Die grundlegende Fragestellung

Ausgangspunkt des Konzepts der Salutogenese ist die Frage, wie eigentlich aus Chaos Ordnung entsteht, wie also aus der scheinbar chaotischen Unendlichkeit biochemischer Möglichkeiten und Vorgänge die so hohe dynamische und komplexe Regulation unseres Organismus entsteht. Die Salutogenese geht mit anderen Worten von der Frage aus, wie Lebewesen es schaffen, sich aus dem Chaos entgegen den physikalischen Gesetzen der Entropie (Entropie verstanden als Unordnung) komplex und gesund zu organisieren.

Konkret kann man sagen, dass die Salutogenese eine Antwort auf die Frage sucht, wie Menschen trotz Belastungen und Stress gesund bleiben bzw. welche Mittel (Ressourcen) einer Person zur Verfügung stehen bzw. sich aktivieren lassen, um mit Stress fertig zu werden, Belastungen zu ertragen und die eigene Gesundheit zu erhalten, wiederherzustellen oder auch gar nicht erst krank zu werden. Unmittelbarer Anlass für diese Fragestellung war für Antonowsky die Beobachtung, dass manche Menschen trotz vieler potenziell gesundheitsgefährdender Einflüsse gesund bleiben oder es schaffen, sich von schwersten Erkrankungen oder extremen Belastungen wieder zu erholen, wie es z.B. bei ehemaligen KZ-Insassen der Fall war. Diese erschienen als geradezu unverwundbar, als – um ein Bonmot von Antonowsky aufzugreifen – "perfekte Schwimmer im Strom des Lebens".

Zur Bedeutung des Kohärenzgefühls

Von zentraler Bedeutung für die Entstehung von Gesundheit ist für Antonovsky ein "Sense of Coherence" (SOC), ein Kohärenzgefühl, das man als ein fundamentales Gefühl des Vertrauens, aber auch als eine tiefe innere Zufriedenheit mit sich selbst und anderen beschreiben kann. Und zwar beruht das Kohärenzgefühl auf drei Komponenten und damit auf drei Quellen des Vertrauens, nämlich

  • auf der Fähigkeit, zwischen den Geschehnissen, die das Leben bereithält, Zusammenhänge herzustellen, also zu verstehen, warum sie sich ereignen;
  • auf der Fähigkeit, mit diesen Geschehnissen umzugehen, sie also zu bewältigen;
  • auf der Überzeugung, dass alle Geschehnisse einen Sinn bzw. eine Bedeutung haben.

Es hängt davon ab, wie stark diese Eigenschaften ausgeprägt sind, wie stark wir also die Geschehnisse, die sich im Leben ereignen, verstehen und bewältigen können und sie als sinnhaft empfinden, ob wir mit Krisen, Stress oder auch einer Erkrankung gut oder weniger gut umgehen können. Die Stärke unseres Kohärenzgefühls und damit unser Gesundheitszustand sind also Resultat unserer Fähigkeit, die Welt als verstehbar, handhabbar und sinnhaft zu erleben. Und zwar ermöglicht uns ein starkes Kohärenzgefühl, in einer belastenden Lebenssituation adäquate Widerstandsreserven zu mobilisieren wie Wissen und Intelligenz, Flexibilität und Weitsichtigkeit beim Lösen von Problemen sowie Optimismus und Selbstwirksamkeitserwartung. (S. dazu meinen Artikel: https://pagewizz.com/selbstwirksamkeitserwartung-ein-erfolgsrezept-30966/)

 

Konkret entsteht das Kohärenzgefühl mit seinen drei Komponenten durch Beziehungen, durch zwischenmenschliche Kommunikation. Kommunikation ist also das entscheidende Instrument zur Anregung bzw. Erzeugung des Kohärenzgefühls. Man könnte auch sagen: Das Kohärenzgefühl entsteht dadurch, dass unser Bedürfnis nach Zugehörigkeit befriedigt wird. Wenn wir uns zugehörig fühlen, können wir die Welt um uns herum verstehen und das, was uns widerfährt, bewältigen sowie mit Sinn verbinden. Dabei ist das Streben nach Kohärenz vermutlich angeboren und kann als das grundlegende Lebensprinzip betrachtet werden, das dafür sorgt, dass aus Chaos Ordnung entsteht.

