Der etwas andere King: Richard Bachman

Cover "Todesmarsch" von Stephen King

Buchhändler enttarnte das Pseudonym

Auf den ersten Blick erscheint es paradox, dass sich im Oeuvre eines der populärsten Autoren der Gegenwart - die Gesamtauflage seiner Bücher hat längst eine halbe Milliarde Exemplare überschritten - Romane befinden, die selbst Fans oftmals unbekannt sind. Erst wenn man diese liest erkennt man den Grund hierfür. Die ursprünglich unter dem Pseudonym Richard Bachman (in hiesigen Breiten unabsichtlich oft als "Bachmann" eingedeutscht) veröffentlichten Romane "Amok", "Todesmarsch", "Menschenjagd", "Der Fluch" und "Sprengstoff" erfüllen größtenteils nicht die in Stephen Kings Werke gesetzten Erwartungen. Mit Ausnahme von "Der Fluch" bleiben in diesen Romanen übernatürliche Wesen oder Ereignisse völlig außen vor und der Horror ist rein psychologischer Natur.

Gerade deshalb zählen nach Meinung des Artikelautors die Richard-Bachman-Romane zu Stephen Kings besten Werken, speziell der erst 1987 in Deutschland publizierte Thriller "Todesmarsch". Freilich: Hätte nicht ein findiger amerikanischer Buchhändler zwei Jahre zuvor herausgefunden, dass sich hinter dem ominösen Autor Richard Bachman in Wahrheit Stephen King verbarg, wären diese Romane wohl kaum auf Deutsch erschienen und Kings offizielles Schaffen wäre um einige Perlen der Erzählkunst ärmer.

Der Tod hält überreiche Ernte

Die USA in einer marginal alternativen Zeitlinie: Das Land wird mit erbarmungsloser Härte von einer Militärjunta unter dem Kommando des "Major" genannten Anführers regiert. Armut und die ständige Angst vor den meist willkürlich durchgeführten Verhaftungen bestimmen das Alltagsleben. Um das Volk dennoch bei Laune zu halten, organisiert das Militär jedes Jahr den so genannten "Todesmarsch". Dabei werden 100 junge Menschen, die sich freiwillig für den Wettbewerb anmelden, aus allen Teilen der USA für die Teilnahme ausgewählt,. Zu verlockend ist der Siegespreis: Ein Leben in Luxus!

Der Haken an der Sache: Die 99 Verlierer erwartet der Tod; entweder aus purer Erschöpfung oder weil sie gegen eine der Spielregeln -  die Schrittgeschwindigkeit darf nicht öfter als dreimal unter 4 Meilen die Stunde fallen, körperlicher Kontakt mit den anderen ist verboten, ebenso das Verlassen der Strecke - verstoßen und von den umstehenden Soldaten erschossen werden. Unter den Teilnehmern befindet sich der 16-jährige Ray Garraty aus dem Bundesstaat Maine, dessen Vater einst von der Militärpolizei verhaftet wurde und nie wieder nach Hause zurückkehrte. Im Laufe des langen Marsches freundet sich Ray mit den anderen Läufern an, wohlwissend, dass es sich um Konkurrenten handelt. Insbesondere der ebenso zynische, wie eloquente Peter McVries wird in den nächsten Stunden zu seinem Wegbegleiter. Ein junger Mann nach dem Nächsten fällt der Erschöpfung, Krankheiten oder den Spielregeln zum Opfer. Bis es schlussendlich kommt, wie es kommen musste: Auch McVries und Ray gelangen ans Ende ihrer Kräfte...

Todesmarsch des Lebens

Lange vor "Carrie" geschrieben

Bereits während seiner Studienzeit hatte Stephen King unter anderem am Roman "Todesmarsch" zu schreiben begonnen. Den literarischen Durchbruch schaffte er aber mit seinem Horrorroman "Carrie", was seine Karriere in die heute bekannte Richtung dirigieren sollte. Dabei schrammte noch vor "Carrie" dieser Roman knapp an einer Veröffentlichung vorbei. Es lohnt sich, diesen etwas anderen Stephen King näher kennenzulernen.

Die innere Struktur des Werks ist denkbar einfach konstruiert: 100 Menschen laufen buchstäblich um ihr Leben und nur der Sieger wird mit dem Luxus des Überlebens belohnt. Wer sich auf Grund des "alternative Welt"-Szenarios zumindest einen Hauch Science Fiction erwartet, wird enttäuscht. Es wird lediglich erwähnt, dass deutsche Truppen während des Zweiten Weltkriegs in Südamerika landeten und Deutschland offenbar im Besitz der Atombombe sei. Diese klassischen Science-Fiction-Versatzstücke werden aber nicht weiter verfolgt, sondern lediglich nebenher erwähnt. Aus diesen vagen Andeutungen lässt sich ableiten, dass die USA auf Grund der Invasionsgefahr durch Deutschland in einen Militärstaat transformiert werden musste.

