Wer war Walther Rathenau?

Walther Rathenau war der Sohn von Emil Rathenau, der 1883 die AEG gründete, die sich zum damals weltgrößten Elektrokonzern entwickelte. Walther gehörte damit zur deutschen "High Society", aber er stieß bei Zeitgenossen wegen seiner jüdischen Herkunft immer wieder auf Vorbehalte. So konnte er als Jude kein Reserveoffizier werden, und auch eine Karriere in der Politik schien ihm verwehrt. Daraufhin schlug er zunächst eine akademische Laufbahn ein und studierte Physik, Philosophie und Chemie sowie anschließend noch Maschinenbau. Im Fach Physik erwarb er den Doktortitel. Dann trat er in die Fußstapfen seines Vaters und wurde 1912 Vorsitzender des Aufsichtsrats der AEG. Gleichzeitig wollte er sich von seinem Vater emanzipieren und betätigte sich deshalb auch als Maler und Schriftsteller.

Der Beginn des ersten Weltkriegs 1914 verstörte Rathenau zutiefst, weil er den Krieg als sinnlos empfand. Mitten im Krieg entwickelte er seine Vision einer mitteleuropäischen Wirtschaftsunion mit Belgien, Frankreich, Österreich-Ungarn. Gleichzeitig stellte er sich nach Kriegsbeginn – aus Patriotismus – als Organisator der Rohstoffbewirtschaftung zur Verfügung und sorgte damit dafür, dass während der vier Kriegsjahre in Deutschland die Rohstoffversorgung gewährleistet war.

Nach dem Ende des Krieges und dem Untergang des Kaiserreichs gehörte Rathenau 1918 zu den Mitbegründern der DDP, der Deutschen Demokratischen Partei, und nahm zunächst als Wirtschaftssachverständiger aktiven Anteil an der Ausgestaltung der ersten deutschen Demokratie. Dadurch standen ihm nun doch politische Ämter offen. So wurde er im Mai 1921 Wiederaufbauminister im Kabinett von Joseph Wirth (Zentrum) und am 31. Januar 1922 Außenminister. Wichtigste Ziele waren für Rathenau eine Reduzierung der Reparationszahlungen, die Deutschland im Versailler Vertrag auferlegt worden waren, und eine Verständigung mit den ehemaligen Kriegsgegnern. Tatsächlich erreichte Rathenau die Verminderung der deutschen Reparationszahlungen 1922 bei der Konferenz von Cannes, und er konnte im gleichen Jahr in Rapallo durch einen Vertrag mit der Sowjetunion die Isolation Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg beenden.

Das Vermächtnis des Walther Rathenau

Zehn Wochen nach Rapallo, am 24. Juni 1922, fiel Rathenau einem von Rechtsextremisten lange geplanten Attentat zum Opfer. Als Jude, Industrieller und Liberaler verkörperte er für die Rechtsextremisten, ja für die politische Rechte insgesamt, all das, was sie am demokratischen politischen System hassten, und sie hofften, mit dem Mord an Rathenau einen Bürgerkrieg auszulösen, der sie letztlich an die Macht bringen würde.

Die Reaktionen auf das Attentat waren jedoch ganz anders, als die politische Rechte erwartet hatte. Es zeigte sich, dass die erste deutsche Demokratie nicht nur erbitterte Gegner hatte, sondern auch glühende Befürworter, dass sie vor allem – und wenn man oft Anderes hört – im Volk eine starke Basis hatte. So demonstrierten Millionen Deutsche in Protestkundgebungen und Trauerzügen gegen den konterrevolutionären Terror. Allein in Berlin protestierten weit über 400.000 gegen das Attentat und demonstrierten für die Weimarer Republik. Die Reaktionen auf die Ermordung Rathenaus stärkten also letztendlich die erste deutsche Demokratie, und während ihres Bestehens blieb der 24. Juni ein Tag des öffentlichen Gedenkens, wobei Rathenau zunehmend von der Arbeiterbewegung geehrt wurde.

