(Bild: C.H.Beck)

I. Einleitung – Kann man heute noch liberal sein wollen?

In der Einleitung beschreibt die Autorin den Grundansatz ihres Buchs. Und zwar möchte sie ein Verständnis von Liberalismus, der politischen Basis der Vorstellung von Freiheit, entwickeln, das der heutigen Welt gerecht wird. Entsprechend hat sie ihrem Buch den Untertitel "Plädoyer für einen zeitgemäßen Liberalismus" gegeben. Sie spricht hier aber auch von einem "komplexen Liberalismus".

Dabei geht es zum einen um den Zusammenhang zwischen einem komplexen Liberalismus und der wirtschaftlichen Ordnung einer Gesellschaft, was grundsätzliche Fragen nach dem Sinn und Zweck der Wirtschaftsordnung aufwirft. Zum anderen geht es hier um die Forderung nach Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung für alle Individuen, also um individuelle Freiheit, sowie um die Frage, wie die Individuen ihr Recht auf ein selbstbestimmtes Leben im menschlichen Zusammenleben durchsetzen können, also um die soziale Dimension von Freiheit, die Freiheit der Menschen als soziale Wesen.

Aus der Verbindung beider Komplexe ergibt sich für die Autorin das Ziel einer "liberalen" Wirtschaftspolitik, nämlich Märkte so zu gestalten, dass sie wirkliche Freiheit, und zwar tatsächlich für alle Mitglieder einer Gesellschaft, unterstützen. Um dieses Ziel zu erreichen, sind ihrer Meinung nach Änderungen von derzeit vorherrschenden Vorstellungen und Institutionen notwendig, aber es müssten auch die individuellen Vorbedingungen und konkreten Möglichkeiten dafür geschaffen werden, dass Menschen wirklich ein freies Leben führen können. Mit ihrem Buch will die Autorin einen Beitrag zur Verwirklichung dieser Vision leisten.

II. "Liberalismus ohne Psychologie – Wie ein einseitiges Menschenbild den Liberalismus unfreiwillig herzlos machte

Im zweiten Kapitel zeigt die Autorin, dass die Vorstellung vom selbstbestimmten Menschen und von der Gleichheit aller Menschen als selbstbestimmte Wesen in den liberalen Theorien des Herrschaftsvertrags wurzelt, die ursprünglich gegen das traditionelle hierarchische Denken in Stellung gebracht wurden. Leider werde oft die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit übersehen, und damit die Tatsache, dass es bestimmte Voraussetzungen für ein freies, selbstbestimmtes Leben gibt, dass diese Voraussetzungen nicht gleich verteilt und nicht für alle Menschen gleich zugänglich sind. Da der Liberalismus das ignoriert habe, sei er zu einer herzlosen Angelegenheit geworden. Denn hier herrsche nun die Vorstellung vor: "Jeder ist seines Glückes Schmid", womit gemeint sei: "Wem es nicht gut geht, ist selber schuld".

De facto ist bei einer solchen Sichtweise der Autorin zufolge das Ideal des freien, selbstbestimmten Menschen durch das Denkmodell des seinen Nutzen maximierenden "Homo Oeconomicus" ersetzt worden, das zudem fälschlicherweise mit einem "realistischen Menschenbild" verwechselt worden sei, wobei der Altruismus des Menschen unterschätzt, seine Fähigkeit, für sich selbst zu sorgen, dagegen überschätzt werde. Die Autorin folgert daraus,dass ein zeitgemäßer Liberalismus nicht einfach postulieren kann,dass Menschen in der Lage sind, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, dass sich ihm vielmehr die Aufgabe stellt, im Rahmen des Möglichen dafür zu sorgen, dass es so ist. Ein zeitgemäßer Liberalismus müsse also davon ausgehen, dass die Fähigkeit zu einem selbstbestimmten Leben erst entwickelt werden muss.

III. Liberalismus ohne Gerechtigkeit – Wie "soziale Gerechtigkeit" zum Unwort wurde, und was sie heute bedeuten könnte

In diesem Kapitel wendet sich die Autorin gegen die Gleichsetzung von staatlicher Aktivität mit Zwang und von wirtschaftlicher Aktivität mit Freiheit, wie es im "alten Liberalismus" typisch gewesen sei, der im Staat tendenziell einen Feind der Freiheit sah. Demgegenüber ist ihrer Meinung nach für einen komplexen Liberalismus auch der ungezügelte Markt ein potenzieller Feind von Freiheit..Die größte Gefahr für die Rechte der Einzelnen aber ist für die Autorin enorme wirtschaftliche Ungleichheit.

