Stabilisierung I

Das Erleben einer traumatisierenden Situation bringt Menschen in einen Ausnahmezustand. Es dauert, je nach Veranlagung, eine gewisse Zeit, bis Körper, Seele und Geist sich erholen. Das Wichtigste unmittelbar nach so einem Erlebnis ist die Reorientierung in Raum und Zeit. Folgende Übungen können dazu helfen:

Atemübung:
Der Patient legt die Hände auf den Bauch und achtet auf die Bewegung der Bauchdecke, während er atmet (Zwerchfellatmung): einatmen - ausatmen, einatmen - ausatmen.

Zählübung:
Der Patient zählt von 100 rückwärts bis 0: 100, 99, 98, 97...  

Rechenübung:
Der Patient rechnet: 100 - 6 - 6 - 6...

Die 5-4-3-2-1-Übung:
Der Patient konzentriert sich auf seine gegenwärtigen Seh-, Hör- und Körpereindrücke und zählt sie auf:

  • "Ich sehe an der Wand eine Uhr. Ich sehe..." (5 Eindrücke)
    "Ich höre eine Sirene. Ich höre... "(5 Eindrücke)
    "Ich spüre ein Kratzen im Hals. Ich spüre..." (5 Eindrücke)

Anschließend zählt er vier Eindrücke auf, dann drei, dann zwei, dann einen.

Sensitive Erlebnisse verschaffen: 
Den Patienten Kälte spüren lassen (kaltes Wasser, Eis), ihn etwas Scharfes (Essig) riechen lassen,  ihm scharfe Peperoni anbieten... 

Diese und weitere Übungen findet man bei Zobel Seite 37.

 

Distanzierung

Häufig werden traumatisierte Personen von Gefühlen und Erinnerungsfetzen an das Erlebte überschwemmt. Ausgelöst werden diese Schübe oft von einem Trigger, einem akustischen, taktilen, visuellen oder olfaktorischen Reiz, der im Erleben des Patienten in einer Beziehung zu der traumatisierenden Situation steht. So könnte das Wort "Park" ein Vergewaltigungsopfer an den Ort und die Tat erinnern. Die therapeutische Vorgehensweise versucht eine Eindämmung des Leidens durch Distanzierung. Der Patient erarbeitet sich ein Methodenreservoir, mit dem er sich in Notfällen helfen kann. Dazu gehören auch folgende Distanzierungs- und Neutralisierungsübungen.

Sicherer Ort

Der "sichere Ort" ist eine Imagination, die mit dem Therapeuten erarbeitet wird. Der Patient entwirft einen Ort, an dem er sich sicher, wohl und glücklich fühlen könnte. Die Vorstellung soll so stark werden, dass sie auch in Phasen der Überflutung beruhigend wirkt.

Beispiel für einen "sicheren Ort":

 "Ich bin in einem Garten, der geometrisch angeordnete Beete mit vielen bunten Blumen hat. Ich sehe rote Rosen. Nelken, Astern, Blumen aus allen Jahreszeiten. Umgeben ist der Garten von einer hohen Mauer mit Efeuranken..."

Desensibilisierung

Brigitte B. wurde in einem Park überfallen und vergewaltigt. Seither hat sie bei allem, was mit "Park" zu tun hat, Ängste und Schwindelgefühle, selbst beim "Park"platz für das Auto.
Schrittweise erarbeitet der Therapeut mit ihr ein Programm, wie sie sich langsam an den Trigger "Park" gewöhnt, ohne Überflutungen zu bekommen.
Die Patientin erarbeitet sich einen Plan, der von einer geringen Belastung (nur das Wort Park hören) ausgehend stufenweise sich dem Kern ihres Traumas (das Gebüsch im Volkspark in B.) nähert und solange an einer Stufe das Ertragen des Unbehagens mit ihren Methoden bekämpft, bis sie unbeeinflusst z. B. in Parkhäuser gehen kann. 

Lebensweg

Manche Patienten können sehr gut in Zeichnungen oder Malereien ihr Inneres ausdrücken. Diese können ihren gesamten Lebensweg von der Geburt an bis heute malerisch darstellen: als den Verlauf eines Flusses, als einen Wanderweg über Täler, Ebenen und Hügel, als ein Haus mit verschiedenen Stockwerken und Zimmern oder als eine Leiter, auf der sie nach oben steigen. Beim anschließenden Gespräch über das Werk arbeiten Patient und Therapeut heraus, welche Wirkungen verschiedene Ereignisse hatten. Als Fortsetzung könnte man ein Bild "Mein künftiger Lebensweg" malen. Sinn ist es, das traumatische Ereignis, das als "dominierend" empfunden wird, in Beziehung zum restlichen Leben zu bringen, um dadurch seine Herrschaft über die Lebensgestaltung einzudämmen.

