Iulius Cäsar, der wegen seiner politischen Ambitionen 44 v. Chr. ermordet wurde, war der Adoptivvater des Octavianus, des späteren Augustus. (Bild: Dr. Jürgen Boxberger)

Octavianus trat das politische Erbe seines Adoptivvaters Cäsar an. Unter dem Ehrentitel "Augustus" (der Erhabene) begründete er das römische Kaiserreich. (Bild: Dr. Jürgen Boxberger)

Augustus adoptierte seinen Stief- und Schwiegersohn Tiberius aus dynastischem Kalkül heraus und setzte ihn als seinen Nachfolger auf dem Cäsarenthron ein. (Bild: Templermeister / pixelio.de)

Abstammung

Tiberius entstammte dem Hochadelsgeschlecht der Claudier. Er wurde 42 vor Christus während der politischen Wirren nach Cäsars Ermordung geboren. Da sein Vater Tiberius Claudius mit den Cäsarmördern Cassius und Brutus sympathisiert hatte, musste die Familie während des blutigen Bürgerkriegs mit dem erst zweijährigen Knaben nach Griechenland fliehen, um den politischen Säuberungen unter Cäsars Adoptivsohn Octavianus zu entgehen.

 

Kindheit und Jugend

Die Mutter, Livia Drusilla, setzte sich für die Aussöhnung ihres Gatten mit Octavianus, dem kommenden Machthaber ein. Doch dieser erzwang die Scheidung der beiden Claudier und heiratete Livia, obwohl sie ein Kind erwartete (es ist nicht ganz klar, ob bereits von Octavianus oder noch von ihrem Mann). Um den Schein zu wahren, wurde der Knabe namens Drusus zusammen mit seinem Halbbruder Tiberius im Haus des alten Tiberius erzogen.

Früh traten charakterliche Unterschiede zwischen den beiden Jungen zutage: während Drusus sich zu einem freundlichen, umgänglichen und gefälligen Jugendlichen entwickelte, der über die von den Römern so überaus geschätzte rhetorische Gewandtheit verfügte, manifestierten sich in Tiberius ein dunkles Gemüt, eine Einsilbigkeit und Verschlossenheit, ein schroffes, abweisendes Wesen, das schon den alten Tiberius Claudius auszeichnete und somit auf eine genetisch bedingte Veranlagung hindeutet.

Nicht nur als junger Mann verfügte Tiberius über eine hervorragende körperliche Konstitution. Seine zweisprachige und philosophische Ausbildung absolvierte der Linkshänder mit Bravour. Dies lässt auf logisches Denkvermögen sowie auf korrekten sprachlichen Ausdruck schließen. Beides, sowie die Linkshändigkeit, trifft nicht selten auf Asperger-Autisten zu. Dem Wesen nach war er jedoch sonderbar hölzern und schwerfällig. Der Geschichtsschreiber Suetonius schrieb: "Er ging vornübergebeugt mit steifem Hals". Da Menschen mit Asperger-Syndrom oft eine motorische Unbeholfenheit, eine linkische Körpersprache und eine wenig nuancierte Mimik zu eigen ist, könnte dieses Merkmal ebenso ein Indiz für den Autismus des Tiberius darstellen wie sein scheinbarer Mangel an Gemütsbewegung und sein stets gleichbleibender Gesichtsausdruck, mit dem er - laut Tacitus - seine Mitmenschen bis zum Erschrecken irritierte.

Suetonius beschreibt Tiberius als einen sehr schweigsamen Menschen mit strenger Miene, "selten oder gar nicht im Gespräch mit seinen Begleitern." Wenn Tiberius das Wort ergriff, dann sprach er bedächtig und ernsthaft. Mitreißende Reden waren seine Sache nicht. Unverbindliche Konversation war ihm zuwider. Der schlagfertige Octavianus mokierte sich über die "langsam mahlenden Kiefer" seines Stiefsohnes und beklagte, dass jedes lockere Gespräch, jeder heitere Wortwechsel verstumme, sobald Tiberius sich daran beteilige. Tacitus betont des Claudiers "Abneigung gegen Menschenansammlungen". Diese Schüchternheit und seine ausgeprägte Menschenscheu machten Tiberius früh zu einem Außenseiter. Erst mit dreiundzwanzig Jahren - für die damaligen Verhältnisse recht spät - heiratete er Vipsania, die Tochter des Marcus Agrippa, eines engen Freundes des Octavianus.