Das hohe Ansehen Rathenaus in der Arbeiterbewegung beruhte vor allem auf der Verbreitung seines 1917 erschienenen Buches "Von kommenden Dingen", in dem er eine bemerkenswerte Vision für die künftige Entwicklung der Industriegesellschaften entworfen hat. Ich möchte im Folgenden die Kernthesen dieser Vision vorstellen und der Frage nachgehen, inwieweit die gesellschaftliche Ordnung, die Rathenau hier beschrieben hat, inzwischen Realität geworden ist oder nicht.

 

Klassenloser Volksstaat versus Klassengesellschaft

Die gesellschaftliche Ordnung, die Rathenau als wünschenswert erachtet, kann als klassenloser Volksstaat mit kapitalistischem Wirtschaftssystem umschrieben werden. Und zwar leitet Rathenau sein gesellschaftliches Idealbild aus einer Analyse der bisherigen Entwicklungsgeschichte der Menschheit ab. Danach hat die bisherige Geschichte der Menschheit infolge der Dominanz eines Entwicklungsprinzips, das Rathenau als Mechanisierung bezeichnet, dazu geführt, dass alles, Dinge, Mensch, Natur, Gott, Mittel zum Zweck geworden ist. Rathenau spricht hier von einer Mechanisierung des Geistes.

Zum anderen hat die Mechanisierung – so Rathenau - zur Folge, dass jedes Individuum dazu gezwungen ist, mit anderen zu konkurrieren und sich auf eine bestimmte Tätigkeit zu spezialisieren, während Mechanisierung auf der kollektiven Ebene dazu geführt hat, dass sich in jedem Volk jeweils zwei Klassen herausgebildet haben, von denen die eine Klasse die andere beherrscht und ihre Macht durch die Vererbung von Bildung und Besitz absichert. Hier vermischen sich letztlich - wie Rathenau betont - die alte feudale und die neue kapitalistische Schichtung.

Für Rathenau ist dieses Fernhalten eines Teils des Volkes von Machtpositionen nicht nur ungerechnet, sondern beraubt die Betroffenen auch aller Chancen auf seelische Entfaltung, auf ein Leben in Freiheit. Ferner führt die Dominanz der Mechanisierung aufgrund ihres unethischen Charakters zu Feindseligkeit und Misstrauen zwischen den einzelnen Menschen, den verschiedenen Schichten eines Volkes und zwischen ganzen Völkern.

In der neuen Ordnung wird demgegenüber den Folgen der Mechanisierung, insbesondere der Verfestigung von Klassenschranken entgegengewirkt, und zwar durch eine ständige Vermischung, ein andauerndes Auf- und Absteigen von Führenden und Geführten. Damit einher geht eine massive Stärkung des Staates. So erhält der Staat ungehinderten Zugriff auf die privaten Vermögen, wird dadurch unermesslich reich und kann diesen Reichtum der Gemeinschaft zur Verfügung stellen. Folglich können durch den Ausbau von Bildungseinrichtungen alle Begabungen und damit die seelische Entfaltung jedes Einzelnen gefördert werden, so dass wirklich jeder die Chance hat zum gesellschaftlichen Aufstieg.

Diese sozialen Veränderungen haben wiederum Rückwirkungen auf die Antriebskräfte unternehmerischen Handelns. Das heißt: Die Umverteilung des Reichtums zugunsten der Gemeinschaft und der Abbau der Klassenschranken gehen für Rathenau einher mit neuen – kapitalistischen - Unternehmensformen, bei denen das Florieren des Unternehmens die Hauptantriebskraft des Besitzers ist und nicht mehr seine Habsucht und Machtgier. Letztere werden also durch Verantwortungsgefühl ersetzt.

Basis dieses gesellschaftlichen Wandels sind Rathenau zufolge tiefgreifende Veränderungen der Gesinnung der Menschen, ihres ethischen Empfindens.

