Im Gegensatz zu Thrillerkollegen wie Stephen King oder Jonathan Kellerman lässt sich der 1940 im US-Bundesstaat Mississippi geborene Harris jedoch stets reichlich Zeit mit dem Abliefern eines neuen Romans. Ganze elf Jahre lang spannte er seine Leser auf die Folter, ehe 1999 "Hannibal" erschien und erwartungsgemäß weltweit die Bestsellerlisten stürmte.

Hat sich die Wartezeit gelohnt?

Hannibals Stippvisite in Florenz

Dr. Lecter ist nach seiner spektakulären Flucht mit einer falschen Identität und einem chirurgisch veränderten Gesicht in Florenz untergetaucht, wo er sich ganz seinen Vergnügungen – Kunst und delikate Weine – hingeben kann. Er ahnt nicht, dass in seiner alten Heimat USA Intrigen gesponnen werden, deren Ziel seine Ergreifung abseits des Gesetzes darstellen. Mason Verger, schwerreiches Opfer einer makabren Psychotherapie-Stunde des damals noch praktizierenden Dr. Lecter, sinnt auf grausame Rache: Speziell gezüchtete Schweine sollen seinen einstigen Peiniger lebendig verspeisen.

Zwar kann Dr. Lecter einer in Florenz gestellten Falle entgehen, doch seine einzige Schwäche in Form grenzenlosen Selbstvertrauens scheint ihm zum Verhängnis zu werden. Nur ein Mensch kann ihn noch retten – Clarice Starling …

Von der Nebenfigur zum Protagonisten

In "Hannibal" stellt Thomas Harris erstmals Dr. Lecter in den Mittelpunkt der Handlung. Obwohl Clarice Starlings zermürbendes Karriere-Aus einen nicht unwesentlichen Teil des Romans einnimmt, ist der geniale Serienkiller eindeutig die zentrale Figur des Romans.

Dabei hatte er in "Roter Drache" anfangs noch eine eher bescheidene Nebenrolle inne, was sich bereits beim "Schweigen der Lämmer" ändern sollte.

Zu verdanken war die gewaltige, positive Resonanz zu einem beträchtlichen Teil der genialen Verkörperung durch Anthony Hopkins, der noch zwei weitere Male in die Haut des Hannibal Lecter schlüpfen sollte.

Verkraftet der Roman diese Fixierung auf einen Menschen, den man getrost als Monster bezeichnen könnte? Eindeutig ja, denn obwohl Harris tief in die Psyche und Vergangenheit seiner Figur bohrt, umgibt diese doch genügend Schmelz an faszinierender Abgründigkeit, um sie nicht völlig zu entmystifizieren.

Man erhascht zwar einen genaueren Blick auf Dr. Lecter, ohne dass dieser aber gänzlich aus dem Schatten des Geheimnisvollen tritt und seine gesamte Identität preis gibt.

Dem Blutigen gehört die Welt

"Hannibal" stellt nicht nur auf Grund der Figurenkonstellation eine Zäsur im Oeuvre Harris' dar: Erstmals wühlt der Autor tief im menschlichen Körper, was schlussendlich zu einem mehr oder weniger hirnlosen Showdown führt, der gewiss nicht jedermanns Geschmack sein dürfte. Überhaupt fällt eine gewisse Distanziertheit zu vielen anderen Thrillern auf. Obwohl es "Hannibal" gewiss nicht an Spannung mangelt, herrschen nur sehr wenige "echte" Actionsequenzen vor, die weniger effekthaschend und rasant geschrieben sind, als es Genre-Fans gewohnt sein mögen.

Everybody’s Starling

Dennoch drängt Dr. Lecter die Figur der Clarice Starling nicht in den Hintergrund. Im Gegensatz zu Hannibal hat Starling entscheidende Veränderungen erfahren. Aus der jungen, noch etwas unsicheren FBI-Agentin in Ausbildung ist eine starke, wenngleich desillusionierte Frau geworden, der eben diese Stärke zum Verhängnis wird.

Als Identifikationsfigur eignet sie sich naturgemäß besser als Lecter, wobei Harris dankenswerter Weise auf allzu plumpe Anbiederei - etwa, indem ein schwerer Schicksalsschlag nach dem anderen erfolgt – verzichtet. Starlings Motive liegen klar auf der Hand, und diese Transparenz erzeugt einen faszinierenden Charakterausgleich zur nach wie vor geheimnisumwitterten Gestalt Lecters.

Menschenmonster, Muränen, Mutantenschweine

Einen kleinen Kritikpunkt muss sich "Hannibal" dennoch gefallen lassen. Abgesehen von Starlings Mentor Jack Crawford entpuppen sich nahezu alle tragenden Figuren als wahre Ungeheuer, korrupt, bösartig oder alles zusammen. Einige sympathische Charaktere, um deren Leben man als Leser zittern kann, hätten der Spannung bestimmt keinen Abbruch getan.

Fazit:Wer "Das Schweigen der Lämmer" liebte, wird "Hannibal" vermutlich mit der selben Intensität verschlingen. Stilistisch bleibt sich Harris treu, indem er etwa ungewöhnliche Perspektiven wählt und den Leser direkt anspricht. Ein starker Magen ist für die Lektüre von Vorteil, denn einige Szenen sparen nicht mit blutigen Details. "Hannibal" gehört eindeutig zu den Höhepunkten des Thriller-Genres, das man keinesfalls versäumen sollte

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