 

Alle diese Übungen sind hilfreich, aber die Erarbeitung dauert lange und kann von vielen Misserfolgen begleitet sein.

 

Seelenlandschaft 2

Stabilisierung II

Das posttraumatische Belastungssyndrom (PTBS) ist von der fundamentalen Verunsicherung des Welt- und Selbstempfindens eines Menschen gekennzeichnet. Alles, was die Verunsicherung verkleinert, ist gut. Ein wichtiger Schritt dazu ist eine positive Beziehung zum Therapeuten.

Arbeitsbeziehung
 Patient und Therapeut müssen sich sympathisch sein. Wenn man einen "nicht mag", sollte man eine Therapie nicht beginnen. Eine übersteigerte Erwartung des Patienten an den Therapeuten und ein übertriebenes Überlegenheitsgefühl des Therapeuten (Halbgott in Weiß) sind schädlich.
"Die KlientIn ist 'der Boss', also die AuftraggeberIn, welche die Behandlung direkt (privat) oder indirekt (über die Krankenkasse) bezahlt; die TherapeutIn ist eine 'Servicedienstleistende im Gesundheitswesen'." (Huber 2, S. 31) Die Kommunikation erfolgt auf gleicher Ebene: Der Patient ist Fachmann für sein Leben, der Therapeut Fachmann in Psychotraumatherapie. Das Verhalten des Therapeuten ist von Empathie und Zurückhaltung geprägt. Die Empathie ermöglicht ihm ein Mitempfinden mit dem Patienten. Die Zurückhaltung (Abstinenz) ist nötig, um den Patienten nicht zu bevormunden oder zu manipulieren. Eine Therapie ist eine gemeinsame Arbeit, mehr soll und darf sie nicht sein. 

Ressourcen aktivieren:
Am Beginn der Therapie sollte der Therapeut nicht gleich intensiv auf die Schilderung des Traumaerlebnisses eingehen, sondern positive Erfahrungen aus dem Leben des Patienten erfragen. "Was hat Ihnen bei der Lösung anderer Probleme in Ihrem Leben geholfen?" Es sollen die positiven Seiten des Lebens des Patienten herausgearbeitet und erprobte Verhaltensweisen in Erinnerung gerufen werden. Das Gespräch soll den "Lebensgenuss" ins Bewusstsein rufen, damit der Patient nicht in einem Sumpf von Erinnerungen an das Schreckliche und in Selbstmitleid versinkt. Mit der Veränderung der allgemeinen Lebenseinstellung verändert sich auch der Stellenwert des Traumas, es verliert an seiner überragenden Bedeutung.

Imaginationsfähigkeit fördern:

"T[herapeut]: 'Das, was Sie mir berichtet haben, ist wirklich viel. Und ich kann es mir so richtig vorstellen, wie genug Sie von allem haben. Fällt Ihnen ein Bild dazu ein? [...]'

P[atient]: 'Ich stelle mir einen großen Kübel vor und den schütte ich dann auf einer großen Müllhalde aus.'

T: 'Wie fühlen Sie sich dann danach?'

P: Besser, obwohl das doch nur ein Bild ist.'" (Reddemann, S. 53)

Das Selbstbild prägt das Verhalten eines Menschen. Stellt sich ein Patient sich selber immer nur als Opfer vor, verfestigt sich dieses Rollenskript und erzeugt entsprechende Verhaltensweisen, die ihn immer wieder in Situationen bringt, in denen er als Opfer Schaden erleidet.
Die inneren Bilder des Patienten können vom Schreckbild zum Heilungsbild verwandelt werden. Statt sich ständig Bilder des Ausgeliefertseins vorzustellen, verschafft sich der Patient angenehme Vorstellungen und lindert sein Leiden. Statt sich immer nur als Opfer zu sehen, erinnert er sich an Situationen, in denen er Handlungsfreude und Erfolg hatte. Und er stellt sich vor, wie er sein möchte. Diese Vorstellung kann dann sein Leitbild für das künftige Leben werden, dem er nacheifert.

