Der Irak nach dem Bürgerkrieg

2003

Durch den Einmarsch alliierter Streitkräfte wird Saddam Hussein abgesetzt. Durch den Sturz des irakischen Diktators bricht das organisatorisch auf ihn ausgerichtete Staatsgefüge zusammen, sämtliche Vertraute werden aus Schaltstellen der Macht entfernt. Unter der Führung der USA wird die Demokratisierung des Irak auf die Agenda der Siegermächte gesetzt. Eine Übergangsverfassung nach westlichem Vorbild wird erlassen, bis eine Kommission mit Vertretern aller ethnischen und religiösen Gruppierungen eine endgültige Verfassung ausgearbeitet hat.

Der Irak ist als Staat de facto in Ermangelung einer handlungsfähigen Exekutive (Regierung, Polizei, Armee) vorübergehend nicht existent. Die öffentliche Sicherheit wird größtenteils von den im Irak stationierten Soldaten des Kriegsbündnisses gewährleistet.

In dieses Machtvakuum stößt eine Gruppe religiöser sunnitischer Fundamentalisten, die sich selbst als Widerstandskämpfer gegen die Besatzer betrachten. Unter der Führung von Abu Musab az-Zarqawi wird im August 2003 ein Bombenanschlag auf eine UN-Einrichtung in Bagdad verübt, bei dem 22 Menschen sterben und über 100 verletzt werden.

Durch die zusammengebrochenen staatlichen Strukturen wird der Drahtzieher hinter diesem Attentat nicht ermittelt, sodass az-Zarqawi mit dem Ausbau seiner noch immer kleinen Organisation beginnt.

Bereits jetzt werden Pläne für ein späteres Kalifat im Irak geschmiedet. Der Zeitpunkt ist günstig, da der Diktator Hussein – obwohl selbst Sunnit – den religiösen Fanatikern während seiner Herrschaft keinen Freiraum zur Entfaltung bot.

Kalifat

Das arabische Wort »Kalifat« bezeichnet eine Form der staatlichen Organisation, in welcher die geistliche und weltliche Führung in der Hand des »Kalifen« liegen. Vereinfacht gesagt ist ein Kalifat die muslimische Variante des absolutistischen Monarchenstaates der Renaissance.

ab 2004

Etwa ein Jahr später schließen sich az-Zarqawi und seine Getreuen Osama bin Ladens al-Qaida an, der ihn Ende 2005 zu seinem Stellvertreter im Irak erklärt. Geheimdienste registrieren diesen Zusammenschluss und nennen az-Zarqawis Organisation »al-Qaida im Irak«, kurz: AQI. Vermutungen werden laut, dass AQI über Hintermänner Einfluss auf die sunnitischen Vertreter in der Verfassungskommission nimmt und diese zum Rückzug drängt. Diese Verbindung konnte zwar nicht bestätigt werden, dennoch ziehen sich vor Vollendung des neuen irakischen Verfassungstexts 15 der 18 Sunniten aus dem Konvent zurück. 

Knackpunkte waren insbesondere die religiösen Fragen insbesondere im Hinblick auf die Christen und die schiitischen Muslime gewesen.

Begleitet wird die Zeit nach 2004 mit stetigen Bombenanschlägen und Attentaten auf Besatzungsstreitmächte, westliche Hilfsorganisationen, »Ungläubige« sowie auf all jene, die mit dem neuen System in irgendeiner Weise verbandelt sind. Insbesondere die Übergriffe von Sunniten auf Schiiten und umgekehrt veranlassten az-Zarqawi im Jahr 2005 zu einer »offiziellen Kriegserklärung« gegen die im Irak ansässigen schiitischen Muslime. Der Bürgerkrieg nimmt an Fahrt auf.

Mitte Juni verstirbt az-Zarqawi und Abu Ayyub al-Masri übernimmt die Leitung von AQI. Doch nicht für lange.

Ein Schattenstaat entsteht

Al-Masri hat große Pläne. Er benennt sein »Erbe« kurzerhand um und formt den »Islamischen Staat im Irak«, ISI genannt. Anstelle der zuvor eher bandenartigen Strukturen wird ein an die Spitze ein Kabinett gesetzt, in dem al-Masri selbst Kriegsminister wird. Die neue Effizienz der Terrorvereinigung sollte der Irak schon bald zu spüren bekommen. Allein im Jahr 2007 sterben fast 2.000 Personen durch die Hand des ISI. Sämtliche größeren Städte werden Ziel von Anschlägen und Attentaten, wenngleich das Hauptaktionsgebiet weiterhin in Bagdad liegt. 

