Stress macht glücklich!?
Sollten wir aufhören, mit Entspannungstechniken, Achtsamkeitsübungen, Yoga und gesunder Ernährung Stress zu bekämpfen? Ist die Formel: Großer Stress = große Bedeutung = großes Glück richtig?Stress ist unvermeidbar, weil wir viele Stressfaktoren nicht beeinflussen können
Das stimmt schon – auf einige Faktoren wie hohe Arbeitsbelastung, Lärm, Lebenskrisen haben wir kaum Einfluss. Aber wir können sehr wohl beeinflussen, ob diese Faktoren überhaupt zu Stress werden. Wobei wir hier über negativen Stress reden. Ein Lottogewinn oder eine neue Liebe löst auch Stress aus – aber darüber würde sich niemand beklagen.
Schauen wir uns einmal an, welche Faktoren Menschen laut Untersuchungen als besonders stressig empfinden. Im Berufsleben wie im Alltag stehen da an erster Stelle:
- Zeitdruck
- Überforderung
- Ängste
- Ärger
- Streit
- Konkurrenz
Ebenfalls Stress auslösen können physikalische Faktoren wie Hitze und Kälte; körperliche Zustände wie Hunger, Krankheit oder Schlafmangel sowie situationsbedingte Faktoren wie (Straßen)lärm, Reizüberflutung, Schmerzen, Verkehrsstaus, Armut, Einsamkeit.
Zusammenfassend könnte man eigentlich sagen: Das Leben verursacht Stress!
Denn diesen stressauslösenden Faktoren begegnen wir immer wieder. Täglich, wöchentlich, monatlich, einmal im Jahr oder auch nur einmal im Leben.
Doch müssen Sie in allen genannten Situationen hinnehmen, dass daraus ernsthafter Stress entsteht? Natürlich können Sie nicht verhindern, dass Sie bei einem Autounfall oder einer plötzlichen schweren Krankheit zunächst unter Stress geraten. Aber das ist auch gut so, denn die körperliche Reaktion – und darum geht es ja bei dem unangenehmen Stressgefühl – hat grundsätzlich ihren Sinn.
Was ist Stress eigentlich?
Zunächst mal: Stress ist neu. Erst in den 30 er Jahren hielt das Wort im heutigen Sinne Einzug in unseren Sprachgebrauch. Es bezeichnet ursprünglich in der Physik den Zustand eines unter Druck stehenden Materials – tatsächlich ein gutes und passendes Bild.
Stress ist ein Lebensretter. Stand unseren Urahnen plötzlich ein unfreundliches Mammut gegenüber, sorgte der schlagartig einsetzende Stress für erhöhte Aufmerksamkeit und fördert die maximale Leistungsfähigkeit. Die Substanz, die das bewirkt heißt Adrenalin. Dieses Stresshormon sorgt dafür, dass unser Herz schneller schlägt, der Blutdruck steigt, die Bronchien erweitern sich und bringen dadurch mehr Sauerstoff in unseren Körper. Dieser Prozess war ursprünglich einmal dazu gedacht, Herrn Steinzeitmensch blitzartig fit zumachen, um vor dem ungehaltenen Mammut entweder zu fliehen oder mit ihm zu kämpfen und daraus ein leckeres Mittagessen zu machen. Dafür benötigte er vor allem eine gut durchblutete Muskulatur. Irgendwoher muss das Blut kommen, also wird es vom Magen-Darm-System abgezogen. Verdaut wird später, jetzt hat der Körper Wichtigeres zu tun. Ebenso runtergefahren wird das energieverschlingende Immunsystem.
Wenn Stress also eine so nützliche und normale Reaktion ist, wieso haben wir damit ein Problem?
Unser Problem ist, dass wir das Adrenalin nicht mehr abbauen können wie unsere Urahnen. Kampf oder Wegrennen sind mit intensiver Bewegung verbunden, und die baut das Adrenalin ab. Das ist notwendig – Adrenalin ist eine hochwirksame Substanz, tatsächlich wird sie in der Notfallmedizin bei der Reanimation und bei Schock eingesetzt. Zu hochdosiert kann Adrenalin aber sehr gefährlich werden: Herzrhythmusstörungen drohen, sogar Herzinfarkt.