Auch heute noch werden leichte Verhaltensprobleme bei Autisten häufig als vermeintliche "Schüchternheit" fehlinterpretiert. Seine Zurückgezogenheit und sein Meiden von Menschenansammlungen können zudem als Hinweis auf die autismustypischen, sozialen Beeinträchtigungen des zukünftigen Kaisers gewertet werden.

Veränderungen der gewohnten Umgebung oder der Sachlage können bei Autisten ein starkes Unbehagen auslösen. Sie zeigen deshalb oft ein Festhalten an vertraute Umstände und Verhältnisse bis zur Sturheit. Durch Tacitus wissen wir, dass ihn nichts so sehr bedrückte "wie die Sorge, es möchte die von ihm geschaffene Ordnung gestört werden". Auch war Tiberius bestrebt, einmal getroffene Beschlüsse für alle Zeiten beizubehalten, um Umstellungen und Wechsel zu vermeiden.

 

Militärische und politische Laufbahn

Octavianus, der inzwischen zum Kaiser aufgestiegen war und den Ehrentitel Augustus (lat:: der Erhabene) angenommen hatte, betraute den jungen Claudier mit schwierigen militärischen Aufgaben. Zusammen mit seinem Bruder Drusus, mit dem ihn eine starke Zuneigung verband, nahm Tiberius an Kampfeinsätzen teil. Stets zeichnete er sich durch gründliche Planung, sorgfältige Risikoabwägung und gewissenhafte Durchführung seiner Unternehmungen aus. Seine pedantische Akribie war bei der Truppe berüchtigt. Selbst geringfügige Nachlässigkeiten bei der Pflege der Waffen oder beim Auf- und Abbau von Mannschaftszelten entgingen ihm nicht. Demnach scheint Tiberius über die typischen Stärken der Asperger-Autisten verfügt zu haben:

  • Perfektionismus
  • Interesse für Details
  • hohes Durchhaltevermögen bei Routineaufgaben und klaren Erwartungen
  • schnelles Erkennen von Fehlern
  • technische Begabung und Spezialwissen
  • originelle Problemlösungsstrategien

Mit neunundzwanzig Jahren wurde Tiberius zum Konsul gewählt. Obwohl er dieses hohe Amt zweimal erfolgreich bekleidete, änderte sich nichts an seiner Unbeliebtheit beim Volk und beim Kaiser. Diese Missliebigkeit könnte dem für Autisten typischen Mangel an kognitiver Empathie (Einfühlungsvermögen) und den sich daraus ergebenden sozialen Beeinträchtigungen zuzuschreiben sein.

Durch seine rücksichtslose dynastische Politik erzwang Octavianus Augustus auch die Auflösung der Ehe von Tiberius und Vipsania. Stattdessen zwangsverheiratete er seinen zur Melancholie neigenden Stiefsohn mit seiner temperamentvollen Tochter Iulia. Tiberius fügte sich widerstrebend, konnte jedoch nicht verhindern, dass seine Gattin ihre zügellose Sinnlichkeit anderweitig auslebte. Gedemütigt und auf kaiserlichen Befehl um sein Lebensglück betrogen, suchte Tiberius weitere militärische Herausforderungen. Als sein geliebter Bruder Drusus bei einem Feldzug in Germanien tödlich verwundet wurde, nahm Tiberius alle Strapazen auf sich, um zu dem Sterbenden zu eilen und bewies somit eine starke affektive Empathie (Mitgefühl), die für viele Autisten typisch ist.

 

Emigration und Rückkehr nach Rom

Nach diesem Schicksalsschlag entsagte Tiberius allen Ämtern und Julia, die ihn als zeugungsunfähig diffamiert hatte. Er begab sich auf die griechische Insel Rhodos, wo er sich völlig zurückgezogen sieben Jahre lang schöngeistigen Studien widmete. Dieses Verhalten zeigt gleich mehrere Symptome des Autismus:

  • Rückzug in die innere Gedankenwelt
  • Intensive Beschäftigung mit Spezialinteressen
  • Versinken in Tätigkeiten ohne Zeitgefühl
  • großer Bedarf an Ruhe und Einsamkeit

Erst als Octavianus Augustus seine lebensgierige Tochter Iulia wegen ihres selbst für aristokratische Verhältnisse zu lockeren Lebenswandels in die Verbannung schickte, da ihre hemmungslose Zügellosigkeit ihm gefährlich zu werden drohte, erbot sich Tiberius, sie ins Exil zu begleiten. Doch der Kaiser beorderte den mittlerweile Dreiundvierzigjährigen zurück nach Rom und übertrug ihm erneut das Oberkommando.