 

Die Rolle rückwärts zum Feudalstaat

Was die gesellschaftliche Ordnung betrifft, die sich am Anfang des 21. Jahrhunderts in Deutschland und damit in dem Land herausgebildet hat, um das sich der Patriot Rathenau am meisten gesorgt hat, so kann gezeigt werden, dass es derzeit in Deutschland ökonomische, politische und soziale Trends gibt, die als Prozess einer Refeudalisierung im Kontext des Kapitalismus gedeutet werden können, wobei diese Refeudalisierung als Resultat des Siegeszugs der neoliberalen Ideologie seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gedeutet werden kann.

Und zwar geht es hier um eine Refeudalisierung der Werte, der Wirtschaftsorganisation und der Sozialstruktur. Die Refeudalisierung der Werte kommt in einer Abkehr vom Leistungsprinzip zum Ausdruck. Das heißt: Hohe Gehälter und Boni können nicht mehr mit Leistung begründet werden. Als Folgewirkung – und hier zeigt sich die Refeudalisierung der Wirtschaftsorganisation – hat sich eine ständisch privilegierte Managerklasse herausgebildet, die bloß ihren Eigennutz verfolgt. Diese bildet gemeinsam mit den Besitzern großer Vermögen die neue herrschende Klasse. Wesentlich für die Refeudalisierung der ökonomischen Verhältnisse ist also das Auseinanderklaffen zwischen Löhnen und Gehältern auf der einen Seite und dem Einkommen aus Vermögen, unternehmerischer Tätigkeit sowie aufgrund von Erbschaften auf der anderen.

Die Refeudalisierung der Sozialstruktur ist wiederum eine Folge der Refeudalisierung der Werte und der Wirtschaftsorganisation.Von besonderer Bedeutung ist hier die Entwicklung eines "Prekariats", d.h., einer sozialen Schicht, die durch "prekäre" Arbeitsmarktverhältnisse und damit einhergehende Verarmung gekennzeichnet ist. Ferner ist der Bildungsgrad stark von der sozialen Herkunft abhängig. Das heißt: In Deutschland werden nicht nur Vermögen vererbt, sondern auch der Bildungsgrad. Gleichzeitig schotten sich die Eliten zunehmend gegenüber "Aufsteigern von unten" ab.Als Resultat der Refeudalisierung in Deutschland ist also wiederum ein System entstanden, in dem es – wie von Rathenau angeprangert – "ewige Gewinner" und "ewige Verlierer" gibt, das also gekennzeichnet ist durch die Herausbildung einer herrschenden Klasse, bei der die Macht dauerhaft konzentriert ist, so dass die Dynamik eines fortwährenden Auf- und Abbaus von Machtpositionen fehlt - wie Rathenau sie für wünschenswert erachtet hat. In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf die Ergebnisse einer aktuellen Studie verweisen, denen zufolge die Einkommensungleichheit in Deutschland derzeit so hoch ist wie vor 100 Jahren.

Der skandinavische Wohlfahrtsstaat als Gegenmodell?

Da in den skandinavischen Wohlfahrtsstaaten das Gewicht der Sozialvererbung, also der Vererbung der Schichtzugehörigkeit, und damit die soziale Ungleichheit abnimmt, während sich gleichzeitig die Marktwirtschaft in diesen Ländern als global konkurrenzfähig erweist, erscheint die Gesellschaftsordnung in den skandinavischen Ländern als Gegenmodell zum deutschen "Neofeudalstaat".

Und zwar sind beim skandinavischen Modell des Wohlfahrtsstaates– wie Joakim Palme, schwedischer Sozialpolitik-Experte und Sohn des legendären Premiers Olaf Palme, deutlich macht – die Bildungsausgaben der Dreh- und Angelpunkt, um gleichzeitig  soziale Gleichheit und Wirtschaftswachstum zu erreichen. Das heißt: Hier ist der Wohlfahrtsstaat eine breit angelegte Investition in Humankapital. Er will mit Blick auf Vollbeschäftigung die Potenziale der gesamten Bevölkerung breit zur Entfaltung zu bringen, und zwar indem Menschen mit unterschiedlichem familiären Hintergrund institutionell gesichert gleiche Chancen erhalten.