Dauerhaft in unserem Körper verursacht es all die Symptome, die man mit starkem Stress in Verbindung bringt: Schwitzen bei gleichzeitigem Kältegefühl in den Extremitäten, Übelkeit, Schwindel und Kopfschmerz, Ruhelosigkeit, Nervosität, Angst.
Das Zeug muss also raus aus dem Körper. Urahn rannte oder kämpfte – und wir? Sport ist natürlich eine sehr ähnliche Methode – aber wie realistisch ist es, unmittelbar nach dem Anpfiff durch den Chef in die Laufschuhe zu schlüpfen und loszurennen? Oder nach einer durchwachten Nacht mit Babygeschrei aufs Rad zu steigen und zehn Kilometer kräftig in die Pedale zu treten? Statt dessen bringt man uns Entspannungstechniken bei.
Was bewirken Entspannungstechniken?
Für viele Menschen bedeuten Entspannungstechniken vor allem, aus einer stressbelasteten Situation auszusteigen, eine Pause einzulegen. Wenn wir Entspannungsübungen aber gut beherrschen – also nicht mehr hektisch im Lehrbuch blättern müssen um herauszufinden, wie man die Hektik ablegt - beeinflussen Entspannungsübungen viele körperliche Vorgänge:
- Sie senken Puls und Blutdruck
- Sie lösen Muskelverspannungen
- Sie reduzieren den Sauerstoff-Verbrauch
- Sie verlangsamen die Atmung
- Sie sorgen für eine Zunahme der Magenmotorik
Fällt Ihnen etwas auf? Entspannungsübungen kehren also die Effekte des durch Stress ausgeschütteten Adrenalins um.
Diese Wirkung kann man auch durch entsprechende Medikamente erreichen, eine "bewährte" Methode gestresster Manager und so mancher Hausfrau und Mutter, um durch den Alltag zu kommen. Die Werbung empfiehlt es uns ja sogar: Mit den kleinen Helfern ist Stress kein Problem mehr, der Alltag kann uns nichts mehr anhaben. Doch selbst so genannte leichte Mittel können abhängig machen – vielleicht nicht physisch, aber psychisch: Denn die Welt und ihre Anforderungen haben sich nicht geändert, wenn man das Medikament letztendlich absetzt – und eine Pille bringt uns nicht bei, mit den Herausforderungen umzugehen.
Aber alle Mittel, die gesunden wie die ungesunden, bekämpfen letztendlich nur die Symptome, sie beseitigen nicht die Ursache.
Kann man die Ursachen für Stress beseitigen?
Ja – und nein. Es gibt Faktoren, die können Sie tatsächlich beseitigen. Wenn ständiger Streit in Ihrer Partnerschaft für Stress sorgt, können Sie sich trennen. Natürlich bedeutet eine Trennung auch Stress, zumal wenn sie nicht friedlich erfolgt, Kinder betroffen sind und die finanzielle Zukunft plötzlich ungewiss ist. Wie in sehr vielen Situationen, in denen man Stressfaktoren eigentlich beseitigen könnte, stehen die vielen "ABER" im Weg. Den bekannten Schrecken ziehen viele Menschen dem Unbekannten vor.
Andere Stressfaktoren können Sie nicht beseitigen, Sie können ihnen jedoch aus dem Weg gehen. Wenn Sie täglich im Stau stehen und gestresst am Arbeitsplatz ankommen, haben Sie etliche Möglichkeiten, das zu vermeiden: Sie können mit öffentlichen Verkehrsmittel fahren. Sie können zu einer anderen Uhrzeit fahren. Sie können den Job wechseln. Sie können umziehen. Oder Sie können zumindest in einer Fahrgemeinschaft fahren, so dass der Stress nur noch alle paar Wochen auftritt. Oder vielleicht gar nicht mehr, weil Ihre Beifahrer Sie erfolgreich ablenken. Was uns zu der interessanten Frage bringt: Wieso ist die gleiche Situation plötzlich nicht mehr stressig, wenn wir Gesellschaft haben?
Und bei dem Rest können Sie Ihre Einstellung dazu so verändern, dass sie keinen Stress mehr auslösen. Einfach so? Nein, niemand hat gesagt, dass es einfach ist. Aber in Grunde geht es nur um eine einzige Frage: Wieso verursacht die Situation mir Stress? In der Antwort liegt meist schon die Lösung.