 

Kaiser wider Willen

Während Tiberius als Feldherr im aufrührerischen Germanien glänzende Erfolge errang, scheiterten Octavians dynastische Pläne durch den frühen Tod seiner beiden Enkel, der Söhne Iulias aus erster Ehe. Notgedrungen adoptierte der Kaiser den ungeliebten Stief- und Schwiegersohn und ernannte ihn zum Mitregenten. Damit war Tiberius faktisch sein Nachfolger auf dem Cäsarenthron geworden. Nach dem Tod des Octavianus Augustus im Jahre 14 nach Christus übernahm Tiberius widerwillig auch formell die Macht. Seine bedächtige, zuweilen schwerfällige Amtsführung und seine Sparsamkeit machten ihn indes bei der Bevölkerung, die von ihrem neuen Herrscher aus alter Gewohnheit Wohltaten wie kostenlose Volksbelustigungen und Lebensmittelzuwendungen erwartete ("Brot und Spiele"), nicht beliebter. Dass er, der Menschenmassen von jeher mied, den außerordentlich populären Zirkusspielen fernblieb, kostete ihn zusätzlich Ansehen beim Volk. Der menschenscheue, stets gehemmt wirkende Kaiser fand beim besten Willen nie den richtigen Zugang zu seinen Untertanen. Seiner stoischen Überzeugung folgend billigte er Rede- und Meinungsfreiheit, auch wenn er selbst das Opfer von Spott und Schmähungen wurde.

Durch die Machenschaften seiner Mutter und durch andere hochverräterische Intrigen zutiefst verbittert und enttäuscht, verlor Tiberius bald jegliches Vertrauen, das er so arglos in die Menschen gesetzt hatte. Seine untadelige Amtsführung verwandelte sich nach und nach in Despotie. Er zog sich immer mehr zurück, nahm nicht einmal an der Bestattung seines noch aus der Ehe mit Vipsania stammenden Sohnes teil. Aus dem Stoiker war ein Misanthrop geworden.

 

Endgültiger Rückzug

Unter einem Vorwand verließ Tiberius im Jahr 27 das ihm verhasste Rom und suchte Zuflucht auf der schwer zugänglichen Insel Caprea (Capri). Dort verbrachte der Kaiser die letzten zehn Jahre seines Lebens in freiwilliger Selbstisolation fernab der Hauptstadt. Mehrmals machte er Anstalten zurückzukehren, blieb jedoch auf Capri. Erst kurz vor seinem Tod begab er sich - inkognito - in die Nähe Roms, ohne jedoch die Stadt nochmals zu betreten. Am 16. März 37 starb er in Misenum im Alter von 78 Jahren.

 

Legendenbildung und moderne Interpretation

Noch heute halten sich hartnäckig die bereits in der Antike erfundenen Schauergeschichten vom monströsen Kaiser Tiberius. Historiker indessen betrachten die Dämonisierung des Claudiers mit einiger Skepsis. Für sie geht die negative Legendenbildung auf die Unkenntnis der Zeitgenossen und der politischen Gegner zurück, die an dem Claudier kein gutes Haar gelassen haben, um Augustus, den politischen Ziehsohn Iulius Cäsars, umso strahlender erscheinen zu lassen. Dagegen spricht der Dichter Juvenalis von dem "ruhigen Alter" des Kaisers auf seiner einsamen Insel und der der Grieche Plutarch, als strenger Moralist bekannt, hebt die würdige Einsamkeit des alten Mannes während seines letzten Lebensjahrzehnts hervor. Selbst Tacitus, sonst nicht zimperlich, wenn es galt, den Claudier aus politischen Gründen zu verunglimpfen, würdigte Tiberius als "großen und anständigen Menschen mit einem bewundernswerten Charakter". Leider haben sich hauptsächlich die Gräuelmärchen vom perversen Tyrannen über Jahrhunderte als vermeintliche Tatsachen in den Geschichtsbüchern gehalten.

