Warum Schüleraustausch?

Im Alter von 16 Jahren wollte ich, inspiriert von meinem großen Bruder, auch mal etwas ganz Neues erleben. Ich war neugierig, mal ganz woanders zu sein, dort die Herausforderungen zu bestehen. Die Herausforderungen sind die Sprache Englisch und das Verlassen der alten Umgebung, um in einem anderen Land Fuß zu fassen. Außerdem wollte ich auch neue gute Freundschaften knüpfen.
Als ich mich bei meiner Austauschorganisation Eurovacances für Amerika beworben habe, wurde mir von meiner ursprünglichen Idee abgeraten und empfohlen, nach Neuseeland zu reisen. Der Grund dafür ist, dass in der amerikanischen Kultur tendenziell viel öfter auf bestimmte Dinge bestanden wird, wie z.B. der regelmäßige Gang zur Kirche, während ich in Neuseeland mehr Freiheiten hätte. Das passt mehr zu mir. Im Nachhinein fühle ich mich mit Neuseeland richtig beraten.

Palmerston North

Palmerston North, von den Einwohnern liebevoll auch gerne mal "Palmy" genannt, ist eine mittelgroße Stadt auf der Nordinsel; dort leben etwa 70.000 Einwohner.  Die Stadt ist nur äußerst selten für Touristen ein Reiseziel. Die nächsten touristischen Ziele wie zum Beispiel Berge, Strände oder historisch relevante Orte liegen alle weiter entfernt von Palmerston North.
Darum zieht die Stadt weniger Austauschschüler an als die neuseeländischen Städte, in denen man aufregende Sachen wie Surfen oder outdoor ecucation machen kann. Outdoor education ist ein Fach, in dem es darum geht, mit den Mitschülern gemeinsam in Neuseelands gewaltiger Natur Herausforderungen zu meistern, wie unter anderem mehrtägige Wanderungen, Kajaken oder in manchen Gebieten auch Skifahren. All diese Aktivitäten stärken das Verantwortungsbewusstsein und die Teamfähigkeit, argumentiert die neuseeländische Bildungsbehörde.
Auf meiner Schule befanden sich neben mir 6 weitere Austauschschüler aus Deutschland und etwa 25 weitere aus anderen Ländern.

Handstand :-)

Handstand :-)

Freyberg High School

Da ich die freie Schulauswahl hatte, habe ich mich für die Freyberg High School entschieden, um meinem Hobby Leichtathletik nachzugehen. Die Schule mit ihren ca. 1200 Schülern ist bekannt für gute Athleten und ein weitgefächertes Sportangebot. Außerdem habe ich sehr interessante Fächer wählen können: Tourismus, Photographie, recreation Studies (die spaßige Version des Schulsports), Geschichte und Science. Englisch ist Pflichtfach. Ab dem zweiten Halbjahr war ich nicht mehr in der sports academy, also dem Leichtathletiktraining, da mir andere Hobbies wichtiger wurden, wie zum Beispiel Parkour. Trotzdem bin ich mit meiner Schulwahl sehr zufrieden, unter anderem da das Verhältnis zwischen Schüler und Lehrern viel lockerer als in Deutschland ist.
Die Freyberg High School ist eine von sehr wenigen Schulen, an denen die ältesten Jahrgänge 11 + 12 keine Schuluniform benötigen. In den darunterliegenden Jahrgängen wird jedoch streng drauf geachtet.

Gastfamilie

Zu meiner Gastfamilie gehörten mein älterer Kiwi-Gastbruder, meine vietnamesische Gastschwester und meine Gastmutter. Ihr Ehemann war wenige Monate vor meiner Ankunft gestorben. Meine Familie, vor allem meine Gastmutter, war sehr sorgsam und nett. Ich habe jedoch keine so tiefe Beziehung zu meiner Gastfamilie aufgebaut, wie es andere Gastschüler getan haben. Ich war sehr lange außer Haus, zum Beispiel auf dem Sportplatz, zum Parkourlaufen oder in der Bücherei, sodass wir uns vor allem beim Abendessen erst gesehen haben. Meine Gastfamilie ist baptistisch. Wir haben vorm Abendbrot immer gebetet. Ich musste niemals mitsprechen.