Grundsätzlich betrachtet ihrer Meinung nach der "neue Liberalismus" weder den Markt noch den Staat als grundsätzlich freiheitsfördernd oder freiheitszerstörend. Es komme darauf an, die richtige Balance von Institutionen zu finden, so dass alle Individuen ein möglichst großes "Bündel" an Freiheiten haben. Das ist für sie gleichbedeutend mit sozialer Gerechtigkeit. Im Einzelnen unterscheidet sie hier zwischen einer "negativen Freiheit" im Sinne von Abwehrrechten gegen den Staat, die den Bürgern Freiräume für eigenes Handeln sichert, einer "positiven Freiheit" im Sinne der Fähigkeiten und Möglichkeiten und damit auch der materiellen Grundlagen, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, und einer "republikanischen Freiheit" im Sinne von politischen Gestaltungsmöglichkeiten.

IV. Liberalismus ohne Komplexität – Wie der Liberalismus soziale Strukturen vernachlässigte

In diesem Kapitel möchte die Autorin das Bild einer freiheitlichen Gesellschaft um einige Dimensionen erweitern, die sich aus den zwischenmenschlichen Beziehungen und damit aus der sozialen Natur des Menschen ergeben. Sie will hier mit anderen Worten der Frage nachgehen, wie freiheitliche Gesellschaften ihren Zusammenhalt organisieren.

Wie sie zeigt, spielen in diesem Zusammenhang soziale Normen und Werte eine wichtige Rolle, wobei vor allem Institutionen, die nicht zum Markt gehören, für den Aufbau dieses "moralischen Kitts" einer Gesellschaft zuständig seien. Gleichwohl komme Märkten mit ihrer Fähigkeit zu dezentraler, flexibler Entscheidungsfindung für den Zusammenhalt der Gesellschaft eine besondere Bedeutung zu. Aber auch Regeln und Anreize seien unerlässliche Mittel, um die Ordnung und das Gemeinwohl einer liberalen Gesellschaft zu sichern.

Noch wichtiger sei jedoch eine Haltung, bei der die Individuen Gesetze und Regeln nicht als etwas von außen Gegebenes betrachten, sondern diese selbst mittragen und sich dafür verantwortlich fühlen, dass sie gelebt werden. Die Autorin spricht in diesem Zusammenhang vom Begriff des "Ethos", und sie betont, dass Ethos und Moral entgegen anders lautenden Mythen, die bestimmte ökonomische Theorien in die Welt gesetzt haben, auch in Märkten einen Platz haben. Denn Moral stehe nicht in grundsätzlicher Spannung zur Verfolgung von Eigeninteresse, sondern beschreibe, wie man sein Eigeninteresse verfolgt.

Abschließend geht die Autorin in diesem Kapitel auf das Problem der ungleichen Verteilung von Macht ein, aus der sich Ungerechtigkeiten ergäben, die ein zeitgemäßer Liberalismus nicht vernachlässigen dürfe.

V. Liberalismus ohne Endlichkeit – Wie der Liberalismus die Umwelt vergaß, und warum ein Umsteuern uns zufriedener macht

In diesem Kapitel setzt sich die Autorin damit auseinander, dass im liberalen Denken Freiheit über lange Zeit hinweg auch hieß: Freiheit zu einem "Immer-mehr", also zu einem materiellen Wachstum, wobei nach dessen tieferem Sinn und dessen Vereinbarkeit mit den natürlichen Grundlagen menschlichen Lebens kaum gefragt wurde. Deshalb muss ihrer Meinung nach liberales Denken auch ergänzt werden um die Frage danach, wie unsere Wirtschafts- und Lebensformen auf einen nachhaltigen Pfad gelenkt werden können.

Zweitens müsse offengelegt werden, was Menschen motiviert und was sie als die Sinndimensionen ihres Lebens empfinden. Es müsse mit anderen Worten gefragt werden, wie die Arbeitswelt im Hinblick auf ein möglichst selbstbestimmtes Leben der Einzelnen gestaltet werden sollte. Drittens müsse aber auch die Frage aufgeworfen werden, wie es mit der Freiheit in anderen Teilen der Welt berstellt ist, Liberales Denken müsse also Freiheit auch aus einer globalen Perspektive betrachten.

VI. Schluss: Unterwegs zu einem zeitgemäßen Liberalismus

Für die Autorin gibt es, wie sie im Schlusskapitel betont, zwar keine wünschenswerte Alternative zum liberal-kapitalistischen System, aber das bedeutet ihrer Meinung nach nicht, dass eine liberale Gesellschaft nicht anders gestaltet werden könnte. Das betreffe vor allem, wie sie hier noch einmal betont, das Geschehen in den Märkten. Wir bräuchten die Orientierung an einer Vision von Märkten, in denen es um echte Win-win-Situationen geht – und nicht darum, die Natur gnadenlos auszubeuten, die Schwächen anderer auszunutzen und die langfristigen Grundlagen des sozialen Zusammenlebens zu unterminieren.

