Die ganze Welt schaute dem Massaker zu - oder auch nicht, denn viele internationale Medien hielten sich bewusst mit der Berichterstattung über die Ereignisse zurück, während die landesinternen Medien systematisch zu Propaganda- und Aufstachelungszwecken missbraucht wurden. Selbst die, die eventuell etwas gegen dieses Grauen hätten ausrichten können, griffen nicht ein. Nur durch viel Glück und dank der zivilen Personen, die den Mut hatten, mögliche Opfer vor den Tätern zu verstecken, überlebten die Menschen.

Über hundert Tage war die ruandische Bevölkerung den Greueln ausgesetzt. Anstatt den Albtraum zu beenden, beschlossen die Entscheidungsträger der Vereinten Nationen, ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt die internationalen Friedenstruppen (UNAMIR - United Nations Assistance Mission for Rwanda) zu verkleinern.

Immerhin zwei Millionen Menschen gelang die Flucht aus Ruanda in die Nachbarstaaten. Diese tauschten die Angst vor dem Getötetwerden gegen die verheerenden Verhältnisse in den Flüchtlingslagern ein, die ihnen wiederum viel Leid, unter anderem durch Hunger, Durst und Seuchenkrankheiten, einbrachten. Etwa 500.000 ereilte dort der Tod infolge eines Cholera-Ausbruchs.

Doch wie konnte es zu diesem grausigen Massaker kommen? Um zu verstehen, wie dieser Völkermord überhaupt passieren konnte, muss man sich die Geschichte Ruandas und insbesondere seine Kolonialgeschichte anschauen.

Tote ruandische Flüchtlinge aus den Flüchtlingscamps (Bild: Wikipedia)

Hutu und Tutsi - wie aus Ackerbauern und Viehzüchtern Feinde wurden

Die Hutu und Tutsi sind die beiden größten sozialen Gruppen, die schon lange vor der Besiedelung durch europäische Kolonialherren und Missionare auf dem Gebiet der heutigen Staaten Ruanda und Burundi lebten. Im heutigen Ruanda sind 85 Prozent der Bevölkerung Hutu und 14 Prozent Tutsi.

Ob jemand Tutsi, Hutu oder Twa war, hing damals nicht von der Zahl der Rinder oder willkürlichen Einteilungen in angeblichen "Ethnien" ab, sondern von seinem Tätigkeitsschwerpunkt. Wer Äcker bestellte, war ein Hutu, Viehbesitzer waren Tutsi, Jäger und Sammler wurden Twa genannt. Da nicht jeder sich Vieh leisten konnte, gab es weniger Tutsi als Hutu. Die Tutsi standen im sozialen Rang ganz weit oben - sie hatten es geschafft. Darunter war die Mehrheit der Hutu, dann folgten die Twa-Ureinwohner.

Ländlicher Alltag in Ruanda. Für die Überlebenden bleibt die Erinnerung. (Bild: Amy Rathgeb / Flickr)

Dieser soziale Rang war jedoch niemals festgelegt. Wer als Twa geboren wurde, konnte sich eines Tages ein Feld besorgen, darauf Obst und Gemüse anbauen, so zum Hutu aufsteigen und am Ende seines hart arbeitenden Lebens seinen Kindern stolz eine gepflegte Viehherde hinterlassen, die sein Erbe als Tutsi weiterführen würden. Genauso konnten sie im sozialen Status auch wieder absteigen. Allen gemeinsam war indes die Sprache: Kinyarwanda, eine Bantusprache.

Kurz gesagt: Die Hutu, Tutsi und Twa waren ein Volk - bis sie (ausgerechnet!) von den deutschen Kolonialisten und später den Belgiern, welche die Kolonialherrschaft über das afrikanische Land ab 1923 übernahmen, in ethnische Gruppen aufgeteilt wurden. Das war die Zeit der so genannten "Rassentheorien", die sich bald darauf ein gewisser Diktator mitten in Europa auf schreckliche Weise zunutze machte. Diese Einteilung führte dazu, dass die Tutsi von den Kolonialherren als überlegene "Ethnie" angesehen wurden.