Christian Fellowship

Durch einen glücklichen Zufall bin ich gleich zu Anfang in eine christliche Jugendgruppe reingeraten. Die Jugendgruppe ist ein sozialer Treffpunkt, um zu spielen, um Leute zu treffen und um Action zu haben, zum Beispiel bei Fußball im Regen oder Wanderungen. Außerdem hält am Wochenende immer jemand eine Rede. Mittwochs gibt es eine Bibelinterpretationsrunde. Als ich gekommen bin, habe ich ganz direkt die Diskussion angefangen, ob es einen Gott gibt. Daraus ergaben sich sehr spannende und durchaus erwünschte Gespräche. Mit der Zeit habe ich angefangen, an die Existenz eines Gottes zu glauben, obwohl ich nicht so direkt an die Bibel glaube, wie es die Christen tun.

Neben dem Religiösen habe ich mit der Jugendgruppe auch einige Reisen unternommen. Wir waren gemeinsam jagen und campen, auf einem Festival und wandern.

Nordinseltour

Eines meiner totalen Highlights wurde mir durch meinen sogenannten Agenten von Eurovacances ermöglicht. Ein Agent ist ein Betreuer außerhalb der Schule, an den sich Austauschschüler meiner Organisation wenden können, falls ein Problem aufkommen sollte, das sich nicht schulisch lösen lässt oder bei dem die Schule versagt. Der Agent löst aber nicht nur Probleme, er sorgt sich über das generelle Wohl der Austauschschüler.

Mein Betreuer hat für mich und 29 weitere Leute eine Tour über die Nordinsel Neuseelands organisiert. Das Tollste ist: Die 29 anderen Austauschschüler kannte ich alle bereits aus dem Vorbereitungsseminar aus Deutschland und vom Hinflug! Es war genial, mit diesen Leuten, eingedeckt mit guter Musik und Energydrinks durch Neuseelands Straßen mit Vans, also Mietwagen zu fahren.
Dort habe ich die einzigartigen Landschaften, Städte und Naturwunder gesehen und habe angefangen, Neuseeland zu lieben. Und die Liebe hält noch immer an.

Ein weiterer Vorteil der Tour war es, dass ich ein Netzwerk an Freunden in ganz Neuseeland aufgebaut habe. Dadurch ergab sich die Möglichkeit, in anderen Städten Freunde zu besuchen und dort zu übernachten.

Auf einem "kleinen" Baumstamm

Auf einem "kleinen" Baumstamm

Problematik des Reisens

Obwohl das schön klingen mag, möchte ich gleich den Leuten, die sich überlegen, auch mal ein Auslandsjahr zu machen, kurz einige Illusionen rauben:
Reisen sind zwar schön und gut, aber sie sind nicht der zeitliche Hauptbestandteil eines Austauschjahres. Die meiste Zeit wird in der eigenen Stadt verbracht, während des Alltags.

Nicht alle Austauschschüler haben die Möglichkeit, zu verreisen. Das hat einerseits finanzielle Gründe, denn die Reisen sind nicht billig. Die Schulen haben sehr harte Versicherungsauflagen, wenn Austauschschüler außerhalb der Stadt übernachten wollen. Der Schüler muss bei jeder Reise die Adresse und Telefonnummer des Gastgebers angeben. Außerdem ist immer eine Einverständniserklärung der Eltern notwendig. Für jede Reise! Erst dann entscheidet die Schule, ob die Reise gestattet wird.

Daher ist es unsinnig, in ein Land, wie zum Beispiel Neuseeland als Austauschschüler zu fliegen, nur um dort reisen zu können. Ein Austauschschüler, der dieses Jahr fliegen wird, sagte mir den schlauen Satz: "Es wird auf jeden Fall cool, aber was genau cool wird, weiß ich noch nicht". Ich habe den Eindruck, dass er mit dieser Einstellung gut fahren wird.

Ups und Downs

Wie immer im Leben gab's auch in Neuseeland einfachere und schwierigere Zeiten. Dennoch habe ich nie den Wunsch verspürt, wieder nach Hause zu fliegen. Auch als das Jahr dann um war, wollte ich nicht wieder nach Hause.