Zum Verhältnis von Gesundheit und Krankheit

Das Konzept der Salutogenese versucht die Zweiteilung, die Dichotomie, von Gesundheit und Krankheit zu überwinden. Demnach gibt es ein Gesundheits-Krankheits-Kontinuum, auf dem sich jeder bewegt. Folglich ist jeder nicht entweder gesund oder krank, sondern jeder befindet sich immer in einem Prozess, der sowohl Krankheit als auch Gesundheit umfasst, wobei es im Leben immer Phasen gibt, in denen entweder Krankheit oder Gesundheit überwiegt, in denen man sich also auf dem Kontinuum mehr in Richtung Krankheit oder mehr in Richtung Gesundheit bewegt. Bei dieser Sichtweise wird auch gefragt, welche Bedeutung einer Erkrankung im Lebenskontext eines Menschen zukommen könnte. Für die Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung von Gesundheit ist folglich nicht die Abwesenheit von Krankheit maßgeblich, sondern die Beherrschung und Kompensierung vorhandener Krankheitstendenzen.

Salutogenese und Pathogenese

Salutogenese kann als Gegenstück zur Pathogenese, die die Entstehung von Krankheit beschreibt, betrachtet werden. Das heißt: Die Pathogenese schaut auf die Krankheiten und die Folgen, die es abzuwenden oder zu bekämpfen gilt, betont also Vermeidungsziele, während die Salutogenese erstrebenswerte Gesundheitsziele wie Wohlbefinden und Fitness im Blick hat, zu deren Erreichung möglichst viele Ressourcen erschlossen werden sollen. Während also die Pathogenese fixiert ist auf die Suche nach Negativem, nach Defiziten, Störungen und Blockaden, die es zu beseitigen gilt – was auch als Defizit- und Pathologieorientierung bezeichnet werden kann -, richtet sich der Blick der Soziogenese primär auf Positives, nämlich auf Stärken, Eigenschaften und Fähigkeiten, die es auszubauen und zu unterstützen gilt, sowie auf psycho-soziale Faktoren, die Gesundheit fördern. Die Salutogenese ist folglich ganzheitlich orientiert.

Aber auch hier gibt es kein "Entweder-Oder", sondern beide Konzeptionen sind erforderlich. Das heißt: Für die meisten akuten Erkrankungen ist der Ansatz der Pathogenese sehr geeignet. Bei chronischen Erkrankungen, den sogenannten Zivilisationskrankheiten, bei Burnout, Depression und in vielen Krisensituationen reicht er jedoch nicht aus. Hier bedarf es des Ansatzes der Salutogenese. Man könnte auch sagen: Bei vielen Erkrankungen schafft die Pathogenese erst die Voraussetzungen zum Überleben. Zur Gesundung, zum Erwerb der Fähigkeit, gesund leben zu können, brauchen wir aber die Salutogenese. Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Bei einer salutogenetischen Orientierung wird Menschen, die an Übergewicht und dadurch versursachten Erkrankungen leiden, nicht eine strenge Diät verordnet, sondern sie werden zu Aktivitäten angeleitet, die sie gut beherrschen und die ihnen deshalb Spaß machen. Ihre gesundheitlichen Probleme lösen sich dadurch oft von alleine.

In diesem Zusammenhang sind auch Untersuchungsergebnisse wichtig, denen zufolge selbst in den hochentwickelten Industrienationen große Teile der Bevölkerung als krank eingestuft werden müssen. Nicht Krankheit, sondern Gesundheit stellt hier die Abweichung von der Norm dar. Die Pathogenese – die ja die Basis der Schul-Medizin und unseres westlichen Gesundheitssystems ist - bedarf also dringend der Ergänzung durch die Salutogenese.