So bekamen die Tutsi einen besseren Zugang zur Bildung, um dann in höheren Posten im kolonisierten Staatsapparat eingesetzt zu werden. Ab 1933 sorgte die zu dem Zeitpunkt noch belgische Verwaltung Ruandas dafür, dass diese soziale Ungerechtigkeit Schwarz auf Weiß gedruckt wurde: Von nun an stand "Hutu" oder "Tutsi" auf den Personalausweisen. Bezeichnungen, die sich einst nur auf den sozialen Status bezogen hatten, füllten nun die Ausweispapiere wie Brandzeichen.

Natürlich gefiel die Ungleichbehandlung den mehrheitlichen Hutu nicht, so dass sie nach dem Abzug der Europäer selber die Macht übernahmen, der Anteil der Gewalttäter unter ihnen den Tutsi das Leben zur Hölle machte bzw. es ihnen in vielen Fällen gewaltsam nahm. Der Konflikt zwischen Hutu und Tutsi war geboren.

Der Bürgerkrieg in Ruanda

Nach dem 2. Weltkrieg entbrannte in Ruanda ein politischer Streit darüber, ob der Staat in Ostafrika nach "alter" Kolonialtradition von den bisher privilegierten Tutsi weiter regiert werden sollte, oder ob die Hutu als Mehrheit die Macht übernehmen sollten. In den 1950er Jahren wurden die Hutu zunehmend mehr in die Machtpositionen und die allgemeine Bildung einbezogen. Doch statt dem Frieden wieder ein Stückchen näher zu kommen, schürte dies den Konflikt noch mehr. Denn die bislang überwiegend von Tutsi beanspruchte Elite hatte sich mittlerweile so sehr an ihre Privilegien gewöhnt, dass sie sie um keinen Preis wieder verlieren wollten. In der Folge starben etliche hundert Menschen auf beiden Seiten durch die gegenseitig verübten Gewalttaten, und die belgische Verwaltung ersetzte einen Großteil der Tutsi in den oberen Staatsposten durch Hutu. Damit wurde praktisch über die Hutu-Revolution der Parmehutu-Partei Anfang der 1960er Jahre das Hutu-Regime in die Wege geleitet. Es begann eine Schreckensherrschaft, bei der allein unter den Tutsi insgesamt 20.000 Tote (unter ihnen sämtliche ehemaligen Tutsi-Politiker) und 30.000 Flüchtlinge zu beklagen waren. Alle Versuche geflüchteter Tutsi-Gruppen, sich zu wehren, wurden bis spätestens 1967 blutig niedergeschlagen.

Bürgerkrieg in Ruanda (Bild: mih-peh / Flickr)

Im Herbst 1972 brach als Reaktion auf die Massaker im benachbarten Burundi, bei dem 100.000 bis 150.000 Hutu ermordet wurden, eine neue, hassgeschwängerte Gewaltwelle der Hutu gegen die Tutsi in Ruanda aus. Zu dem Zeitpunkt teilten sich die Hutu bereits in Extremisten auf, die unbedingt eine erneute Machtstellung der Tutsi verhindern wollten und laut nach Vergeltungsmaßnahmen für eigenes erlittenes Unrecht schrie, und auf der anderen Seite gemäßigten Hutu, die eigentlich ein friedliches Zusammenleben wünschten oder zumindest keine Gewalt schüren wollten.

Die heftige Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Hutu-Lagern wusste der vormalige Verteidigungsminister Juvénal Habyarimana für sich zu nutzen und putschte sich am 5. Juli 1973 zum neuen Präsidenten. Unter Habyarimana verebbte der Konflikt zwischen den Tutsi und Hutu zunächst. Die Parmehutu wurde allerdings nur durch seine eigene Einheitspartei, die "Republikanische nationale Bewegung für die Entwicklung", wie die MRPD übersetzt heißt, ersetzt, er sicherte seine Macht und die seiner Nachkommen ab und schränkte de facto die Rechte der Tutsi im politischen, Arbeits- und Bildungsbereich ein. Außerdem weigerte er sich mit dem Argument, das Land würde aufgrund des Bevölkerungsanstiegs knapp, die schätzungsweise 600.000 Tutsi-Flüchtlinge aus Uganda und den anderen Nachbarländern wieder in Ruanda aufzunehmen.