Meine schwierigste Zeit hatte ich kurz vor Ende des ersten Halbjahres. Obwohl ich viel mit den wirklich offenen und netten Kiwis (also Einwohnern Neuseelands) gesprochen, gealbert und gescherzt habe, hatte ich den Eindruck, bisher noch keine richtig guten Freundschaften aufgebaut zu haben. Ich habe mehr Zeit mit anderen Austauschschülern verbracht, als ich eigentlich wollte. Ich bin schließlich nach Neuseeland gekommen, um Zeit mit den Kiwis zu verbringen und nicht um andere internationale Schüler zu treffen, die auch ihre Heimat verlassen haben. Außerdem machte ich mir Sorgen, da die zweimonatigen Sommerferien im Dezember/Januar vor der Tür standen. Ich wusste noch nicht viel mit der kommenden Zeit anzufangen. Während der Prüfungen war es am schlimmsten: Da ich nicht mitgeschrieben habe, war ich eine Woche lang nicht in der Schule. Es war einfach viel zu ruhig diese Woche über. Ich konnte Bücher lesen (die Bücherei war dazu ein toller Platz) und Sport machen. Ansonsten gab es relativ wenig zu tun und ich habe mich gelangweilt.
Kurz drauf folgte jedoch wieder ein Reise mit meinem Betreuer, die ähnlich wie der Nordinseltrip verlaufen ist. Auf dieser Reise über die Südinsel erzählte ich ihm von meiner Sorge, nicht zu wissen, wie ich die Ferien verbringen könnte. Mein Betreuer hat mich dann beim Organisieren unterstützt.

Die zweimonatigen Ferien waren dann für mich eine weitere sehr schöne Phase in meinem Leben, nachdem feststand, wann ich wohin fahren werde (und alle Einverständniserklärungen endlich erledigt waren!). Ich konnte unter anderem Freunde aus Deutschland besuchen, die zur gleichen Zeit in Neuseeland waren. Solange die Leute nicht in meiner Stadt wohnten, hielt ich es auch für vertretbar, mit ihnen auf Deutsch zu reden. Außerdem konnte ich in den großen Ferien eine Kletterreise machen, an einem Parkourevent teilnehmen und zu einem christlichen, (natürlich drogenfreien) Festival namens Parachute fahren.

Ich finde, man sieht es, wie ich ...

Ich finde, man sieht es, wie ich (ohne Schulunfiform) irgenwie ein wenig außen stehe ;-) (Bild: Das Foto ist auf Facebook aufgetaucht.)

Zweites Halbjahr

Als irgendwann dann der Schulalltag im zweiten Halbjahr einkehrte, hatte ich eine neue Downphase, vermutlich, weil ich so viel erlebt hatte und anschließend in einen eintönigeren Alltag zurückfiel.
Es ist eine gute Entscheidung gewesen, mit meinen Nöten zu den Lehrern zu gehen. Ich habe ihnen erzählt, was ich gedacht und gefühlt habe, nämlich dass ich Freundschaften mit den Kiwis vermisse und immer noch Reiselust habe. Das alles ging so weit, dass ich spontan am liebsten die Schule gewechselt hätte, obwohl die Lehrer wirklich sehr auf das Wohlergehen der Austauschschüler achteten. Inzwischen bin ich aber froh darüber, dass ich nicht wechseln konnte.

Die Lehrer haben mir die Möglichkeit gegeben, dass ich auf Klassenreisen mitkommen konnte, obwohl ich nicht Mitglied im jeweiligen Kurs war.

Im zweiten Halbjahr ging ich auch weiterhin zu einem öffentlichen Parkourtreffen. Dort habe ich Freunde kennengelernt, mit denen ich auch jetzt noch, zum Beispiel während des Schreibens dieses Artikels, auf Facebook in Kontakt bin. Nach einer Trainingseinheit hat mich nämlich ein Parkourkumpel gefragt, ob ich nicht Lust hätte, auch mal so Zeit mit ihm zu verbringen. Das habe ich dann auch sehr gerne gemacht. Glücklicherweise gingen meine Parkourfreunde auch auf meine Schule, sodass wir uns von da an auch in den Pausen immer sehen konnten. Seitdem hatten wir auch außerhalb der Schule gerne gemeinsam Dinge unternommen. Am meisten genoss ich die Abende, an denen ich mit meinen Leuten in einem alten Schuppen übernachtet habe und wir Filme abgespielt haben und Games gezockt haben. Meine Freunde waren dann auch traurig, dass ich irgendwann wieder zurückfliegen musste.

Pferdeausflug

Pferdeausflug

Im Rückblick

Alles in allem war das Auslandsjahr eine der besten Entscheidungen, die ich in meinem Leben getroffen habe. Ich habe viele Lebenserfahrungen dort gesammelt und habe gelernt, das Leben in einem anderen Land selbst in die Hand zu nehmen. In dem Jahr wurde ich sehr viel wissbegieriger und entdeckungsfreudiger. Ich reise seitdem total gerne und bin selbstbewusster geworden. Fast noch überflüssig zu erwähnen, dass sich mein Englisch enorm verbessert hat. Obwohl ich inzwischen wieder auf deutsch träume, schießen mir immer noch in ruhigen Minuten englische Gedanken durch den Kopf.

Autor seit 12 Jahren
5 Seiten
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