Große und kleine Enttäuschungen

Über die kleinen Enttäuschungen hilft manchmal etwas Humor hinweg. Sie sitzen ja nicht so tief. Wir hatten geglaubt, der Tabakladen hätte noch offen. Jetzt stehen wir vor der vor der verschlossenen Tür. "Nichts zum Rauchen mehr", stöhnen wir, "ich muss jetzt Salatblätter rauchen." Ein kleiner Scherz, und die Lappalie ist erledigt. Ich täusche mich auch nicht mehr über die Öffnungszeit. Die Enttäuschung hat gewirkt, meine Zigaretten hole ich nächstens früher.

Hier wirkt die Schwere der Enttäuschung. Selbstverständlich: Enttäuschung ist Schmerz. Wenn uns ein Buch auf den Fuß fällt, schmerzt es wesentlich weniger, als wenn es sich um einen Amboss handelt.

Die kleine Enttäuschung ist schnell verkraftet, wir müssen fast täglich mit ihr leben. Die Spülmaschine spült nicht richtig, die neue CD meines Lieblingssängers ist fade, das neue Waschpulver wäscht längst nicht so weiß, wie versprochen.

Wird es schwerwiegender, ist der Humor nicht mehr wirksam, das Lächeln gefriert uns im Gesicht. Eine Absage flattert ins Haus. War uns die Bewerbung wichtig? Wenn nicht, ist die Absage schnell verdaut. Hatten wir jedoch sehr auf Erfolg gesetzt und sollte uns die Stelle aus einer langen Misere heraushelfen, dann erhalten wir erneut einen Tiefschlag.

 

(Bild: RyanMcGuire / Pixabay)

 

Nehmerqualitäten

Am deutlichsten kann man sie sich am Beispiel eines Boxers veranschaulichen. Hat der Faustkämpfer gute Nehmerqualitäten, kann er den technisch besseren Gegner zermürben. Für diesen bedeutet es immer wieder eine Enttäuschung, wenn auch die gezieltesten Treffer den Gegner nicht niederstrecken. Mit Fortdauer des Kampfes schwindet der Glaube an den Sieg und damit die Energie.

Gute Nehmerqualitäten zeichnen uns auch im Alltag aus, hier nennt der Psychologe sie "Frustrationstoleranz". Je schneller eine Enttäuschung (ein Tiefschlag) ihre Wirkung verliert, umso schneller können wir wieder reagieren. In Verhandlungssituationen wie im Boxkampf ist dies sicher von Vorteil. In der Verhandlung kommt man uns vielleicht mit einem "Knock-out-Argument". Wenn wir jetzt lange blockiert sind, sind wir schnell auf der Verliererstraße.

Völlig schmerzfrei kann kein Mensch sein. Es ist auch kein erstrebenswerter Zustand. Wer keinen Schmerz mehr spürt, der kennt auch keine Freude mehr. Beide Zustände können sich gegenseitig herbeiführen. Die Kinder freuen sich seit Wochen auf Weihnachten. Einen Tag vor Heiligabend eröffnet man ihnen: "Weihnachten fällt dieses Jahr aus." Aus Freude wird Enttäuschung.

Umgekehrt kann auch aus Schmerz Freude entstehen. Hier fallen mir die boshaftesten Beispiele ein. Voll Unbehagen erwarten wir den Besuch der Schwiegermutter. Welche Freude, wenn wir hören: Ihr Auto ist kaputt, sie kann nicht kommen!

Am besten ist es, wenn wir uns für die besinnlichen Seiten des Lebens unsere Empfindsamkeit bewahren können. Damit auch offen bleiben für Freude, Anteilnahme, Glücksgefühle und Begeisterung. Für die Daseinskämpfe käme dann eine "innere Ritterrüstung" recht. An ihr können alle Schläge abprallen. Wer häufig harte Verhandlungen führt, hat schon Erfahrung mit dieser "inneren Ritterrüstung". Er legt sie an, indem er sich für die bevorstehende Stresssituation präpariert. Er bereitet sich auf den heftigsten "Gegenwind" vor, nimmt im Geiste die härtesten Argumente vorweg. Auch auf den Fall des Misslingens stellt er sich ein, damit er die Enttäuschung seelisch "abfedern" kann.

 

(Bild: Wikilmages / Pixabay)

Lebensglück in Gefahr

Nehmerqualitäten hin oder her, eine schwere Enttäuschung kann viele Jahre nachwirken. Der Teenager, dem seine erste Liebe zerbrach, ist untröstlich. Wie hat Sabine sich doch in Wolfgang getäuscht! Der Himmel hatte voller Geigen gehangen. Im Alter von 16 Jahren wurden Pläne für ein ganzes Leben geschmiedet. Nun ist alles zerbrochen.

Hier steht ein junger Mensch vor den Scherben seiner ganzen Lebensplanung. In diesen jungen Jahren fehlt meist der Blick für die lange Sicht. "Das Leben geht weiter", "Es gibt unzählige Männer auf der Welt", sind Phrasen, die Sabine trösten sollen. Sie sind aber kaum geeignet.

Enttäuschungen können Weichen stellen. Aus Sabine könnte eine verbitterte "Männerhasserin" werden. Vielleicht definiert sie auch ihr Lebensglück neu, widmet sich künftig wie besessen der Literatur, der Musik, dem Sport, wer weiß.