Schauen wir uns unter diesem Aspekt doch mal unseren Haupt-Stressfaktor Zeitdruck an
Zeitdruck bedeutet, dass Sie für seine selbstgewählte oder an Sie vergebene Aufgabe zu wenig Zeit haben. Das kann im beruflichen Umfeld ebenso vorkommen wie im privaten. Aber was stresst Sie dabei tatsächlich? Das ist ja nicht die tickende Uhr oder eine Zahl, die Ihnen sagt wie viel Zeit noch bleibt, bis die Aufgabe erledigt sein muss. Es sind viel mehr die befürchteten Konsequenzen, wenn Sie den Zeitplan nicht einhalten: Wenn Sie den Bus nicht mehr erreichen, kommen Sie zu spät zur Arbeit, Sie fallen unangenehm auf; die Kollegen ärgern sich, dass sie Arbeit alleine machen mussten; der Chef glaubt, dass Sie Ihren Job nicht ernst nehmen.
Wenn Sie im Stau stehen und zu einer Verabredung zu spät kommen, missachten Sie die Freundschaft und Ihre Mitmenschen denken, dass Sie Ihr Leben nicht im Griff haben.
Aber das alles sind keine externen Faktoren, die Ihren Stress verursachen, sondern die Dinge, die in Ihrem Kopf vorgehen. Es geht in den obigen Beispielen immer um das, was andere Menschen über Sie denken würden, wenn Sie einen Zeitrahmen nicht einhalten. Wirklich?
Nein, es geht um das, was SIE denken, wie andere Ihr "Versagen" beurteilen.
Stand das ungehaltene Mammut vor Ihrem Urahn, dann ging es nicht darum, ob es Urururuopa mochte und dem Urahn war auch völlig egal, ob dem Mammut die Situation gefiel. Und schon gar nicht konnte sich der Steinzeitmensch einreden, dass so ein Mammut gar nicht gefährlich war. Spätestens wenn er einen Meter Stoßzahn im Bauch hatte, wäre ihm klar geworden, dass er sich irrte. Er hatte keine Möglichkeit, den Stress zu vermeiden.
Aber wenn Sie anfangen, in einem Stau nervös zu werden, weil Sie zu spät kommen werden, dann spielen Sie die Situation doch mal durch. Werden Ihre Freunde Ihr Zuspätkommen tatsächlich persönlich nehmen? Sie kennen und schätzen Sie, sie wissen, dass Sie eine lange Anfahrt haben und sind durchaus damit vertraut, dass sich noch andere Verkehrsteilnehmer auf der gleichen Strecke bewegen, möglicherweise sogar sehr viele.
Wenn Sie zu wenig Zeit haben, nehmen Sie sich Zeit!
Meistens spüren Sie es ja, wenn sich eine Situation zum Stress zu entwickeln droht. Die Reaktion auf Zeitdruck ist meist, dass man versucht, sich zu beeilen. Man rennt zum Bus, um ihn nicht zu verpassen, man versucht Staus zu umfahren, auch wenn man sich nicht auskennt. Kaffee oder stärkere Aufputschmittel sollen gegen Müdigkeit helfen, so dass man Abgabetermine doch noch einhalten kann. Manchmal klappt das auch. Aber meist gerät man in eine Spirale von Hektik, die den Stress noch größer werden lässt.
Eine Pause von wenigen Minuten verschärft Ihre Situation selten ernsthaft. Aber sie kann entscheidend dazu beitragen, hektischen Aktionismus zu unterbrechen, innezuhalten und wieder gelassen an die Arbeit zu gehen.
Handys sind selbst zu einem Stressfaktor geworden, aber sie sind auch eine hervorragende Möglichkeit, Stress zu vermeiden. In dem Moment, wo Ihnen klar ist, dass Sie zu spät zu einer Verabredung kommen, rufen Sie an oder schicken Sie eine SMS mit einem Situationsbericht. Wenn möglich, geben Sie eine Prognose über das Ausmaß der Verspätung und wie Ihre Gastgeber damit umgehen sollen: "Fangt schon mal mit dem Essen an!" "Geht schon vor, wir treffen uns im Lokal."
Was bleibt nun übrig von den Konsequenzen Ihrer Verspätung, die Sie befürchtet haben? Wie war doch gleich die Befürchtung: Wenn Sie im Stau stehen und zu einer Verabredung zu spät kommen, missachten Sie die Freundschaft und Ihre Mitmenschen denken, dass Sie Ihr Leben nicht im Griff haben.