Das bedeutet auch, dass im skandinavischen Wohlfahrtsstaat die Mittelklasse in das Wohlfahrtssystem integriert ist. Hinzu kommt, dass, wie Palme zeigt, die sozialen Dienste in Skandinavien selbst Jobs zur Verfügung stellen und damit die Erwerbsquote erhöhen, so dass mehr Menschen Steuern zahlen, was die Finanzierung des Wohlfahrtsstaates wiederum auf eine breitere und sicherere Basis stellt. Demgegenüber kassiert in den USA der Staat Steuern und gibt das Geld für arme Leute aus, um ihnen das Überleben zu sichern. Trotz aller Unterschiede zu den USA geht es aber auch in Deutschland nicht um "Wohlfahrt für alle", sondern um "Sozialschutz für sozial Schwache" in einer noch (oder wieder) ständisch geprägten Gesellschaft.

Entscheidend für die Effektivität von Wohlfahrtsprogrammen ist also nicht die Summe, die für den Wohlfahrtsstaat ausgegeben wird, sondern die Verwendung des Geldes. Es hängt mit anderen Worten vom spezifischen Design der Wohlfahrtsprogramme ab, ob ein ausgebauter Sozialstaat die Konkurrenzfähigkeit einer Gesellschaft stärkt oder schwächt. Und dabei gilt, dass ein Sozialstaat, der sich mit Hilfe von Bildungsprogrammen um sozialen Ausgleich bemüht und nicht nur Almosen verteilt, auch die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft erhöht.

 

Schlusswort

Es bleibt festzuhalten, dass Deutschland derzeit mit der Herausbildung einer starren sozialen Schichtung einschließlich der Etablierung einer neuen herrschenden Klasse eine "Renaissance" derjenigen gesellschaftlichen Zustände erlebt, die Walther Rathenau bereits vor 100 Jahren angeprangert hat, während der skandinavische Wohlfahrtsstaat starke Affinitäten zu der Gesellschaftsordnung aufweist, die Rathenau in seiner Zukunftsvision beschrieben hat.

Besonders bedenklich ist, dass die genannte Studie zur Einkommensungleichheit auch zeigt, dass die "Refeudalisierung" nicht nur ein deutsches Phänomen ist, sondern ein globales. Das heißt: In fast allen Weltreligionen hat die Einkommensungleichheit seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts rapide zugenommen, vor allem in den USA. Und in dem Maße, wie die Reichen immer reicher geworden sind, sind nicht nur breite Bevölkerungsschichten verarmt, sondern auch die Regierungen. Ganz wie von Rathenau beschrieben, gehen also die für die Klassengesellschaft typischen horrenden Einkommensungleichheiten mit einer Verarmung des Staates einher, während bei einer Nivellierung der Einkommen der Staat reich ist.

Die Mär vom bösen Staat, der den braven Bürgern in Form von Steuern das Geld aus der Tasche zieht, um es in unnützen Projekten zu verplempern oder damit "Sozialschmarotzer zu päppeln", ist also Ausdruck der ideologischen Position von sogenannten liberalen Politikern, deren Klientel in Wirklichkeit diejenigen Reichen sind, die das Anhäufen von immer mehr Reichtümern als ihr "Menschenrecht" betrachten. Mit einer solchen Form von Liberalismus hatte der Liberale Rathenau nichts, aber auch gar nichts gemein.

 Quellennachweis:

http://www.deutschlandfunk.de/walter-rathenau-maertyrer-der-weimarer-republik.871.de.html?dram:article_id=397017

https://www.mdr.de/kultur/themen/kalenderblatt-walther-rathenau-geburtstag-100.html

http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/einkommensverteilung-deutschland-ist-so-ungleich-wie-vor-jahren-1.3791457

 

 

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