Die Fähigkeit des Menschen zur Selbstbehandlung und Selbstheilung

Wenn man davon ausgeht, dass es das Ziel der Salutogenese ist, den Menschen Mut zu machen, ihr Selbstvertrauen zu stärken und sie damit in die Lage zu versetzen, Erkrankungen als Herausforderungen zu betrachten, die sie meistern und an denen sie möglicherweise noch wachsen können, dann wird damit dem Menschen in letzter Konsequenz die Fähigkeit zur Selbstbehandlung und Selbstheilung zugeschrieben. Das heißt: Der Mensch wird hier nicht als – hilfloses - Objekt von medizinischer Manipulation und Machbarkeit gesehen, sondern als ein sich letztlich selbst regulierendes System. Und das bedeutet für den Einzelnen, für die eigene Gesunderhaltung mehr Verantwortung zu übernehmen und sich selbst aktiv um die eigene Gesunderhaltung zu kümmern.

Andererseits kann dieser Appell an den Einzelnen, für seine Gesunderhaltung selbst Verantwortung zu übernehmen, auch so gelesen werden, dass der Einzelne es tatsächlich in hohen Maße selbst in der Hand hat, ob er krank wird oder gesund bleibt. Und zwar kann jeder selbst seine Gesundheit fördern, indem er seine physischen und psychischen Stärken systematisch trainiert und sich vor allem bemüht, eine zuversichtliche aktive Grundhaltung gegenüber der Welt einzunehmen.

Die Basis dafür ist, wie gezeigt, das Kohärenzgefühl. Und auch hier gibt es eine gute Nachricht. Das heißt: Während Antonowsky das Kohärenzgefühl als eine Gesundheitsressource ansah, die vor allem in der frühen Kindheit erworben wird und nach dem 30. Lebensjahr nicht mehr positiv zu beeinflussen sei, sind Experten inzwischen der Meinung, dass das Kohärenzgefühl auch im fortgeschrittenen Lebensalter noch zum Positiven hin verändert werden kann, und zwar durch Aufbau von sozialen Bindungen und Kontakten sowie durch Bemühungen, sich persönlich weiterzuentwickeln. Die Stärkung des Kohärenzgefühls erfordert also eine Veränderung der Lebenssituation, aber oft auch eine Veränderung des Lebensstils. Hier geht es z.B. um das Verhältnis von beruflicher Tätigkeit und Freizeitaktivitäten, von Anspannung und Entspannung.

Fazit

Wesentlich für das Konzept der Salutogenese und dessen Umsetzung in die konkrete Lebenswirklichkeit ist eine veränderte Sicht auf Krankheit, Belastungssituationen anderer Art und Gesundheit. So können aus Sicht der Salutogenese Erkrankungen, Stress und Krisen nicht immer verhindert, aber die Bedeutung dieser belastenden Erlebnisse kann relativiert und sie können sogar als sinnhaft erlebt werden, wenn man die Menschen darauf vorbereitet, dass im Leben immer wieder mit Belastungen zu rechnen ist, und ihnen beibringt, wie sie mit diesen Belastungen so umgehen können, dass ihre Gesundheit keinen Schaden nimmt, dass sie vielmehr noch gestärkt daraus hervorgehen. Die Salutogenese richtet sich mit anderen Worten an die ureigene Kraft des Menschen, sich selber wieder (und immer wieder) aufrichten zu können, nämlich an seine Resilienzfähigkeit. Man könnte auch sagen: Salutogenese und Resilienz sind wie die zwei Seiten einer Medaille. (S. dazu meinen Artikel: https://pagewizz.com/resilienz-wie-wird-man-ein-stehaufmensch-29576/)

 

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