Sie haben Ihren Freunden gezeigt, dass Sie Sie achten, indem Sie sie informiert haben. Und Staus sind nun mal ein häufiges Ereignis, das wir nur bedingt beeinflussen können. Ihre Freunde können Sie entspannt erwarten und Sie können Ihre Energie auf etwas anderes konzentrieren: Hören Sie bewusst der Musik im Autoradio zu, planen Sie Ihren nächsten Urlaub oder denken Sie an die schöne Liebesnacht mit Ihrem Freund oder Freundin.
Hinterfragen Sie Stressfaktoren
Bei Zeitdruck im Berufsleben spielen noch andere Faktoren eine Rolle. Egal ob Sie sich selbst den Termin gesetzt haben oder ob er Ihnen von Ihrem Chef aufgedrückt wurde: Die Nichteinhaltung setzen Sie mit Versagen, Unfähigkeit gleich. Hier haben Sie gleich zwei Ansatzmöglichkeiten, um Stress zu vermeiden.
Die eine ist die Frage, ob der Termin RICHTIG ist. Was war die Grundlage dafür anzunehmen, dass Sie für die Präsentation nur zwei Tage benötigen würden? Haben Sie die gleiche Arbeit schon einmal gemacht und es hat eben diese zwei Tage gedauert? Wenn ja, war die Situation wirklich vergleichbar, waren die äußeren Faktoren – andere Aufgaben, Ihre persönlichen Lebensumstände, Ihre Gesundheit - gleich? Oder aber haben Sie oder Ihr Chef ganz einfach geschätzt, dass die Arbeit zwei Tage in Anspruch nehmen würde?
Und selbst wenn es einfach daran liegt, dass Sie im Moment nicht leistungsfähig genug sind - was ist besser: Eine Arbeit in Hektik vermutlich nicht optimal erledigen zu können oder sie mit mehr Zeit richtig gut zu machen? Diese Frage können Sie Ihrem Chef stellen, wenn er auf Ihren Wunsch nach einer Fristverlängerung unwillig reagiert. Sie handeln nämlich sehr verantwortungsbewusst, wenn Sie diese Entscheidung treffen!
Anders ist die Situation, wenn ein fremdbestimmter Termin der Grund ist, etwa ein Kundenbesuch, der ansteht. Hier gibt es keine Möglichkeit der Fristverlängerung, aber Alternativen. Kollegen, die mithelfen, Inhalte, die gekürzt werden. Und da es ja um Stressvermeidung geht, für die Zukunft die Frage: Warum wurde die Notwendigkeit einer Präsentation erst so kurzfristig erkannt – Kundenbesuche kündigen sich ja schließlich selten von heute auf morgen an? Falls es künftig doch mal wieder schnell gehen muss: Kann vielleicht eine grundlegende Präsentation zu Ihrem Angebot entwickelt werden, die dann nur noch kundenspezifisch ergänzt wird?
Auch das ist ein Weg zur Stressvermeidung: Wenn ein Fehler, ein Missgeschick, ein "Versagen" unvermeidbar ist, sofort die Gedanken weg von der aktuellen Situation hin zum Lernen aus dem Fehler lenken. Wenn Sie aus der Erfahrung die Sicherheit gewinnen, dass das nicht noch einmal passiert, kann das alleine schon dafür sorgen, dass sich Stress erst gar nicht breit macht.
Die beschriebenen Beispiele sollen deutlich machen, dass Stress meistens nicht unvermeidbar von Außen auf Sie einwirkt. Was für Sie zum Stress wird, hat vielmehr mit Ihnen selbst zu tun: Mit Ihrer Einstellung, Ihren Ängsten, Ihrem Selbstbewusstsein.
Die gute Nachricht ist also: Sie haben einen sehr großen Einfluss darauf, welche Rolle Stress in Ihrem Leben spielt! Wenn Sie spüren, dass eine Situation stressig wird, hinterfragen Sie, was genau den Druck auslöst. Dann spielen Sie die befürchteten Konsequenzen durch - meist werden Sie erkennen, dass Ihre Ängste keinen Bestand haben. Das macht Ihren Kopf frei, schwierige Situationen ohne Stress zu bewältigen.