Kapitel I – Postwachstum und die Kraft der Utopie

Im ersten Kapitel ihres Buchs macht Muraca deutlich, dass die Vision einer Postwachstumsgesellschaft tatsächlich die Funktionen erfüllt, die einer Utopie gemeinhin zukommen, nämlich die Hoffnung auf ein besseres Leben für alle Menschen zu vermitteln und damit Trost zu spenden, die herrschende Gesellschaftsordnung aus einer externen Perspektive zu kritisieren sowie durch die Darstellung einer Alternative die Sehnsucht nach Veränderung der Gesellschaft auszulösen und deren Realisierbarkeit aufzuzeigen. Gleichzeitig verweist sie – vor dem Hintergrund, dass sich in der Geschichte viele utopische Gegenprogramme als totalitäre Maschinerie entpuppt haben – auf die "Risiken und Nebenwirkungen utopischen Denkens" wie die Unterteilung der Mitmenschen in Freunde und Feinde, die Verabsolutierung der neuen anvisierten Gesellschaftsordnung zu Lasten der einzelnen Gesellschaftsmitglieder sowie die Gefahr des Machtmissbrauchs durch die Protagonisten der gesellschaftlichen Umwälzung. Dennoch ist für Muraca Utopie in ihrer Transformationsfunktion unverzichtbar, und das heißt, in ihrer Gestalt als konkrete Utopie, bei der überprüft werden kann, ob und inwieweit sie wünschenswert, lebensfähig und umsetzbar ist.

Kapitel II – Wachstumskritik: Kurzgeschichte einer Bewegung

Im zweiten Kapitel beschreibt Muraca die Ursprünge des Begriffs "Décroissance", und der Leser erfährt, wie sich die Idee der Décroissance von Frankreich aus auf weitere Länder, ausgebreitet und letztlich weltweite Beachtung gefunden hat, wobei diese Idee vor allem in Frankreich, Italien und Spanien zu einem Anliegen verschiedener politischer Gruppierungen, aber auch zu einem Thema der wissenschaftlichen Forschung geworden ist.

Muraca verweist hier auf die Sonderrolle Deutschlands, wo der Postwachstumsdiskurs in seiner französischen und südeuropäischen Gestalt erst seit ein paar Jahren geführt wird, wo aber andererseits die Auseinandersetzung mit vielen der Fragen, die die Décroissance-Bewegung in anderen Ländern aufwirft, eine sehr lange Tradition in der wissenschaftlichen Forschung, im Engagement zahlreicher gesellschaftlicher Gruppen und auf politischen Steuerungsebenen hat. Muraca nennt hier jeweils die wichtigsten Akteure.

Kapitel III – Inspiration für eine Postwachstumsgesellschaft: Entwürfe einer konkreten Utopie

In Kapitel III beschreibt Muraca zunächst einige wesentliche Inspirationsquellen der Décroissance. Diese sind:

  • die ökonomische und ökologische Wachstumskritik. Für Muraca bilden das wachsende Bewusstsein hinsichtlich der ökologischen Krise und die Auseinandersetzung mit den ökologischen Grenzen des Wachstums sicherlich die stärkste Inspiration für die Postwachstumsbewegung;
  • die Kritik an dem westlichen Entwicklungsmodell aus der Perspektive des sogenannten globalen Südens. Hier geht es um den Postdevelopment-Diskurs, in dessen Kontext vor allem von den indigenen Bevölkerungen Boliviens und Ecuadors das Konzept des Buen Vivir entwickelt worden ist;
  • die französische Tradition der politischen Ökologie und deren Vorstellung von Autonomie und Freiheit. Und zwar werden Autonomie und Freiheit hier als ein kollektives Projekt der kreativen Selbstgestaltung der Gesellschaft begriffen.

Zwei Visionen einer Postwachstumsgesellschaft:

Im zweiten Teil von Kapitel III stellt Muraca zwei wichtige Beiträge zur Vision einer Postwachstumsgesellschaft vor, nämlich den des französischen Ökonomen und Philosophen Serge Latouche - der als Vater der französischen Anti-Wachstums-Bewegung gilt - und den des deutschen Ökonomen Nico Paech.