Unterstützung erfährt die Rehabilitation des Tiberius durch die moderne Autismusforschung. Legt man die Diagnosekriterien für das Asperger-Syndrom zu Grunde, stößt man bei Tiberius auf zahlreiche Züge, die für Menschen im Autismusspektrum typisch sind. In ihrer Gesamtheit sprechen diese Merkmale sehr für einen autistischen Hintergrund.

 

Schlussfolgerung

Bereits 1924 war Tiberius in einer von dem Kriminologen Hans von Hentig veröffentlichten Arbeit als Autist bezeichnet worden. Allerdings galt der 1911 von Eugen Bleuler geprägte Begriff "Autismus" damals noch als eine der Schizophrenie zugeordnete Erscheinung. Demnach unterscheidet sich dieser frühe Autismusbegriff deutlich von der heute gebräuchlichen, auf den wegweisenden Forschungsarbeiten von Hans Asperger und Leo Kanner (1943/1944) basierenden Definition vom Autismus-Spektrum. Die moderne Autismusforschung sowie eine neue, kritische Quelleninterpretation der Historiker lassen die Gestalt des zweiten römischen Kaisers in völlig neuem Licht erscheinen. Befreit vom Ballast jahrtausendealter Legenden sehen wir einen Menschen, der auf Grund seines sonderbaren Verhaltens auf seine Zeitgenossen befremdlich gewirkt haben muss. Selbst in unserer heutigen, aufgeklärten Gesellschaft, in der es als Todsünde gilt, sich wie auch immer von der Masse zu unterscheiden, erfahren autistische Menschen Ausgrenzung und Stigmatisierung. Tiberius muss, wie viele Autisten, sehr unter Reizüberflutung, sozialem Stress, Mobbing und Depressionen gelitten haben. Das Verbergen von Schwächen, die Angst vor und die Anfälligkeit für Stress müssen ihn unvorstellbar viel Kraft gekostet haben. Er war zwar der mächtigste Mann der antiken Welt, aber gleichzeitiger war er nach den Worten des römischen Historikers Plinius auch "der traurigste Mann der Welt". Das Ungeheuer, zu dem ihn seine Zeitgenossen und die Nachwelt aus Unkenntnis stilisiert haben, war Tiberius ganz sicher nicht.

 

Diesem Artikel liegt keine offizielle, wissenschaftliche Untersuchung zu Grunde. Gleichwohl orientiert sich der Autor am aktuellen Wissensstand der Autismusforschung bzw. an den historisch bekannten Fakten über Tiberius. Für objektive Kritik und Anregungen ist der Autor offen und dankbar.

Quellen:

 

  • Hans v. Hentig: Über den Cäsarenwahnsinn – Die Krankheit des Kaisers Tiberius. In: Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. Begründet von Hofrat Dr. L. Löwenfeld und Dr. H. Kurella. Herausgegeben von Prof. Dr. Kretschmer, Tübingen. Springer Verlag Berlin Heidelberg, 1924
  • Publius Cornelius Tacitus: Annalen I-VI. Reclam, 1964
  • Gerhard Prause: Niemand hat Kolumbus ausgelacht. Fälschungen und Legenden der Geschichte richtiggestellt. Econ, 1966
  • Phillipp Vandenberg: Nero. C. Bertelsmann, 1981
  • Reinhard Raffalt: Große Kaiser Roms. Piper, 1986
  • Nick Constable: Das antike Rom. Gondrom, 2004
  • Patrick Zucker: Das Asperger-Syndrom. Die Situation erwachsener Betroffener. Abschlussarbeit beim Institut für Sozialforschung und Berufliche Weiterbildung, Neustrelitz, 2002
  • Tony Attwood: Ein ganzes Leben mit dem Asperger-Syndrom. Alle Fragen - alle Antworten. TRIAS, Stuttgart 2008
  • Ralf-Peter Märtin: Die Varusschlacht. S. Fischer, 2008

Bildnachweise:

© Templermeister/www.pixelio.de/media/194503

Dr. Jürgen Boxberger

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