 

(Bild: Alexas / Pixabay)

Selbstbetrug

Dieser ist der am weitesten verbreitete Betrug. Wenn wir unsere Sabine aus dem obigen Beispiel nehmen, dann hegte sie vielleicht schon längere Zeit leise Zweifel an Wolfgang. Sie wollte es nur nicht wahrhaben. Dass er immer wieder nach anderen Mädchen schielte, hat sie geflissentlich ignoriert. Dass ihre Ansichten oft nicht vereinbar waren, störte sie nicht sehr, sie hat sich halt angepasst. Sie sah trotz allem in ihm bis zuletzt den idealen Lebenspartner, indem sie sich einfach "etwas vormachte".

Wer ist schon bereit, den Realitäten stets ins Auge zu schauen? Ein bisschen Selbstbetrug hilft uns über den Tag – die Wirklichkeit holt uns noch früh genug ein.

Mit dem Selbstbetrug ist es wie mit fast jedem anderen Betrug. Irgendwann fliegt er auf. Die Scheuklappen wirken nicht mehr, unliebsame Tatsachen bombardieren uns von allen Seiten. Je länger wir an dieser Haltung festhalten, desto größer ist dann die Enttäuschung.

Der Zweckpessimismus ist auch eine Form von Selbstbetrug. Man redet sich ein, dass ein erwartetes Ergebnis auf jeden Fall negativ ausfallen wird. In Wahrheit glaubt man nicht wirklich daran und trägt die hohen Erwartungen weiter im Hinterkopf. Es steckt die Furcht vor der Enttäuschung dahinter. Es ist aber kein sicheres Mittel zur "Enttäuschungsprävention". Diese stellt sich dann bei negativem Resultat doch ein, obwohl man "seelisch vorgebeugt" hatte.

 

(Bild: Tumisu / Pixabay)

Wieder die Kurve kriegen!

Wir täuschen uns ein Leben lang. Der Ausspruch "Irren ist menschlich" geht u.a. auf Cicero zurück. Dies ist auch der Titel eines Standardwerks der Psychiatrie, das für Laien gut verständlich geschrieben ist. Niemand ist von Irrtum frei. Wenn wir unsere Täuschungen nicht mit ins Grab nehmen, wird jede einzelne von ihnen zu einer Enttäuschung führen. Dies ist aber keine so erschreckende Aussicht, wie es auf den ersten Blick scheint. Schließlich erleben wir auch positive Überraschungen. Auch hier hatten wir uns getäuscht, alles kam viel besser als erwartet. Hier spricht natürlich niemand von Enttäuschung.

Wie kommen wir jetzt über Enttäuschungen hinweg? Es gibt kein Patentrezept, weder für den Enttäuschten, noch für das beratende Umfeld. Wen es sehr hart getroffen hat, der wird sich eventuell Hilfe im professionellen Bereich suchen.

Die kleine Wortanalyse, die ich diesem Artikel vorangestellt habe, ist nicht sehr zielführend. Dennoch: Einen kleinen Anfang kann sie machen, um unsere Gedanken in neue Bahnen zu lenken: "Okay, ich bin jetzt sehr enttäuscht. Aber ab jetzt kann es weitergehen, ich täusche mich nicht mehr." 

Besinnliches gegen die Enttäuschung

Langzeitwirkung

Wenn wir viele Enttäuschungen erleben, kann dies zu Veränderungen in unserem Wesen führen. Manche werden zu verbitterten Menschen, die am Leben verzweifeln und keinen Schwung mehr aufbringen. Die oben zitierten "Nehmerqualitäten" sinken auf den Nullpunkt, jeder Rückschlag wirft sie um. Andere wiederum entwickeln geradezu ihre Nehmerqualitäten, etwa nach dem Motto "Jetzt erst recht".

Wenn sich die Enttäuschung nach einiger Zeit gelegt und man etwas Abstand zum Erlebten gewonnen hat, kann man die Sache etwas nüchterner betrachten. Es wird uns vielleicht klar, wieso wir überhaupt derart in die Irre gehen konnten. Vielleicht kommen wir einer grundsätzlichen Fehlhaltung auf die Schliche, die wir schon unser Leben lang mit uns herumgeschleppt hatten. Zum Beispiel einer maßgebenden Haltung gegenüber dem anderen Geschlecht, deren Grundzüge schon in der Kindheit gelegt wurden.

Bewältigung durch Sinngebung

Wir kommen jetzt offensichtlich in den Bereich der Tiefenpsychologie, das würde den Rahmen dieses kleinen Artikels sprengen. Da wir aber gerade den therapeutischen Bereich betreten, möchte ich doch kurz die Logotherapie ansprechen.

Die Logotherapie wurde von Viktor Frankl gegründet. Was er erlebt hat, will ich auf keinen Fall mit dem Begriff "Enttäuschung" bagatellisieren. Er hat die härtesten Schicksalsschläge hinnehmen müssen und ist durch bitterstes Leid gegangen. Trotzdem setzt er bei der Logotherapie auf Humor. Sein leitendes Motiv ist die Suche nach dem Sinn.

Zur Zeit des Nationalsozialismus war Frankl im KZ inhaftiert, seine Familie wurde umgebracht. In seinem Buch "…trotzdem Ja zum Leben sagen" (s.unten) beschreibt er seine Erlebnisse im Konzentrationslager. Als Professor hielt er nach dem Krieg viele Vorträge in den USA und in Wien. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

Sein Leidensweg scheint mir beispielhaft dafür zu sein, wie eine Persönlichkeit durch schwere Zeiten reifen kann. Wie aus furchtbaren Erlebnissen geistige Höchstleistungen entstehen können. Und wie sehr wir doch die Enttäuschungen des Alltags überbewerten, wenn man sie mit einem solchen Lebensweg vergleicht.

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