Und zwar begreift Serge Latouche Décroissance als Befreiung von der Wachstumssucht. Latouche zufolge müssten wir uns also von der alles durchdringenden Wachstumslogik wie von einer Sucht mühsam befreien, und zwar - wie er vorschlägt - durch ein Zehnpunkte-Programm, bestehend aus verschiedenen ökodemokratischen Projekten, das langfristig auf eine radikale gesellschaftliche Veränderung hin zu einer "autonomen" Gesellschaft abzielt.

Von Nico Paech stammt das Konzept einer Postwachstumsökonomie, einer sogenannten "Ökonomie der Nähe", die der Fremdversorgung entgegenwirkt und Regionen weitgehend unabhängig von langen, globalen Produktionsketten macht. Hinzu kommt eine generelle Reduzierung der Nutzung materieller Leistungen, die durch einfachere und genügsamere Lebensstile von jedem einzelnen Individuum als Ziel verfolgt wird.

Für Muraca sind – so ihre Bewertung dieser Denkansätze - Latouches Décroissance-Gesellschaft und Paechs Postwachstumsökonomie ohne Zweifel konkrete Utopien. Während Paech aber die notwendigen Veränderungen eher als Leistungen der einzelnen Individuen betrachtet, betont ihrer Meinung nach Latouche stärker kollektive Formen der gesellschaftlichen Umgestaltung. Latouches Forderungen erschienen deshalb eher abstrakt und nur schwer zu erfüllen, während Paechs Modell viel detaillierter und einfacher umsetzbar erscheine. Aber diese Stärke werde wiederum zur Schwäche, weil hier die gesellschaftliche Ebene weitgehend ausgeblendet werde. Insgesamt geben aber ihrer Meinung nach beide Modelle wichtige Denkanstöße und könnten bereits in der Gegenwart notwendige gesellschaftliche Veränderungen initiieren.

Kapitel IV – Postwachstumsvisionen auf dem Irrweg

Im ersten Teil von Kapitel IV beschreibt Muraca Projekte einer Postwachstumsgesellschaft, bei denen – wie sie betont - der emanzipatorische und demokratische Anspruch des Postwachstumsdiskurses verfehlt oder sogar in sein Gegenteil verkehrt werde.

Zunächst analysiert sie das von dem Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel entwickelte sogenannte Exit-Modell, wobei unter Exit der Ausweg aus der Krise zu verstehen ist, die durch das Ende des Wachstums ausgelöst wird. In diesem Zusammenhang propagiert Miegel eine Rückbesinnung auf traditionelle Wertvorstellungen, auf "alte Tugenden", um die nach dem Ende des Wachstums angeblich zu erwartenden Wohlstandsverluste zu bewältigen, wobei diese für Miegel vor allem aus dem Abbau der Sozialleistungen resultieren. Für Muraca ist deshalb das Exit-Modell keine Utopie mit dem Ziel der Schaffung einer alternativen, gerechteren und lebenswerteren Gesellschaft, sondern eher ein Notprogramm zur Wiederherstellung alter patriarchalischer Werte und Lebensformen. Man könne auch von einer Wiederbelebung des alten neoliberalen Programms der Zerschlagung des Wohlfahrtsstaates oder - noch genauer - von einem Refeudalisierungs- und Entsolidarisierungsprojekt unter dem Mantel des Postwachstums sprechen.

Ein anderes – besonders brisantes - Negativbeispiel ist für Muraca die Usurpierung des Postwachstumsdiskurses durch die Neue Rechte in Frankreich und ihren Vordenker Alain De Benoist. Und zwar verfolge die Neue Rechte die Strategie, rechtspopulistische Inhalte indirekt zu formulieren und zu tarnen, so dass sie nicht als direkte politische Botschaften erkannt würden und somit keinen unmittelbaren Widerstand hervorriefen. Dabei würden die Akteure der Neuen Rechten an bestehende Diskurse anknüpfen, diese regelrecht infiltrieren und sich dann für eigene Zwecke zunutze machen. Die Unterschiede zwischen einer emanzipatorischen, solidarischen und demokratischen Postwachstumsvision und ihrer rechtspopulistischen Halbschwester würden so gezielt vertuscht.