Zudem verschärfte die Wirtschafts- und Staatskrise Ruandas die Situation. Hierbei rächte es sich, dass die Wirtschaft sich zu einem sehr großen Teil auf die Landwirtschaft stützte, so dass der Verfall des Kaffeepreises sich verheerend auswirkte. Um dem Staat die fehlenden Einnahmen zu sichern bzw. staatliche Gelder zu sparen, wurden Schulgebühren eingeführt, und auch die medizinische Versorgung wurde wieder kostenpflichtig.

Die Quittung dafür bekam der Hutu-Machthaber Habyamarimana prompt: Immer mehr kritische Stimmen wurden laut, und es bildeten sich verschiedene oppositionelle Gruppen, die die Diktatur beenden und eine Demokratie aufbauen wollten. Und zwar gemeinsam mit den einst geflüchteten Tutsi, die sie wieder ins Land holen wollten. Daraufhin versprach Habyarimana, Reformen umzusetzen, doch dazu kam es nicht mehr, weil die Tutsi-Rebellen bereits voller Wut als "Ruandische Patriotische Front" (RPF) formiert aus Uganda anrückten. Damit wurde ein Bürgerkrieg eingeleitet, der bis zum Ende des Völkermordes im Juli 1994 und dem letztendlichen Sieg der Tutsi andauerte. Unterstützung bekam Hutuführer Habyarimana in diesem Kampf von Frankreich, Belgien und Ex-Zaire (der heutigen Republik Kongo).

Die Tutsi konnten hingegen nicht auf Hilfe hoffen. Ihnen schlug nur von allen Seiten die Hetze gegen sie sowie gegen die anderen Oppositionellen, unter denen auch viele Hutu waren, entgegen. Der Bürgerkrieg tobte weiter, die immer wieder geschürte "Hutu-Power" gegen die wütenden RPF-Truppen. Der Hass wurde immer wieder neu entfacht. In der Zeit zwischen Oktober 1990 und der Ausführung des Genozids im Jahre 1994 wurde die Impuzamugambi-Miliz und die militärische CDR-Partei gebildet. Nur kurz wurden die Kriegshandlungen unterbrochen durch die Verhandlungen des Friedensprozesses von Arisha, dessen Abkommen am Widerstand der MRND-Mitglieder (also der regierungstreuen Hutu) scheiterte.

Genozid in Ruanda: Literatur und Augenzeugenberichte
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Und so kam es zum Völkermord an den Tutsi und vielen Hutu

Schon seit Anfang der 1990er Jahre propagierten die Medien Ruandas aktiv eine rassistische Denkweise gegenüber den Tutsi und trugen so dazu bei, den gewalttätigen und tödlichen Hass gegen sie zu schüren. Eine besondere Rolle kam hierbei - da zu dem Zeitpunkt 40 Prozent aller Ruander Analphabeten waren - dem Radio zu. Vor allem über den staatlichen Sender Radio Rwanda und den populären Radio- und Fernsehsender "Radio-Télévision Libre de Mille-Collines", der vor allem wegen seiner Kritik an Belgien und dessen UN-Soldaten bekannt war, wurde die tutsifeindliche Propaganda verbreitet. Am 22. November 1992 rief einer der Chefs der MRND-Partei, Leon Mugesara, offiziell zum Mord an den Tutsi auf. Zwar wurde er dafür angeklagt, kam allerdings davon, weil er ins Ausland floh. Und der geschürte Hass in Ruanda brodelte weiter...

Bis 1994 häuften sich die Gewaltaufrufe. Bei der gezielten Rhetorik, welche den Hass gegen die Tutsi aufstacheln sollte, drehte man bewusst den Spieß um, indem Behauptungen aufgestellt wurden, die Tutsi würden den Völkermord an den Hutu planen und nicht umgekehrt. Zudem wurden immer wieder Gewalttaten von Tutsi gegen die Hutu betont und die Tutsi als "antidemokratisch" hingestellt. Auch harte, abwertende und entwürdigende Verbalangriffe auf die Tutsi gehörten zu dieser Hassrhetorik.

Parallel zu dieser Propagandamaschinerie wurden die Milizen organisiert, die bei der Umsetzung dieses Grauens eine entscheidende Rolle spielen würden. Angeleitet wurden diese von Staatsbediensteten, also Polizisten und Soldaten des ruandischen Staates. Der Verteidigungsminister Théoneste Bagosora entwarf Anfang 1992 den Masterplan für den Genozid, und zwischen 1993 und 1994 wurden ca. 1.500 Menschen zu einer Todesliste hinzugefügt. Währenddessen wurden die Waffen unter den Hutu in der Bevölkerung verteilt. Bereits 1984 verfügten auf dem Land 83 Prozent aller Haushalte in Ruanda mindestens eine Machete. Durch Waffenimporte - unter anderem aus Großbritannien, den USA und Russland - kamen nun noch jede Menge Schusswaffen hinzu.