 

Aus 100 mach 1

Konsequenterweise beginnt der Roman mit der Ankunft des Protagonisten Ray Garraty am Startpunkt des "Todesmarsches" in Van Buren (Maine) und verlässt die Pfade der Strecke bis zum bitteren Ende nicht. Geschildert werden die Ereignisse aus Rays Sicht, der das Geschehen aus unmittelbarer Nähe wahrnimmt. Kings Meisterschaft erweist sich dabei weniger in originellen Wendungen, als vielmehr im Eintauchen in eine realistische Gefühlswelt eines Heranwachsenden, der sich in einem existenziellen Todeskampf befindet. Keiner der 100 jungen Leute ist mit übernatürlichen Fähigkeiten ausgestattet oder erweist sich als Held in bester Hollywood-Manier. Letzten Endes verfolgen sie allesamt nur ein Ziel: Überleben! Freundschaften werden in dieser Umgebung zur Belastung, bedeuten sie doch, dass das eigene Leben vom Tod des neu gewonnenen Freundes abhängt.

 

Existenzialismus

Stephen Kings Romane "Amok" und "Todesmarsch" in einem Band vereintÜberhaupt ist der Thriller "Todesmarsch" von Allegorien auf unsere Existenz durchtränkt: Auf der exakt gekennzeichneten Wegstrecke gibt es zwar einen Startpunkt, das Ziel ist jedoch ungewiss und hängt völlig von den eigenen Fähigkeiten und Kräften ab. Die Wegbegleiter erweisen sich als höchst unterschiedliche Charaktere: Da gibt es etwa den schweigsamen Stebbins, der unbeirrbar sein Rennen läuft, oder den sentimentalen Favoriten mancher Teilnehmer, der gutmütige Riese Scramm. Ihm würden die Teilnehmer - so sie denn vor ihm ausscheiden sollten - den Sieg vergönnen, da er ein junger Familienvater ist. Deshalb schwört eine Gruppe rund um Garraty, im Falle des Sieges seiner Witwe finanzielle Unterstützung zu leiten. Denn tragischerweise erkrankt der topfite Scramm während des Laufes an Grippe und scheidet vorzeitig aus.

Daneben tummeln sich Sympathieträger, aber auch Hassfiguren in dem schillernden Teilnehmerfeld, dessen Strecke nur abschnittsweise von Schaulustigen gesäumt wird. Einer von Rays neuen Freunden weiß um den Grund hierfür: Die Läufer würden schlichtweg durchdrehen, würden sie von Beginn weg von tausenden Zuschauern angefeuert oder ausgepfiffen werden. Dabei stellt der "Todesmarsch" das wichtigste nicht militärische nationale Ereignis des Jahres statt: Fast jeder US-Amerikaner verfolgt das Rennen im Fernsehen und Milliardensummen werden auf die Teilnehmer gewettet. Natürlich schlachtet die Regierung den Marsch für propagandistische Zwecke aus: Wie eine gütige Vaterfigur erwartet der stets eine Sonnenbrille tragende "Major" den Sieger am Ziel, um ihm zu gratulieren.

 

Monotonie des Grauens

Obwohl sich die spektakulären Zwischenfälle - einer der Teilnehmer versucht beispielsweise, die Soldaten zu überrumpeln - in Grenzen halten und das Rennen einer monotonen Grausamkeit folgt, in deren Verlauf die letalen Gewehrschüsse auf "disqualifizierte" Teilnehmer und Todesqualen in Folge von Durchfallerkrankungen oder Erschöpfung zu Begleiterscheinungen verkommen, an die sich die Läufer gewöhnen, berühren die Gespräche, aber auch inneren Monologe des Protagonisten den Leser und sorgen für fesselnde Unterhaltung. Seltsame Aspekte wie jener, dass sich die Teilnehmer tatsächlich freiwillig für den morbiden Lauf melden, werden schlüssig erklärt. Wenigstens einmal in ihren meist bedeutungslos scheinenden Leben wollen die jungen Männer zu gefeierten Helden werden. Schließlich repräsentieren sie ihre jeweiligen Bundesstaaten, wie etwa Ray Garraty, der "Stolz von Maine". Erst nach dem Startschuss wird den Teilnehmern allmählich bewusst, worauf sie sich eingelassen haben. Trotzdem dauert es bis zum ersten Toten, bis sie begreifen, dass der Todesmarsch kein Spiel ist.

 

Stephen Kings vielleicht bester Roman

Stilistisch ist das Buch als eindeutiger Stephen King der frühen Jahre zu erkennen: Meist kurze, prägnante Sätze, aus denen mitunter grimmiger Humor spricht. Augenblicklich fühlt sich der Leser in das Geschehen eingewoben, wobei die Gedanken des Protagonisten stets nachvollziehbar bleiben und durchaus vertraut wirken: Die Lustangst vor dem Tod, körperliche und seelische Schmerzen sowie der archaische Wunsch, von den Mitmenschen geliebt und geachtet zu werden, sind von zeitloser Aktualität.

Fazit: "Todesmarsch" ist kein typischer Stephen-King-Roman, sondern ein ungeschönter Thriller rund um den Lauf des Lebens, an dessen Ende uns alle der "Major" erwartet. Keine leichte, aber eine berührende Lektüre, die oftmals zum Nachdenken anregt.

Originaltitel: The Long Walk

Autor: Richard Bachman (Pseudonym von Stephen King)

Veröffentlichungsjahr: 1979 (USA) bzw. 1987 (Deutschland)

Seitenanzahl: 368 Seiten

Verlag: Ullstein Taschenbuch

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