Geschätzte 5.000 Menschen verlieren bis zum Jahr 2010 ihr Leben, dem Jahr, in welchem al-Masri durch einen Eingriff der US-Amerikaner gestellt und getötet wurde.

Die Freude über die Eliminierung des wichtigsten Terrorführers im Irak währte nur kurz. Die Hoffnung, dass sich ISI mit dem Tod al-Masris zerfleischen würde, wurde durch die zeitnahe Ernennung Abu Bakr al-Baghdadis bitter enttäuscht. Al-Baghdadi führte das Werk seines Vorgängers fort und ließ den Irak in einer weiteren Anschlagsserie mit Angriffen und Attentaten überfluten, die abermals Schiiten, Christen und Mitarbeiter der Regierung trafen. Mehrere Hundert Menschen starben. Die Befreiung zahlreicher sunnitischer Extremisten aus einem Gefängnis nahe der Hauptstadt im Juli 2012 geht zudem ebenfalls auf ISI zurück.

Zuvor hatte sich der Schattenstaat allerdings bereits zu neuen Ufern aufgemacht.

Der Islamische Staat greift nach neuen Gebieten

Der seit Frühjahr 2011 andauernde Bürgerkrieg in Syrien entwickelte unterdessen seine eigene Dynamik. Muslimische Fundamentalisten unterwanderten gezielt und weitgehend unbemerkt die Rebellen, die gegen den syrischen Präsident Baschar al-Assad zu Felde ziehen und prägen ihnen den eigenen Stempel auf. Extremisten der al-Nusra-Front, einer Art syrischen ISI, geraten allerdings gegen die reguläre syrische bald ins Hintertreffen, sodass sich al-Qaida gezwungen sieht, die Muslime der Region in den Kampf gegen die weitgehend säkulare Regierung al-Assad zu rufen. ISI folgt diesem Wunsch bedingungslos und ist seit diesem Zeitpunkt eine der Fraktionen im syrischen Bürgerkrieg.

Die Fronten sind hier jedoch wesentlich unklarer, sodass sich für eine lange Zeit al-Nusra und ISI abwechselnd freundlich und abwechselnd feindlich gegenüberstehen.

Verteilung der muslimischen Konfessionen. Es ist klar ersichtlich, dass die Schiiten eine Minderheit darstellen. (Bild: Ghibar/Wikimedia)

Ungefähre Einflusssphäre des Islamischen Staates (grau markiert) anno 2014 (Bild: Haghal Jagul/Wikimedia)

Etwa ein Jahr später scheitert al-Baghdadi mit dem Versuch, al-Nusra und ISI unter dem Namen ISIS miteinander zu vereinen. Zwar kündigt der ISI-Führer das Zustandekommen der entsprechenden Schritte an, allerdings verweigert al-Nusra die Gefolgschaft. Der neue Name bleibt hingegen: aus ISI wird ISIS, der »Islamische Staat im Irak und in Syrien«.

Es sollte noch kurioser werden: Ein Mitte 2013 durch al-Qaida verkündeter Befehl, dass die Streitigkeiten zwischen den beiden großen fundamentalistischen Organisationen im Nahen Osten umgehend beizulegen seien, wird überraschend durch al-Baghdadi abgelehnt. Mehr sogar: ISIS betrachtete al-Nusra weiterhin als Bestandteil des eigenen Gebietes und forderte gegenüber al-Qaida die Herrschaft über die Nusra-Areale in Syrien. Es kommt zum Bruch zwischen ISIS und al-Qaida.

Kurzcheck IS

Truppengröße: bis zu 50.000 Mann (lt. syr. Beobachtungsstelle für Menschenrechte)

Glaubensrichtung: sunnitischer Islam

Gründung: Ende 2003/Anfang 2004

Führer: Abu Bakr al-Baghdadi (selbsternannter Kalif seit Ende Juni 2014)

Kontrollierte Gebiete: Teile des Nordwest-Iraks sowie Nordost-Syriens

 

Diese Spaltung bringt weitreichende Folgen mit sich. Es kommt zu einer Art Wettlauf zwischen al-Qaida und ISIS um die Vorherrschaft in der fundamentalistischen Islamszene. Während die Erben bin Ladens unter ihrem Führer az-Zawahiri eher auf klar abgesteckte Operationsgebiete und verdeckte Attentate setzen, strebt al-Baghdadi nach Macht über immer größere Gebiete.

