Religiosität als Resultat der Evolution

Zunächst ist festzustellen, dass Religiosität, also der Glaube an "höhere Mächte", so alt ist wie die Menschheit selbst, dass somit Religiosität einen wichtigen Teil der Evolution des Menschen darstellt.

Hintergrund ist, dass sich vor ca. 5 Millionen Jahren in der Evolution des Menschen eine entscheidende Veränderung vollzog, nämlich die Entwicklung eines geistigen organischen Systems, durch das sich der Mensch seiner selbst bewusst wurde. Ferner diente dieses System dem Informationserwerb und der Verhaltenssteuerung, so dass sich der Mensch als ein selbständig handelndes und mit einem freien Willen ausgestattetes Wesen empfand. Gleichzeitig erkannte sich der Mensch aber als ein isoliertes Wesen, das in einer Umwelt existiert, in der ihm ständig der Tod droht.

Der Tod aber löste die Frage aus, ob es nicht neben dem vergänglichen, weltlichen Sein noch ein unvergängliches, außerweltliches Sein gibt. Die Religion gab durch die Vorstellung übernatürlicher Mächte und Wesen eine befriedigende Antwort auf diese Frage und vermittelte damit dem Menschen die erforderliche psychische Sicherheit und Geborgenheit. Man könnte auch sagen: Die durch die Entstehung des geistigen Mensch-Seins in der Evolution verursachten psychische Probleme des Menschen wurden durch Religiosität kompensiert. Hier liegt also die Wurzel der Herausbildung der Religiosität, der Sehnsucht nach dem Heiligen, als einer anthropologischen Konstante.

Festzuhalten ist, dass der religiöse Glaube entstanden ist als ein Werkzeug der Natur, das sich bei der Selbstbehauptung des Menschen in einer feindlichen Umwelt als sehr effektiv erwiesen hat, so dass Religiosität zu einem erfolgreichen Verhaltensmuster wurde. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass sich mit dem Christentum und dem Islam letztlich sogar zwei Weltreligionen herausgebildet haben.

Die Ursachen der Inhumanität

Die tiefere Ursache dafür, dass die Weltreligionen ihre grundsätzlich humane Ausrichtung verloren bzw. ihr humanes Potenzial nie richtig verwirklicht haben, besteht darin, dass im weiteren Verlauf der Evolution die Religionen letztlich die Aufgabe einer kulturbedingten Verhaltenssteuerung des Menschen übernommen haben, also auch auf sozialer Ebene verhaltensprägend wurden. Dazu gehört die Herausbildung bestimmter gesellschaftlicher Institutionen, die sich quasi zwischen Gott und den Menschen schieben und den Gläubigen vorschreiben, wie sie ihren Glauben zu leben haben.

Irgendwann wird jedoch - und diese Entwicklung kann immer wieder beobachtet werden - infolge des gesellschaftlichen Fortschritts diese den Religionen übertragene Aufgabe der Verhaltenssteuerung auf gesellschaftlicher Ebene unangemessen und deshalb dysfunktional. Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang neue wissenschaftliche Erkenntnisse und politische Veränderungen, die die religiösen Überzeugungen als überholt erscheinen lassen. Nun haben sich jedoch auf der Ebene der gesellschaftlichen Institutionen, die die Religionsausübung regeln, mächtige Interessengruppen herausgebildet, die um ihren Einfluss fürchten.

Diese machen sich nun zunutze, dass es sich beim Christentum und beim Islam um sogenannte sekundäre Religionen handelt, also um Religionen, bei denen es um die Unterscheidung zwischen "wahr und falsch" geht, zwischen der wahren Lehre und den Irrlehren, zwischen Glaube und Unglaube. Das heißt: Als Verteidiger der einzig wahren Religion können sie ihre Machtansprüche nun religiös überhöhen. Genau genommen wird hier die Religion zu einer politischen Ideologie, die sich einer religiösen Sprache bedient. Dabei ist der Wandel des Gottesbildes weg von einem liebevollen und barmherzigen Gott hin zur Darstellung Gottes als eines grausamen und rachsüchtigen Tyrannen von zentraler Bedeutung. Man könnte auch sagen: Gott werden hier Züge angedichtet, durch die er denjenigen zum Verwechseln ähnlich wird, die den Glauben an ihn für ihre Zwecke instrumentalisieren wollen.

