten mitlaufe, dass viele Teilnehmer Masken verweigerten und sogar grundlegende Abstandsregeln missachteten und damit völlig unnötig sich selbst gefährdeten – aber auch ihre Familien, Polizistinnen und Polizisten sowie Krankenhauspersonal.

Zudem würden die Proteste auch die öffentliche Unterstützung für alle Schutzmaßnahmen untergraben. Zwar würde noch immer eine Mehrheit die Corona-Regeln befürworten. Aber die Zahl der Befürworter schrumpfe. Und der lauten Minderheit scheine es sogar zu gelingen, das Handeln einiger Landesregierungen zu beeinflussen. Wenn aber nicht mehr Vorsicht und Wissenschaft die Corona-Politik bestimmen würden – sondern Ideologien und Emotionen – würden bald viele Menschen in Lebensgefahr schweben.

Ich möchte hinzufügen, dass sich nach Schätzungen von Experten - wenn sich das Coronavirus ungehindert ausbreiten würde - weltweit bis zu zwei Drittel der Bevölkerung infizieren könnten. Das wären in Deutschland weit mehr als 50 Millionen Menschen. Andererseits seien - so die Experten - gerade weil die Schutzmaßnahmen in Deutschland bisher so effektiv waren, hier bis zu 100.000 Menschenleben gerettet worden.

Schlussbemerkung

Abschließend möchte ich einräumen, dass es durchaus schon Verschwörungstheorien gegeben hat, die sich als wahr erwiesen haben oder zumindest einen wahren Kern hatten. Das beste Beispiel dafür ist die Behauptung der damaligen US-Regierung, das Regime im Irak unter der Führung Saddam Husseins besitze Massenvernichtungswaffen. Später stellte sich nämlich heraus, dass diese Waffen gar nicht existierten, dass es hier also wirklich eine Verschwörung gegeben hatte, um den Krieg gegen den Irak rechtfertigen zu können.

Aber könnte man wirklich in Analogie dazu argumentieren, die derzeitige Bundesregierung übertreibe die Gefährlichkeit des Coronavirus, um die Einschränkung der Bürgerrechte rechtfertigen zu können? Ich glaube, jeder, der nicht völlig verblendet ist, wird diese Frage verneinen. Denn während damals alle angeblichen Beweise für die Existenz der Massenvernichtungswaffen frei erfunden waren, spricht heute die derzeitige Zahl von rund 360.000 Corona-Toten weltweit, darunter 100.000 alleine in den USA, eine deutliche Sprache.

Noch eine Bemerkung zum angeblichen "Oberbösewicht" Bill Gates: Wenn dieser wirklich der Urheber des Coronavirus wäre und mit einem Impfstoff "das große Geld" machen wollte, dann hätte er mit der Freisetzung des Virus gewartet, bis es tatsächlich einen Impfstoff gibt. – Und das ist ja bekanntlich bis heute nicht der Fall.

Quellennachweis:

https://www.lpb-bw.de/verschwoerungstheorien

https://www.suedtirolnews.it/chronik/coronavirus-das-sind-die-verruecktesten-verschwoerungstheorien

https://www1.wdr.de/nachrichten/themen/coronavirus/interview-verschwoerungstheoretiker-katharina-nocun-100.html

https://www.tagesspiegel.de/politik/die-pandemie-ist-ein-paradebeispiel-fuer-kontrollverlust-eine-psychologin-erklaert-das-steckt-hinter-den-corona-verschwoerungstheorien/25757012.html

Bildnachweis:

geralt/pixabay.com

Felizitas, am 01.06.2020