Für die Autorin wäre dies zwar kein Umsturz, aber eine Weiterentwicklung des Systems, die einer Revolution gleichkäme. Sie setzt in diesem Zusammenhang große Hoffnung auf die neue Generation hochqualifizierter Arbeitnehmer, die scheinbar andere Präferenzen haben als ihre Eltern und Großeltern, denen mit anderen Worten ein gelungenes Leben und nachhaltiger Konsum wichtiger sind als reines Geldverdienen, wobei diese Generation aufgrund ihrer geringeren Größe eine starke Position auf dem Arbeitsmarkt habe. Was wäre, sei hier zu fragen, wenn diese Generation sich weigern würde, sich einfach vom System treiben zu lassen, sondern stattdessen das System dahin treiben würde, sich zu ändern? Ferner setzt die Autorin hier Hoffnung auf diejenigen "Kapitalisten", die es ernst meinen mit einer nachhaltigen Wertschöpfung, die der Gesellschaft einen echten Mehrwert bietet.

Findet bei allen Beteiligten ein solches Umdenken statt, kann nach Ansicht der Autorin auch der vielgefürchtete Wettbewerb in den Dienst einer guten Sache gestellt werden, dann nämlich,wenn es ein Wettbewerb darum ist, die besten Lösungen zu finden, um die Erde am nachhaltigsten zu bewirtschaften und die fairsten Lebens- und Arbeitsbedingungen zu schaffen. Die Autorin schließt mit den Worten:"Den Liberalismus, mitsamt seiner Wirtschaftsordnung, dorthin weiterzuentwickeln, wo wir ihn haben wollen – in Bezug auf die Verträglichkeit mit einer Welt endlicher natürlicher Ressourcen, die Freiheit der Einzelnen und eine Form von Globalisierung, die auf Gemeinschaft anstelle von Ausbeutung setzt - auch das ist eine Form der Selbstbestimmung. Es ist die Aufgabe für den Liberalismus des 21. Jahrhunderts."

Bewertung

Mit ihrem Konzept eines komplexen Liberalismus macht die Autorin deutlich, dass Freiheit und ein selbstbestimmtes Leben für möglichst viele Menschen nicht einfach "vom Himmel fallen", sondern bestimmte gesellschaftlicher Bedingungen voraussetzen, insbesondere annähernd gleiche Lebenschancen. Wie wichtig diese Analyse ist, zeigen Daten über die tatsächlich bestehende soziale Ungleichheit in Deutschland. So ist laut einem Bericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Deutschland die soziale Ungleichheit besonders groß.

Das heißt: In Deutschland besitzen zehn Prozent der Bevölkerung knapp 55 Prozent des gesamten Nettovermögens. Man kann auch sagen: Ein Prozent der Deutschen besitzt ein Drittel des vorhandenen Vermögens. Oder: Die 45 vermögendsten Haushalte besitzen so viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung. Damit ist das Vermögen in Deutschland stärker konzentriert als in fast allen anderen Euro-Ländern. Ferner zahlen die deutschen Superreichen im europäischen Vergleich extrem wenig Steuern. Berücksichtigt man in diesem Zusammenhang die Erkenntnisse der Autorin, werden in Deutschland aufgrund der großen sozialen Ungleichheit viele Menschen in einem erheblichen Ausmaß um Lebenschancen betrogen.

Umso bedenklicher ist es, wenn der Versuch des derzeitigen Finanzministers Olaf Scholz von der SPD, die 1997 abgeschaffte Vermögenssteuer für die Superreichen wieder einzuführen, von einem geheimen Parteienbündnis, bestehend aus CDU, FDP und AfD, rigoros abgeschmettert wird. Anscheinend haben Politiker dieser Couleur eine Vorstellung von Freiheit, die sich am Freiheitsbegriff des alten Liberalismus orientiert und, wie dies die Autorin ausdrückt, eher eine zynische Maske für den Erhalt bestehender Machtverhältnisse darstellt.

Demgegenüber besaßen, wie ich hier abschließend anmerken möchte, die Deutschen in der ehemaligen DDR, die im Namen der Freiheit die Revolution wagten, ein umfassendes Verständnis von Freiheit, wie es die Autorin dargelegt hat. Denn sie glaubten offensichtlich, dass die politischen Freiheiten, die sie erkämpft hatten, nun zu der großzügigen sozialen Absicherung, die sie in der DDR genossen hatten, hinzukommen würden. Dass sie offensichtlich nicht wussten, dass dies damals nur ein schöner Traum war und sie in einer knallharten kapitalistischen Wirklichkeit aufwachen würden, kann man nicht ihnen zum Vorwurf machen.

Autor seit 11 Jahren
163 Seiten
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