Und die Folgewirkungen eines solchen Gottesbildes sind verheerend, denn diejenigen, die an einen solchen Gott glauben, sind schließlich bereit, die abscheulichsten Verbrechen an "Ketzern" und "Ungläubigen" zu begehen oder zumindest zu billigen, um Gott gnädig zu stimmen. Denn es ist ja angeblich Gott selbst, der diese Verbrechen befiehlt. In letzter Konsequenz führt diese Denkungsart zum "Gottesstaat", der das gesamte Leben aller Menschen regelt und bestimmt, dem sich also der einzelne Mensch bedingungslos zu unterwerfen hat und in dem die Geistlichen, der Klerus, als "Vertreter Gottes auf Erden" bei allen wichtigen gesellschaftlichen Fragen das letzte Wort haben, wobei sie, um ihre Ansprüche durchzusetzen, "Gotteskrieger" in "heilige Kriege" gegen diejenigen schicken, von denen sie "den wahren Glauben", in Wirklichkeit ihre Macht, bedroht sehen.

Das Christentum

Begriffe wie "Gotteskrieger" und "heiliger Krieg" erscheinen uns Christen als eine schreckliche Blasphemie, und auch die Abstemplung von Menschen, die in ihrem Glauben von der offiziellen Lehrmeinung des Klerus abweichen oder gar einer anderen Religion anhängen, als "Ketzer" oder "Ungläubige", ist uns zutiefst suspekt. Mit Befremden reagieren wir auch auf die Vorstellung von einer Vormachtstellung des Klerus gegenüber den weltlichen Machthabern in einem Gottesstaat.

Tatsächlich haben diese Entartungen der Religionsausübung das Christentum jahrhundertelang geprägt, angefangen bei den Kreuzzügen gegen die Muslime im Mittelalter, über die Verfolgung von "Ketzern" durch die vom Papst eingesetzte "heilige Inquisition", die Verbrennung zahlloser, angeblich vom Teufel besessener Frauen als Hexen bis hin zu den Konflikten und kriegerischen Auseinandersetzungen, die im 16. Jahrhundert zwischen der katholischen Amtskirche und der infolge der Reformation entstandenen Glaubensrichtung des Protestantismus ausbrachen.

Die Reformation war dann allerdings auch so etwas wie ein Wendepunkt in der Geschichte des Christentums, da sie einen fundamentalen Wandel im Denken und in der Mentalität vieler Menschen einleitete, der im Europa des 17. Und 18. Jahrhunderts auch das religiöse Leben erfasste. Von zentraler Bedeutung waren hier die Ideen der "Aufklärung" mit ihrer Betonung der Vernunft als Verhaltensmaßstab. So sollten die Menschen nichts mehr als gegeben hinnehmen, sondern es mittels der Vernunft hinterfragen. Man könnte auch sagen: Die Menschen sollten sich ihres eigenen Verstandes bedienen, und nur das, was durch ihn erfasst und erklärt werden konnte, sollte als Grundlage und Richtschnur für ihre Entscheidungen und Handlungen dienen.

Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass vor allem der bis dahin übliche blinde Gehorsam gegenüber der Kirche und anderen Obrigkeiten scharf kritisiert wurde. Letztlich kam es durch die Ideen der Aufklärung im Christentum zu einer Trennung von Kirche und Staat, durch die die Kirchen ihre gesellschaftliche Vormachtstellung verloren und der Glaube wieder weitgehend zu einer "Privatangelegenheit" der Gläubigen wurde.

Der Islam

Die Erscheinungsformen eines Glaubensfanatismus, die jahrhundertelang das Christentum geprägt haben, finden wir gegenwärtig bei einer bestimmten stark politisierten Variante des Islam, die als islamischer Fundamentalismus bzw. Islamismus umschrieben werden kann, wobei man hier genau genommen von einem radikalen Islamismus sprechen müsste, da es auch "gemäßigtere" Formen des Islamismus gibt.

Da der radikale Islamismus gegenwärtig aber sehr dominant ist, liegt hier die Schlussfolgerung nahe, dass sich der Islam zurzeit in der gleichen Verfassung befinde wie das Christentum im Mittelalter und sich folglich erst in eine ähnliche Richtung weiterentwickeln müsste wie das Christentum, ehe es zu einer friedlichen Koexistenz der beiden Weltreligionen kommen könnte.

Dabei wird jedoch ausgeblendet, dass es im Islam immer schon Strömungen gegeben hat und noch gibt, die den Vorstellungen von Demokratie und Rechtsstaat, wie sie die Aufklärung hervorgebracht hat, aufgeschlossen gegenüberstehen (S. dazu: https://pagewizz.com/der-islam-ist-barmherzigkeit-die-theologie-des-mouhanad-33384/) Ferner wird ignoriert, dass auch das moderne Christentum immer noch viele Gemeinsamkeiten hat mit dem – angeblich anachronistischen – Islam. So hält sich auch das moderne Christentum für die einzig wahre Religion.

Wie könnte sich das Verhältnis zwischen den Weltreligionen entspannen?