Unterdessen werden zudem Gerüchte laut, dass Kombattanten der ISIS in den türkischen Grenzregionen Zuflucht und medizinische Versorgung finden.

Mehrere türkische Bürgermeister ließen sich zudem mit ISIS-Gefolgsleuten öffentlich ablichten, was das Klima zwischen Erdogan und Obama stark abkühlte.

Al-Baghdadi und die Seinigen erhalten ohnehin seit längerer Zeit mehr oder weniger offen auch militärische Unterstützung durch die Türkei. Der neue Ministerpräsident Davutoglu wurde in der Vergangenheit »ertappt«, wie er mit Hilfe der islamistischen Kämpfer in Syrien Präsident al-Assad zu stürzen suchte. Durch diese und ähnliche Aktionen wurde ISIS unmittelbar gestärkt.

Doch auch andere planten zuvor, die Terrororganisation mit Waffen und Logistik zu unterstützen. Ausgerechnet der äußerst konservative US-Senator McCain plädierte 2013 für die Unterstützung aller Assadgegner im syrischen Bürgerkrieg. Zudem verlangte er offen die Bombardierung der regulären Armee. Tatsächlich eskalierte die Situation so weit, dass der britische Premierminister bereits einen entsprechenden Interventionsvorschlag in das Unterhaus einbrachte. Auch Präsident Obama sah vor, das Abenteuer in Syrien vom Kongress absegnen zu lassen. Dazu sollte es jedoch nicht kommen.

NATO vs. China & Russland, ISIS bangt

Besorgt über einen möglichen Militärschlag des Westens gegen, liefen nahezu unbemerkt von der Weltöffentlichkeit hinter den Kulissen zahlreiche Schutzmaßnahmen Chinas und Russlands. Putin entsendete zahlreiche Berater und militärisches Material in die Levante.

Insbesondere die modernen Boden-Luft-Raketen der S300-Klasse bereiteten den westlichen Generälen Kopfschmerzen, da diese in der Lage gewesen wären, jedwede Flugverbotszone zur Farce werden zu lassen. Die aufstrebende Macht China wiederum entsendete mehrere Kriegsschiffe vor die Küste Syriens, sodass der Weg für die eintreffenden Flottenverbände der USA, Frankreichs sowie Großbritanniens sich zuvor den Weg erst hätten frei schießen müssen.

Das Siegel des »Islamischen Staates«. Es zeigt im Inneren das Glaubensbekenntnis des Islam sowie das Siegel des Propheten Mohammeds. (Bild: Illegitimate Barrister/Wikimedia)

Nacheinander sprangen Großbritanniens und Frankreichs Parlament von dem Vorhaben ab. Selbst der Kongress der USA bekam in letzter Sekunde kalte Füße, sodass der Militärschlag endgültig abgeblasen wurde. Was hat all dies mit ISIS zu tun? Sehr viel.

Denn der geplante Angriff auf den syrischen Staat hätte diesen ebenso pulverisiert wie zuvor der Einmarsch von US-Truppen den Irak. ISIS hätte in diesem Fall in zahlreichen weiteren Gebieten die Oberhand errungen und sein Herrschaftsgebiet merklich ausgedehnt. Ausgerechnet China und Russland verhinderten somit indirekt, dass ethnische und religiöse Minderheiten den Islamisten zum Opfer fielen. Eine interessante Anekdote im Spiel der großen Mächte.

ISIS seit 2013 - Die Wiedererrichtung des Kalifats

Syrien blieb also von außen unangetastet. Zwar gelang es den regulären Truppen noch nicht, die vollständige Herrschaft zurückzugewinnen, dennoch konnte der Vormarsch des »Islamischen Staates« in Richtung Westsyrien aufgehalten werden. Mit dem Nebeneffekt, dass sich ISIS wieder vermehrt auf den Irak konzentrierte.

Im Verlauf des Jahres 2014 erzwangen die zahlreichen Niederlagen der irakischen Armee den Rücktritt des langjährigen Ministerpräsidenten al-Maliki, was der Stabilität in der Region keineswegs dienlich war. Am ersten Tag des Fastenmonats »Ramadan«, dem 29. Juni 2014, erfolgte dann die eigenmächtige Ausrufung des Kalifats durch al-Baghdadi, wodurch diese Staatsform nach fast einhundert Jahren wieder zum Leben erweckt wurde.