Mögliche Missverständnisse und ihre Folgen

Im zweiten Teil von Kapitel V beschäftigt sich Muraca mit dem Problem, dass einige Leitgedanken der Postwachstumsvision unabsichtlich missverstanden werden könnten. So ist ja ein zentrales Thema der Décroissance die Dezentralisierung von Produktion, Selbstversorgung und –verwaltung und damit die Rückbesinnung auf das Lokale als Basis der Transformation. Dieses könnte jedoch – wie Muraca betont– zu einer gefährlichen Abschottung lokaler Gemeinschaften und zu einem Rückfall in traditionelle, vorindustriell geprägte Formen des Gemeinschaftslebens führen. Relokalisierung als eine konkrete Utopie, die emanzipatorisch und nicht diskriminierend ist, bedürfe daher der Kooperation, Koordination und Vernetzung zwischen den lokalen, sich selbst organisierenden Gemeinschaften.

Kapitel V – Gut leben: Grundpfeiler für eine gerechte, solidarische und demokratische Postwachstumsgesellschaft

In Kapitel V beschreibt Muraca noch einmal die wichtigsten Voraussetzungen für das gute Leben in einer Postwachstumsgesellschaft. Diese sind:

  • die Ersetzung von Wettbewerb durch Kooperation in allen gesellschaftlichen Bereichen;
  • die Umverteilung materieller Ressourcen mit dem Ziel der Reduzierung sozialer Ungleichheit;
  • die Abschaffung der traditionellen Aufteilung zwischen Stadt und Land sowie zwischen Produktion und Konsum;
  • die Neuverteilung von Arbeit und Zeit, also die Überwindung der Teilung der Arbeit in sogenannte produktive und reproduktive Tätigkeiten sowie der Aufteilung der Zeit in Arbeitszeit und Lebenszeit;
  • die Absage an jede Form der Abschottung nach außen;
  • der Aufbau einer Ökonomie, die nicht von Profitsteigerung und der Schaffung neuer Arbeitsplätze getrieben ist, sondern im Dienst der Befriedigung individueller und gesellschaftlicher Bedürfnisse steht (solidarische Ökonomie);
  • die demokratische Kontrolle der Wirtschaft (Wirtschaftsdemokratie);
  • die aktive und kreative Beteiligung aller Gesellschaftsmitglieder an der Gestaltung des guten Lebens für alle (gelebte und offene Demokratie).

Bewertung

Indem Muraca, anknüpfend an den Décroissancediskurs, die konkrete Utopie einer gerechten, solidarischen und demokratischen Postwachstumsgesellschaft beschreibt, bricht sie – und das ist für mich das größte Verdienst ihres Buchs – mit zwei Dogmen. So räumt sie zum einen mit der Vorstellung auf, dass nur durch permanentes Wirtschaftswachstum ein gutes Leben für möglichst viele Menschen möglich sei. Zum anderen liefert sie durch das Aufzeigen etlicher Initiativen und Projekte, in denen die Grundsätze der Décroissance bereits angewendet werden, den Beweis dafür, dass von einer utopischen Vision initiierte Prozesse der Gesellschaftsveränderung nicht automatisch scheitern müssen. Sie rehabilitiert damit nicht nur das utopische Denken, sondern macht darüber hinaus deutlich, dass es ohne das Entwerfen von konkreten Utopien, also von Utopien, die bestimmte "Qualitätsstandards" erfüllen, keinen gesellschaftlichen Fortschritt geben kann.

Dabei ist sie sich des Ausmaßes der Gesellschaftsveränderung, das die Verwirklichung der Postwachstumsgesellschaft bedeuten würde, bewusst und erwartet auf dem Weg dahin schwere Konflikte und heftige Auseinandersetzungen, bei denen es nicht nur, aber auch um Machtfragen geht, so dass die anvisierten Veränderungen wohl nur langfristig zu erreichen sein werden. Nicht von ungefähr greift sie am Anfang des ersten Kapitels die von der österreichischen Ethnologin und Soziologin Veronica Bennholdt-Thomsen auf der dritten internationalen Degrowth-Konferenz in Venedig im September 2012 vorgestellte Vision eines versöhnten Planeten auf, die im Jahr 2099 (!!!) spielt und in der es der Menschheit - inspiriert vom lateinamerikanischen Konzept des Buen Vivir - gelungen ist, die Welt von den Geißeln der Armut, der Umweltzerstörung und des Krieges zu befreien.

Autor seit 11 Jahren
163 Seiten
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