Aus der Perspektive der Religionstheologie kann eine konfliktreiche Beziehung zwischen Religionen, bei der ihre jeweiligen Wahrheitsansprüche kollidieren, umschrieben werden als Exklusivismus.

Davon zu unterscheiden sind der Inklusivismus und der Pluralismus. Der Inklusivismus - der gewissermaßen die offizielle röm.-kath. Religionstheologie seit dem II. Vatikanischen Konzil ist - hält zwar an der Vorrangstellung der eigenen Religion fest, kann aber anderen Religionen auch Anteile an der Wahrheit zugestehen. Der Pluralismus, die pluralistische Theologie der Religionen, geht noch einen Schritt weiter und behauptet, dass die verschiedenen Religionen gleichermaßen wahr seien. Es gebe keinen Vorzug einer bestimmten Religion, sondern die Religionen seien zwar äußerlich verschiedene, aber prinzipiell gleichberechtigte Zugangswege zur letzten göttlichen/transzendenten Wirklichkeit, zum heilschaffenden Grund allen Seins.

Wenn sich die Anhänger der Religionen diese Sichtweise zu eigen machen, können sie ihrer Überzeugung treu bleiben, ohne den Wahrheitsgehalt anderer Überzeugungen von vornherein leugnen zu müssen. Und das eröffnet ihnen die Möglichkeit, sich unbefangen auf die Erfahrung interreligiöser Begegnungen einzulassen. Wenn sich die Anhänger der Religionen also von der Tendenz zur Selbstverabsolutierung der eigenen Religion befreien und auch die Wahrheitsansprüche der anderen Religionen gelten lassen, bleibt die Konkurrenz der Wahrheitsansprüche zwar bestehen, aber sie führt nicht mehr zum Konflikt, sondern mündet ein in einen Dialog, in dem sich die Religionen als gleichberechtigte Partner begegnen.

Und zwar könnte ein solcher interreligiöser Dialog nicht nur der Verbesserung der Beziehungen zwischen den Religionen dienen, sondern - indem sich die Religionen gegenseitig befruchten und bereichern, also gegenseitig voneinander lernen - auch der intrareligiösen Weiterentwicklung. Ferner könnten die Religionen, nachdem sie die Feindschaft zwischen ihnen aufgearbeitet und überwunden haben, ihr beachtliches ethisches Potenzial, das ja letztlich ihre Humanität ausmacht, mobilisieren und in den politischen Diskurs einbringen, um einen Beitrag zu leisten zur Überwindung der drängendsten globalen Probleme. An die Stelle der Konfrontation könnte somit ein friedlicher Wettstreit der Religionen auf ethischem Gebiet treten.

Religionen und Weltethos

Es besteht eine deutliche Parallele zwischen der Vorstellung eines den Religionen innewohnenden ethischen Potenzials und der von dem katholischen Theologen Hans Küng entwickelten Idee eines Weltethos. Das heißt: Küng hat festgestellt, dass allen Weltreligionen und philosophisch-humanistischen Ansätzen bereits grundlegende Werte- und Moralvorstellungen gemeinsam sind. Zu nennen sind hier "die Goldene Regel", nach der man sich seinen Mitmenschen gegenüber so verhalten soll, wie man selbst behandelt werden möchte, die Forderung, dass alle Menschen menschlich behandelt werden müssen, und Werte wie Gewaltlosigkeit, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit sowie Partnerschaft von Mann und Frau. Für unsere globale Gesellschaft muss folglich – so Küng - ein gemeinsamer Wertekanon nicht erst entwickelt werden. Ein solches "Weltethos" existiere bereits. Es müsse jedoch immer wieder neu bewusst gemacht, gelebt und weitergegeben werden.

 

Fazit

Die pluralistische Theologie der Religionen zeigt Wege auf, wie die Spannungen zwischen den Weltreligionen überwunden werden können. Grundlage dafür ist die Erkenntnis, dass die Zuwendung Gottes nicht an eine bestimmte Glaubensform oder Religionszugehörigkeit, an die Wirkungsgeschichte eines einzigen Gottesmittlers gebunden ist, sondern dass Gottes Heilswille universal ist und dass sich folglich die Religionen auch in ihren grundlegenden ethischen Normen nicht voneinander unterscheiden. Diese Erkenntnis könnte in Zukunft verhindern, dass Religionen zu politischen Zwecken gegeneinander aufgehetzt werden.

Quellen:

http://www.tabvlarasa.de/30/Ehlert.php

http://www.cimuenster.de/biblioinfothek/open_access_pdfs/Handbuch_Interreligioeses_Lernen/15-Bernhardt-Pluralistische_Theologie_der_Religionen.pdf

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