Der Anspruch auf die Herrschaft über alle muslimischen Staaten wurde erhoben. Um die globale Reichweite der eigenen Unternehmung zu verdeutlichen, strich al-Baghdadi den Namen seiner Organisation kurzerhand ein: »Islamischer Staat« ist seit diesem Jahr die offizielle Selbstbezeichungung.

Auswirkungen des IS auf die Region

Das Festsetzen des »Islamischen Staates« im Irak und der Levante ist für die zahlreichen ethnischen und religiösen Minderheiten ein Problem. Die seit Ewigkeiten siedelnden Christen werden gezwungen, spezielle Kopfsteuern – man könnte es auch Schutzgeld nennen - zu entrichten, zu konvertieren oder mit dem Leben zu bezahlen. Doch sie sind nicht die einzigen Leidtragenden der neuen Herrscher. Das Festsetzen des »Islamischen Staates« im Irak und der Levante ist für die zahlreichen ethnischen und religiösen Minderheiten ein Problem. Die seit Ewigkeiten siedelnden Christen werden gezwungen, spezielle Kopfsteuern – man könnte es auch Schutzgeld nennen - zu entrichten, zu konvertieren oder mit dem Leben zu bezahlen. Doch sie sind nicht die einzigen Leidtragenden der neuen Herrscher.

Zahlreiche sakrale Orte der Schiiten sind dem IS bereits zum Opfer gefallen. Moscheen, Heiligenbilder, Reliquien. Denn die sunnitischen Fundamentalisten sehen in den anderen Strömungen des Islam eine Form des Unglaubens.

Die Kurden, eine ethnische Minderheit im Norden des Irak, wurden ebenfalls zum Ziel des IS, doch leisteten sie enormen Widerstand und werden gegenwärtig von den USA und den europäischen Staaten militärisch aufgerüstet. Zudem macht ein Bericht des kurdisch-irakischen Geheimdienstes von sich reden, in dem behauptet wird, dass deutsche Spezialeinheiten bereits seit längerem gemeinsam mit den Amerikanern gegen den IS im Irak kämpfen würden. Diese Aussagen wurden sowohl von den Vereinigten Staaten als auch von der Bundesrepublik dementiert, sodass diese Gerüchte nur der Vollständigkeit halber aufgeführt werden sollten.

Die üblichen Verdächtigen

Die wichtigste Frage überhaupt wurde bisher hingegen noch gar nicht beantwortet: Wie schafft es der »Islamische Staat«, sich finanziell über Wasser zu halten? Weder wird die Ausrüstung von eigener Hand gehäkelt noch werden die Waffen selbst geschmiedet. Die Anschubfinanzierung dürften unzweifelhaft kapitalstarke Gönner aus den Staaten der arabischen Halbinsel übernommen haben.

Die auch hinter der europäischen Salafistenbewegung steckenden Nationen Saudi-Arabien, Katar sowie die Vereinigten Arabischen Emirate tauchen immer und immer wieder als Geldgeber des IS auf.

Finanzquellen werden ebenfalls in der Türkei vermutet, die sich in ihrer Politik den letzten Jahren immer offener den muslimischen Staaten hinwendet und grundlegende Prinzipien wie die Pressefreiheit einschränkt, sich de facto von den westlichen Grundnormen des modernen Verfassungsstaates abwendet. Die einst gewünschte Mitgliedschaft in der europäischen Union wurde mehr oder weniger aufgegeben. Eine Orientierung hin zu einer Regionalmacht des Nahen Ostens ist klar erkennbar.

Die halb verdeckte Unterstützung des IS durch das Duo Erdogan/Davutoglu dürfte sich schlussendlich jedoch als Fehltritt erweisen. Zum einen ist die Entstehung eines unabhängigen Kurdenstaates in greifbarer Nähe, was einem Albtraum für die türkische Politik gleichkommen würde, zum anderen scheint der IS-Führer al-Baghdadi nicht gewillt, seine Macht als Kalif in späterer Zeit teilen zu wollen. Je größer seine Macht wird, umso unabhängiger und fordernder tritt er auf. Mittlerweile wird nicht einmal ausgeschlossen, dass der IS eines Tages in Richtung Mekka aufbrechen wird, um die als heidnisch angesehene Kaaba zu zerstören.

Der einst als Marionette zum Sturz missliebiger Herrscher gegründete »Islamische Staat« scheint sich ihrer Fäden entledigt zu haben.

Autor seit 12 Jahren
21 Seiten
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