 Die innere Landkarte
Der Patient zeichnet oder malt auf ein Blatt Papier verschiedene Teile seines Inneren, seiner Persönlichkeit. Es können Rollen sein (Kind, Helfer, Held) oder Zustände und Gefühle (Angst, Wut, Leere). Unterschiedliche Schreib- und Gestaltungsweisen lassen auf den inneren Zustand schließen. Die Gestaltung des Blattes analysieren Therapeut und Patient. Der Therapeut lenkt durch Fragen die Aufmerksamkeit des Patienten auf bestimmte Teile seiner Persönlichkeit und stellt sie zur Wirklichkeit in Beziehung: "Wann und wie haben sie Glück empfunden? Warum ist 'Erwachsener' so klein geschrieben? Warum steht Angst ganz oben?" Anschließend kann er weitere Möglichkeiten der bildlichen Darstellung finden: Welche Teile stehen näher zur Außenwelt, welche ferner?
Nach einer Phase der Analyse folgt eine Phase des Spielens mit Möglichkeiten. "Was müsste geschehen, damit der 'Erwachsene' größer wird? Wie fühlt es sich an, wenn wir die Angst nach unten schieben? Was ändert sich, wenn die Wut blau wird?"

Diese Überlegungen dienen dazu, den Patienten aus dem negativen Gefühlskreis einen Weg zu einer positiveren Weltsicht finden zu lassen und das schreckliche Erleben in eine hilfreiche Umgebung einzubetten und so die negativen Auswirkungen einzudämmen.

Seelenlandschaft 3

Arbeit an der Erinnerung

Traumatisierte Personen werden wie Schiffe im Sturm von Gefühlswellen hin und her geworfen. Vor allem innere Ruhe ist die Voraussetzung, um das Schiff sicher durch den Sturm zu bringen. Seit Jahrtausenden üben Menschen sich darin, richtig zu atmen, um damit die innere Ruhe zu finden, mit der sie die Schwierigkeiten im Leben meistern können. Atmen, welche Form man auch nimmt, muss langfristig täglich geübt und verwendet werden, will man in den heilsamen Genuss der Folgen kommen. Für den ganzen Therapieprozess ist die Atmung wichtigste Grundlage. 

Die Bildschirmarbeit

Traumatisiertsein ist von der ständigen Erinnerung an die traumatisierende Situation geprägt. Sich den "schönen Seiten des Lebens" zu widmen, ist eine Möglichkeit der Linderung der Auswirkungen der Traumatisierung, die direkte Auseinandersetzung mit der schrecklichen Situation eine zweite.

"99,9 Prozent der Traumabehandlung besteht aus [...] Stabilisierung, Ressourcenaktivierung und ein Gezielt-in-Distanz-Bringen des Traumamaterials. Nur etwa die Hälfte aller komplex traumatisierten Menschen sind so zu stabilisieren, dass überhaupt eine geplante Exposition stattfinden kann." (Huber 2, S. 237) Von der "Hitze" der Gefühlswallungen gelangt der Patient durch die geplante Auseinandersetzung mit der Erinnerung an das Erlebte zu einer Coolness, die mit der Einsicht entsteht: "Es ist vorbei!"

Wenn die Voraussetzungen gegeben sind, geht der Therapeut die traumatisierende Situation mit dem Patienten so durch, als würden sie einen Film oder eine DVD am Fernseher betrachten. Man kann den "Film" anhalten, rückspulen, Ton und/oder Bild ausstellen, schwarz/weiß oder farbig ablaufen lassen, ein Standbild betrachten. Geht man so einzelne Teile des traumatisierenden Geschehens durch, erreicht man eine Distanzierung, die zu einer kalten Betrachtung der Situation führt. Zu einzelnen Teilen werden folgende Fragen gestellt:

  • "Was ist passiert? (Behavior);
  • Welche Gefühle waren beteiligt? (Affect);
  • Welche Körperempfindungen spielten eine Rolle? (Sensation) [;]
  • Welche Gedanken und Bewertungen spielten eine Rolle? (Knowledge)". (Huber 2, S.272)

In einem langwierigen und schmerzhaften Prozess arbeitet sich der Patient aus dem Sumpf heraus und bekommt "Boden unter die Füße". Die direkte Exposition bedarf eines sehr erfahrenen Therapeuten, denn es ist die Gefahr einer Retraumatisierung gegeben, wenn man sich direkt mit den Erinnerungen an die traumatisierende Situation auseinandersetzt. Das Scheitern einer Therapie kann sich zu einem zweiten Trauma ausweiten.