Der Mord an dem Hutu-Führer Habyarimana war schließlich der Startschuss für den Genozid an den Tutsi. Und das, obwohl man nicht einmal wusste, auf wen er zurückging. Nach heutigen Kenntnissen steckte wohl der französische Milizionär Paul Barril dahinter. Überhaupt spielte Frankreich offenbar eine nicht zu unterschätzende Rolle bei diesen grausigen Geschehnissen. So soll es bei der Ausbildung der Hutu-Milizen maßgeblich mitgeholfen und diese auch ideologisch unterstützt haben. Dem damaligen französischen Präsidenten François Mitterrand wird bis heute vorgeworfen, dass er im Juni 1994 seine Truppen im Rahmen der "Opération Turquoise" entsandte, um die Hutu-Milizen gegen die Tutsi zu unterstützen. Nachweislich halfen die französischen Soldaten den Hutu-Tätern, sich in den heutigen Kongo abzusetzen, damit sie sich dort neu formieren konnten.

Im Verlauf des April 1994 breiteten sich die Gewalttaten über ganz Ruanda aus, nachdem alle verbleibenden leitenden Tutsi in den Präfekturen abgesetzt worden waren. Die Aufforderungen zum Völkermord erfolgten dabei durch das Militär sowie staatliche Kanäle, die durch die Medienpropaganda unterstützt wurden. Anfangs wurden auch einzelne, prominente Tutsi getötet, dann nahmen die Massenermordungen überhand.

Völkermord in Ruanda: Gedenkstätte (Bild: RobinAKirk / Flickr)

Viele Tutsi wurden an öffentlichen Orten zusammengetrieben. Oft versuchten sie, selbst an diesen Orten (zum Beispiel Kirchen, Schulen oder Krankenhäusern) Zuflucht zu suchen in der Hoffnung, das könnte ihr Leben retten und sie könnten sich in der Gemeinschaft besser gegen die Angreifer verteidigen. Eine fatale Fehleinschätzung. Die angreifenden radikalen Hutu hingegen zögerten ihre Attacken oft hinaus, um eigene Verluste zu vermeiden, und ließen ihre Opfer oft systematisch aushungern.

Die Massaker, an denen schätzungweise 175.000 bis 210.000 Täter (14 bis 17 Prozent der damaligen Hutu-Männer) beteiligt waren, fanden praktisch überall statt, es wurden Patrouillen und Hetzjagden gegen die Menschen durchgeführt, massenhaft gefoltert und vergewaltigt, die ermordeten Opfer wurden in Massengräber geworfen oder einfach liegen gelassen. Ruanda war eine einzige Hölle.

Weit über eine Million Menschen verloren bei dem Völkermord ihr Leben - hinzu kamen die vielen tausend, die bereits im Vorfeld durch den Bürgerkrieg starben. Mehr als eine halbe Million flüchteten. Aber auch die Vereinten Nationen zogen es nach der Ermordung zehn belgischer Blauhelme und der Gefangennahme zahlreicher ihrer Leute durch die Hutu-Milizen vor, viele ihrer in Ruanda stationierten UN-Soldaten aus dem Land abzuziehen.

Vormarsch der RPF

Vormarsch der RPF (Bild: Wikipedia)

Gleichzeitig mit den Massakern tobte der Kampf mit den RPF-Tutsi-Rebellen. Auch dabei starben mehrere zehntausend Menschen. Nach und nach eroberten diese verschiedene Gebiete über das Land verteilt. Wenn diese Gebiete in die Hand der RPF-Truppen gelangt waren, hörten die Tötungen der extremistischen Hutu meist rasch auf. Nach Beendigung des Genozids erlangte der Leiter der RPF-Truppen, Paul Kagame, die Macht in Ruanda und ist bis heute dort Präsident.

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Die_Utopische, am 09.04.2014
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Bildquelle:
Karin Scherbart (Hotel Ruanda - ein Film über Zivilcourage in schlimmen Zeiten)

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