 

Seelenlandschaft 4

Wie war es früher?

Traumatisierungen gab es zu allen Zeiten. Die psychische Verletzung wird erst in der Psychologie im 19. Jahrhundert als solche erkannt und therapiert.

Wie sind Menschen vor dieser Zeit mit den seelischen Traumata fertig geworden?
Die Mythen und Religionen schildern in narrativer Form Katastrophen, die jeder auf Erden erleben kann. Andererseits schlagen sie "Er-Lösungen" vor, die heutigen Therapien ähnlich sind.

Der "sichere Ort" wird in modernen Therapien als Imagination angeboten. Früher war jede Kirche ein sicherer Ort, in dem nicht einmal die Polizei Verbrecher verhaften konnte.
Die Beichte als ein geistliches Gespräch ist als ein Vorläufer der Gesprächstherapie anzusehen.
Die Integration des Traumas in eine neue Lebensauffassung ist vergleichbar mit dem Gedankengang der Theodizee, dass durch das von Gott gesandte Übel der Mensch gebessert würde und sein Leben einen Sinn habe..
Der Lobpreis Gottes mag mit der Ressourcenentwicklung verglichen werden. Der Patient sieht überall die Allmacht Gottes und gewinnt dadurch Vertrauen in das Leben.

So könnte man viele Methoden der Lebenshilfe in Religionen und Mythen finden, die sich in modernen Formen der Psychotherapie fortsetzen. Die Traumatherapie bietet selten etwas "Neues". Sie aktualisiert (ur)alte Erfahrungen von Menschen und führt diejenigen, die durch traumatisierende Erlebnisse aus der Bahn geworfen wurden, zurück zu einem Zustand der inneren Ausgewogenheit.

 

Literatur und Internetadressen

Literatur

Fischer, Gottfried/Riedesser, Peter: Lehrbuch der Psychotraumatologie, München 2003

Görges, Hans-Joachim/Hantke, Lydia: Handbuch Traumakompetenz: Basiswissen für Therapie, Beratung und Pädagogik, Paderborn 2012  

Hantke, Lydia: Vom Umgang mit Dissoziationen und Körpererinnerungen, in: Zobel, Martin (Hrsg.): Traumatherapie. Eine Einführung, Bonn 2006, S.112-134 

Huber, Michaela: Wege der Trauma-Behandlung, zwei Bände, Paderborn 2003/2006

Reddemann, Luise: Eine Reise von 1000 Meilen beginnt mit dem ersten Schritt. Seelische Kräfte entwickeln und fördern, Freiburg 2007

Reddemann, Luise: Stabilisierung, in: Zobel, Martin (Hrsg.): Traumatherapie. Eine Einführung, Bonn 2006, S.46-66

Zobel, Martin (Hrsg.): Traumatherapie. Eine Einführung, Bonn 2006

 Internet

http://www.trauma-info.de/info-broschueren-trauma.php (Broschüren)

http://www.traumatherapie.org/ (speziell für Kinder: Traumapädagogik)

http://www.therapeuten.de/therapien/traumatherapie.htm (Therapeutenliste)

http://www.degpt.de/ (Homepage der "Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie)

http://pagewizz.com/trauma-was-tun/ 

Copyright der Bilder beim Autor

Anmerkung

Dieser Artikel möchte informieren und einen kleinen Einblick in Methoden und Verfahren der Traumatherapie geben. Seine Lektüre ersetzt keineswegs eine Therapie oder macht einen Leser zum Therapeuten. Wer traumatisiert ist, muss zum Arzt gehen. 
Andererseits gehören sehr viele der Übungen und Überlegungen zu den Grundlagen der Lebensgestaltung für jeden Menschen. Atemübungen sind immer hilfreich. Gespräche über Probleme helfen ebenfalls. So kann man in den dargestellten Übungen Anregungen zu bewussten Lebensführung für alle Menschen sehen.

Rechtlicher Hinweis: Bitte beachten Sie, dass der Artikel niemals fachlichen Rat durch einen Arzt oder Psychotherapeuten ersetzen kann.

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